Krieg gegen den KriegJesus, Tolstoj, Bertha von Suttner und Pierre RamusVon Beatrix Müller-KampelNach: Beatrix Müller-Kampel: Bürgerliche und anarchistische Friedenskonzepte um 1900. Bertha von Suttner und Pierre Ramus. In: "Krieg ist der Mord auf Kommando". Mit Dokumenten von Lev Tolstoj, Petr Kropotkin, Stefan Zweig, Romain Rolland, Erich Mühsam, Alfred H. Fried, Olga Misar u.a. Nettersheim: Verlag Graswurzelrevolution 2005. (= Texte zu historischen Friedensbewegungen.) Siehe www.graswurzel.net/verlag/suttner.shtml und www.lebenshaus-alb.de/mt/archives/003026.html An einem frühsommerlichen Tag des Jahres 1907 trifft eine mondän gekleidete Frau gesetzten Alters im niederländischen Den Haag ein. Von ihrem noblen Logis aus wird sie für die nächsten Monate ihren Ruf und Nimbus, weitläufiges Wissen und bestechende Beredsamkeit, nicht zuletzt ihre Gewandtheit auf internationalem Parkett in die Waagschale werfen, um ihrem "Utopia"Bertha von Suttner: Die Waffen nieder! Eine Lebensgeschichte. Hrsg. und mit einem Nachwort von Sigrid und Helmut Bock. Berlin 1990, S. 134., einer Welt ohne Waffen, ohne Krieg und Gewalt näherzukommen. Die geborene Gräfin Kinsky und verwitwete Baronin von Suttner steht zu dem Zeitpunkt im Zenit ihres Ruhms: Seit 1889, dem Jahr der Erstpublikation, ist ihr pazifistischer Roman "Die Waffen nieder!" in schneller Folge in zahlreichen Auflagen und mehreren europäischen Sprachen erschienen. Sie hat 1891 die "Oesterreichische Gesellschaft der Friedensfreunde" und 1892 gemeinsam mit ihrem Sekretär Alfred Hermann Fried, 1911 Friedensnobelpreisträger auch er, die "Deutsche Friedensgesellschaft" begründet; sie hat eine nach ihrem Roman benannte Monatsschrift ins Leben gerufen und den Erfinder des Dynamits Alfred Nobel, ihren ehemaligen Arbeitgeber, von der Einrichtung einer Friedensstiftung zu überzeugen versucht; sie hat an fast allen Weltfriedenskongressen und Interparlamentarischen Konferenzen teilgenommen; zahllose Artikel geschrieben und Vorträge gehalten, neben Österreich und Deutschland u.a. in der Schweiz, in Norwegen, in Schweden und den USA. 1905 ist ihr schließlich, als erster Frau überhaupt, der Nobelpreis (Friedensnobelpreis) zuerkannt worden. BERTHA VON SUTTNER
Zurück in das Jahr 1907, zu Suttners Reise nach Den Haag. Veranlaßt hatte Bertha von Suttners Reise nach Den Haag die vom US-amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt initiierte, von so gut wie allen Staaten der Erde beschickte Zweite Haager Friedenskonferenz. An einem spätsommerlichen Tag desselben Jahres 1907 trifft ein korrekt gekleideter Mann jugendlichen Alters im niederländischen Amsterdam ein. Vermutlich von Wien aus kommend, wo er als politisch Verfolgter unter einem Tarnnamen lebt, wird auch er hier seine Redegabe, ja Redegewalt in den Dienst des Friedens stellen. PIERRE RAMUS
Abermals zurück in das Jahr 1907, in die Niederlande: Wohl ist auch Ramus pazifistischer Propaganda halber hierher gereist, doch ist Endstation nicht Den Haag, wie bei Suttner, sondern Amsterdam, Konferenzort des Internationalen anarchistischen Kongresses vom 24. bis 31. August und des gleichzeitig stattfindenden Internationalen Antimilitaristischen Kongresses. Ob Bertha von Suttner von den nahen Aktivitäten des anarchistischen Antimilitaristen Notiz genommen hat, wird erst die restlose Aufarbeitung ihres Nachlasses in der Bibliothek der UNO in Genf erweisen. Gewiß ist, daß Pierre Ramus von Amsterdam aus den Fortgang der Zweiten Haager Friedenskonferenz mitverfolgte. Sein abschließendes Urteil fällt vernichtend aus: Bloß "Komödie" habe man im Haag gespielt, eine Komödie, bei der die bürgerliche Friedensbewegung "auf das lächerlich impotente Demagogenzeichen gekrönter Tyrannen hin mit fliegenden Fahnen in das Lager der Staaten überging".Pierre Ramus [d.i. Rudolf Großmann]: Der Antimilitarismus als Taktik des Anarchismus. Brüssel 1909. Auch in: P.R.: Erkenntnis und Befreiung. Konturen einer libertären Sozialverfassung. Hrsg. von Gerhard Senft. Wien 2001, S. 41-72, hier S. 54. In der Tat scheint die ideellen und sozialen Universen der damals vierundsechzigjährigen Baronin und des rund vierzig Jahre jüngeren Schriftstellers kaum mehr miteinander zu verbinden als die gleichzeitige Anwesenheit im gleichen Land zu einem allenfalls ähnlichen Zweck. Auch nach 1907 haben sich ihre Lebenswege offenbar nicht mehr gekreuzt. So asymmetrisch ihrer beider Lebensbahnen auch verliefen, so verband den libertären Aktivisten und die bürgerliche Nobelpreisträgerin aus adeligem Hause gleichwohl der unverbrüchliche Glaube an die Möglichkeit und Machbarkeit eines gewaltfreien Lebens in Sicherheit, Gerechtigkeit, Würde, Freiheit und Glück. Daß im Kampf dafür beide der authentischen Stimme eines autobiographischen Ich eine besondere Rolle zuwiesen, wird aus zwei Romanen erkenntlich: Berthas von Suttners "Die Waffen nieder! Eine Lebensgeschichte", die 1889 erschienene fiktive Autobiographie der verwitweten Baronin Martha Tilling, deren Leben durch die vier Kriege von 1859, 1864, 1866 und 1870/71 bestimmt und zerstört worden ist, und Pierre Ramus’ autobiographischer Roman "Friedenskrieger des Hinterlandes. Der Schicksalsroman eines Anarchisten im Weltkriege" von 1924, in dem der Autor Erinnerungen und Gespräche aus seiner Zeit als Häftling und Konfinierter 1914 bis 1918 gesammelt hat. Worin bestehen nun die konzeptionellen Grundlagen und Grundüberzeugungen dieser beiden ‘Friedenskrieger des Hinterlandes”, welche Mittel und Wege schlugen sie vor bzw. schlugen sie ein, um ihrem pazifistischen Utopia näherzukommen? Was Suttner und Ramus sicherlich am tiefsten voneinander trennt, ist ihre Auffassung von Aufgabe und Funktion des Staates in der Verhinderung beziehungsweise Beseitigung von Kriegen. Suttner setzte bei ihrer Überzeugungsarbeit alle Hoffnungen in den Staat, seine Organe und Repräsentanten. Unausgesetzt appellierte sie an Kaiser, Könige, den Zaren, Prinzen, Fürsten, Premiers, Parlamentarier und kirchliche Würdenträger. Für Ramus hingegen ist der Staat per definitionem der "Gewaltherrscher der Unnatur, der alle Verbrechen heilig spricht, wenn sie in seinem Interesse geschehen"Pierre Ramus [d.i. Rudolf Großmann]: Friedenskrieger des Hinterlandes. Der Schicksalsroman eines Anarchisten im Weltkriege. Mannheim 1924, S. 30. - unabhängig davon, ob er autokratisch, monarchisch, oligarchisch, plutokratisch, rätediktatorisch oder parlamentarisch regiert werde. Aus der Geschichte all dieser Staatsformen erhelle die Essenz des Staates als Prinzip. "Eigentlich ist der Staat nichts anderes als Militarismus en miniature. Militarismus ist systematisierte Waffengewalt; der Staat existiert nicht, wenn er nicht nach Außen, wie nach Innen hin eine Gewalt repräsentiert."Ramus, Der Antimilitarismus als Taktik des Anarchismus, S. 46. Als bestechendstes Argument dient Ramus dabei der Erste Weltkrieg: "Ihr sagt, der Staat sei dazu da, um in der Gesellschaft die Ordnung zu bewachen. Ist das die Ordnung, dieser Zustand des wildesten Chaos, den der Staat durch seine Kriegsproklamation verursacht?"Ramus, Friedenskrieger des Hinterlandes, S. 43. In engster Verbindung stünden Militarismus und Krieg mit einer auf Ausbeutung und Entrechtung basierenden Ökonomie, mehr noch: sie gingen aus dieser hervor.Ramus, Der Antimilitarismus als Taktik des Anarchismus, S. 47. Bertha von Suttners Sicht auf die Geschichte ist dem von Ramus so unähnlich nicht, wie es ihrer beider Staatsauffassungen vermuten lassen könnte: "Bisher ist die Geschichte der Menschheit nichts anderes als eine Kette von Greueln und Mordtaten. Vergewaltigung der Vielen durch ein paar Mächtige."Bertha von Suttner: Briefe an einen Toten. (ED 1905.) 6. Aufl. Dresden 1905, S. 22. Indessen setzt sie Ökonomie und Krieg, Staatsprinzip und Krieg in keinerlei kausalen Konnex. Beharrlich hält sie am Vertrauen in die Pazifizierung von Staatsmännern und staatlichen Strukturen fest, und immer wieder ertönt ihr Ruf nach Staatenbund, völkerrechtlichen Vereinbarungen, Schiedsgerichten.Vgl. stellvertretend Suttner, Die Waffen nieder! S. 184 und S. 327 und Bertha von Suttner: Die Barbarisierung der Luft. Berlin und Leipzig [1912], S. 30. Auch in ihrer Rede vor dem Nobel-Comitee anläßlich der Verleihung des Friedenspreises fordert Suttner programmatisch die Einrichtung und bindende Anerkennung folgender Institutionen: "1. Schiedsgerichtsverträge. / 2. Eine Friedensunion zwischen den Staaten. / 3. Eine internationale Institution, kraft deren das Recht zwischen den Völkern ausgeübt werden könnte".Bertha von Suttner: Vortrag vor dem Nobel-Comitee des Storthing zu Christiana am 18. April 1906. In: B.v.S.: Memoiren. (ED 1909.) Hrsg. von Lieselotte von Reinken. Bremen 1965. (=Zeugen ihrer Zeit. Erlebnisse - Berichte - Dokumente.) S. 515-520, hier S. 519. Kurzum: "An Stelle der Gewalt" solle "das Recht" treten - "das heißt: an Stelle der nationalen Selbstjustiz das internationale Schiedsgericht."Bertha von Suttner: Das Maschinenzeitalter. Zukunftsvorlesungen über unsere Zeit. (ED 1889.) 3. Aufl. Dresden und Leipzig 1899, S. 314. Pierre Ramus’ vehemente Zurückweisung von Schiedsgerichtsideen jeder Art gründet auf historische und staatstheoretische Argumente. Die Kriegsgeschichte seit dem Altertum erweise, daß jedes auf Bündnissen und Verträgen basierende Staatsrecht eher eine Präzisierung des Kriegsrechts bedeute, als den Frieden gewährleiste.Vgl. Pierre Ramus [d.i. Rudolf Großmann]: Die historische Entwicklung der Friedensidee und des Antimilitarismus. Gautzsch bei Leipzig 1908. (=Kultur und Fortschritt. Neue Folge der Sammlung "Sozialer Fortschritt". Hefte für Volkswirtschaft, Sozialpolitik, Frauenfrage, Rechtspflege und Kulturinteressen. 153.) S. 6-8. "Wozu werden eigentlich völkerrechtlich bindende Verträge geschlossen, wenn man sie nach Belieben brechen kann und der Wortbrüchige dann noch entschuldigt wird"?Ramus, Friedenskrieger des Hinterlandes, S. 110f. Wenn also Staatsmänner bei der Aushandlung zwischenstaatlicher Verträge das Wort "Abrüstung" im Munde führten, sei dies ebenso lächerlich wie heimtückisch: "Sie wissen ganz gut, daß ihnen dies nur Phrase sein muß, denn eine wirkliche Abrüstung, d.h. Überwindung des militaristischen Prinzips wäre gleichbedeutend mit dem Selbstmord des Staatsprinzips."Ramus, Der Antimilitarismus als Taktik des Anarchismus, S. 46f. SOZIALDEMOKRATIE UND KRIEGStets suchte Bertha von Suttner Bündnispartner im Parteien-, Vereins- und Verbandsspektrum ihrer Zeit. Ihre Sympathie insbesondere für die Sozialdemokraten gründeten auf deren pazifistischer Programmatik, das Eintreten für Klassen- als Menschenrechte sowie vor allem auf dem Internationalismus, der bei entsprechendem Erfolg das Verschwinden aller nationalistischen und konfessionellen Militarismen nach sich ziehen müsse. Nach Ramus hingegen zielten sowohl das Projekt der sozialistischen Revolution als auch der sozialdemokratische Gang in die Parlamente bloß darauf ab, die eine Gruppe oder Klasse an der Spitze der staatlichen Gewalt und deren Apparat auszutauschen. Als Kaderpartei mit Führungsanspruch und Führern entmündige überdies die sozialistische Partei gerade die, für die sie einzutreten vorgebe. Sie festige damit bloß jene Macht- und Gewaltstrukturen, die es aufzuheben, abzuschaffen, zu beseitigen gelte. Daß die sozialdemokratischen Führer und Mandatare im österreichischen Reichsrat, sie stellten seit 1911 mit 82 von 514 Mandataren die größte Fraktion überhaupt, 1914 die Kriegspolitik vollständig unterstützten und ihrerseits in nationalistische Kriegshetze verfielen, ahnte nicht einmal Ramus voraus. Der "Handschlag", notierte er aus der Retrospektive, mit dem die Sozialdemokraten dem Kaiser Kriegsgefolgschaft erwiesen hätten, sei "Ueberzeugungsprostitution" von "gewöhnlichen Gesinnungslumpen" gewesen.Ramus, Friedenskrieger des Hinterlandes, S. 321. Nach und nach schwärzten einzelne Beobachtungen auch Suttners rosiges Bild von einer pazifistischen Sozialdemokratie ein. "Empörend" fand sie bereits 1907 die Rolle der "kanonenverherrlichenden Sozialdemokraten" bei den Beratungen über das Kriegsbudget. "Dies so dumme Motiv, daß man sich durch Kanonen vor Totgeschossenwerden schützt - was immer von oben suggeriert wird - das nehmen diese Leute jetzt auf - unbegreiflich! Wo bleibt denn das ‘Proletarier aller Länder’ etc.?"Bertha von Suttner, Tagebucheintrag vom 25. April 1907, zit. n. Brigitte Hamann: Bertha von Suttner. Ein Leben für den Frieden. 2. Aufl. Zürich, München 1996. (=Serie Piper. 922.) S. 418. ANARCHISMUS UND GEWALTFREIHEITAls "Anarchisten" bezeichnet sich der Autor im Untertitel seines Romans "Friedenskrieger des Hinterlandes",Ramus, Friedenskrieger des Hinterlandes, S. 140. die Anarchie gilt ihm als das, wofür zu werben sei, eine Vielzahl seiner Publikationen führen "Anarchismus" oder "anarchistisch" im Titel. Mit einem "Anarchisten" assoziiert man in Österreich und Deutschland selbst unter Gebildeten nicht selten einen, der die Bombe stets unter dem Bett bereit hält, zum mindesten jedoch einen Terroristen oder Chaoten. "[I]ch bin Anarchist im Sinne der Gewaltlosigkeit", bekennt der Erzähler im Roman.Ebda. Der wohlbekannte Einwand folgt auf dem Fuß: "’Sind Anarchisten keine Mörder? […] Hat nicht ein solcher Anarchist unsere unglückliche Kaiserin ermordet? War das kein Anarchist?’"Ebda, S. 170. Darauf Ramus: "Nein. […] Luccheni war […] ein Verbrecher, aber kein Anarchist, denn Anarchismus ist Gewaltlosigkeit. […] Es sind immer bestimmte unselige Verhältnisse, die Menschen irgendeiner Partei - Monarchisten, Republikaner, Demokraten, Klerikale, Patrioten und Nationalisten, wie Sozialdemokraten, sie alle haben in ihrer Geschichte Attentate - zu der Gräßlichkeit eines Attentats bewogen. Aber während alle die vorgenannten Parteien die Gewalt als legale Staatsbetätigung anerkennen und nur als illegale Anmaßung und Ausübung des Individuums verpönen, verwirft der Anarchismus jedwede Gewalt: sowohl die Staatsgewalt als auch die individuell, persönlich ausgeübte."Ebda, S. 171. Noch griffiger hatte dies der Mathematiker, Philosoph und Pazifist Bertrand Russel 1918 formuliert: "Nach volkstümlicher Ansicht ist ein Anarchist jemand, der Bomben wirft und andere Greuel begeht, weil er extreme politische Ansichten als Vorwand für kriminelle Neigungen benutzt. Diese Auffassung ist natürlich gänzlich unangebracht. Einige Anarchisten haben Bomben geworfen, andere nicht. Menschen fast jeder politischen Einstellung haben unter gewissen Umständen von diesem Mittel Gebrauch gemacht; so waren zum Beispiel die Männer, die die Bombe in Sarajewo warfen, mit der der gegenwärtige Krieg begann, nicht Anarchisten, sondern Nationalisten. Und jene Anarchisten, die für das Bombenwerfen plädieren, unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht wesentlich vom Rest der Gesellschaft - ausgenommen jene kleine Gruppe, die Tolstois Programm der Gewaltlosigkeit vertritt. Gewöhnlich setzen Anarchisten ebenso wie Sozialisten auf den Klassenkampf. Anarchisten benutzen Bomben, wie Regierungen es tun - für kriegerische Zwecke; aber auf jede Bombe, die ein Anarchist fabriziert, kommen viele Millionen von Regierungen hergestellte Bomben, und auf jeden Menschen, der durch anarchistische Gewalt getötet wird, kommen viele Millionen Menschen, die von der Gewalt der Staaten getötet werden. Wir können daher die ganze Frage der Gewalt, die eine so gewichtige Rolle in der volkstümlichen Vorstellung spielt, außer acht lassen, da sie weder wesentlich noch typisch für die Vertreter des anarchistischen Standpunktes ist."Bertrand Russell: Wege zur Freiheit. Sozialismus, Anarchismus, Syndikalismus. (Roads to freedom. Socialism, anarchism and syndicalism. London 1918.) Aus dem Englischen übers. und hrsg. von Reiner Demski.) Frankfurt am Main 1971 (= edition suhrkamp. 447.) S. 41. Besonders aberwitzig und zynisch nehme sich laut Ramus die Gleichsetzung von Anarchismus und Gewalttätigkeit nach Kriegsbeginn 1914 aus: "‚Dann müßten wir doch heute schon den Anarchismus haben, denn mehr Gewalt als gegenwärtig können wir unmöglich bekommen.’"Ramus, Friedenskrieger des Hinterlandes, S. 170. Bertha von Suttner flößte ein Zustand der Anarchie Entsetzen ein, doch galt ihr als ein solcher nicht das Utopia der Anarchisten, sondern die zwischen und in den Nationen herrschenden Verhältnisse.Vgl. Bertha von Suttner: Der Kampf um die Vermeidung des Weltkriegs. Randglossen aus zwei Jahrzehnten zu den Zeitereignissen vor der Katastrophe. (1892-1900 und 1907-1914.) Hrsg. von Alfred H[ermann] Fried. Zürich 1917, Bd I, S. 86. Selbst in der allgemeinen Anarchistenhysterie im Umkreis der Ermordung der österreichischen Kaiserin Elisabeth durch Luigi Lucheni bewahrte die Pazifistin das Vermögen, zwischen Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung - Lucheni wurde unter den Anarchisten nie als einer der ihren anerkannt - sowie zwischen Ursachen und Folgen zu differenzieren. Und ganz allgemein gilt ihr: "Die Verbrecherhaftigkeit der Absicht, Gebäude und unschuldige Menschen in die Luft zu sprengen […], wird sehr lebhaft empfunden, wenn es sich um ein paar vereinzelte Bomben handelt; wenn aber in aller Ruhe […] gesagt wird; diese oder jene Kriegspartei beabsichtigt den Krieg herbeizuführen, [..] wobei hunderttausendmal so viel Bomben losgehen würden, so findet man diesen Fall wohl auch einigermaßen ‚ernst’, aber dessen Verbrecherhaftigkeit fällt nicht auf."Ebda, S. 71. Ihre umfassenden Kenntnisse der Geschichte und der zeitgenössischen politischen Gruppierungen halten die Pazifistin davon ab, "Anarchisten" mit - nach heutigen Etikettierungen - Terroristen und Chaoten mit krimineller Energie gleichzusetzen. "Attentäter" sind ihr schlicht und einfach "Dynamitarden" - mit deren Taten die meisten etablierten Fraktionen und weltanschaulichen Lager ihr ganz spezielles ideologisches Süppchen kochten: Als "anarchistisch" bezeichnete Attentate haben, so Suttner, "stets zur Folge, daß alle Parteien, alle Steckenpferdreiter die Gelegenheit benützen, ihr Parteiheilmittel vom Sattel ihres Steckenpferdes aus mit erneutem Eifer hinauszuschreien. […] Die Klerikalen sehen die Rettung nur in der Rückkehr zur strengreligiösen Erziehung, die Antisemiten beteuern, da hilft nur Vertilgung aller Judenliberalen, die Konservativen sind für die Knebelung der Presse, die Sozialisten beschuldigen den ‚Bourgeois’, die Militärpartei ist für augenblickliche Verstärkung der Armee."Ebda, S. 7f. Wie gewöhnlich bleibt Bertha von Suttner bei dieser Registrierung terminologisch-ideologischer Schurkerei nicht stehen, beläßt es auch nicht dabei, Attentäter als bloß individuelle Kriminelle zu stigmatisieren: Selbstredend gebe es keinerlei Rechtfertigung für die Propaganda der Tat, "d.h. der Bombe", da der Grundsatz zu gelten habe, "daß das Menschenleben heilig ist, daß es keinerlei Zwecke gibt, die das verruchte Mittel des Tötens rechtfertigen."Ebda, S. 123f. Und doch tue mehr not als Ächtung, polizeiliche Verfolgung und gerichtliche Aburteilung: "Das einzig Richtige, was man tun könnte, um den Taten der Verzweiflung zu steuern - nämlich zu trachten, das Elend aufzuheben, indem die gräßliche Last gehoben wird, die die Völker erdrückt: das tut man nicht. Und gegen die Taten des Wahnsinns lassen sich überhaupt keine Gesetze schmieden. ‚Die Gesellschaft will sich vor Gefahren retten’, heißt es, und die fürchterlichste aller Gefahren" (gemeint ist der Krieg ), "an die man sich schon so sehr gewöhnt hat, daß sie fast niemand sieht -, die abzuwenden, tut man nichts, gar nichts. Man will vorbeugen, daß nicht irgend ein Zeitungsartikel, ein im Familienkreise gesprochenes Wort, etwa einen Menschen aufreize, einen Totschlag zu begehen, und den Zustand läßt man ruhig bestehen, wo ein paar Menschen in Europa die Möglichkeit und das Recht haben, mit einem Wink der Hand Millionen Totschläger aufeinander zu werfen."Ebda, S. 143. JESUS UND TOLSTOJEngstens verband die beiden Pazifisten Suttner und Ramus ein Satz: der Satz "Du sollst nicht töten". "Du sollst nicht töten", heißt es in Suttners Nobelpreisrede 1906,Suttner, Vortrag vor dem Nobel-Comitee, S. 515. "Du sollst nicht töten" in "Die Waffen nieder!"Suttner, Die Waffen nieder! S. 95. "Kein Mund", schreibt Ramus 1914 in sein Tagebuch, "verkündet das heilige Gebot: ‚Du sollst nicht töten!’"Ramus, Friedenskrieger des Hinterlandes, S. 258. Das Christentum, genauer: die Christlichkeit, wie sie Tolstoj, der Autor von "Krieg und Frieden" und "Anna Karenina" vertrat, wird man als Angelpunkt - aber auch Scheidelinie - in Suttners und Ramus’ Friedenskonzepten betrachten dürfen. Von 1888 an beschäftigte sich das Ehepaar Suttner intensiv mit dem Werk Tolstojs,Vgl. Hamann, Bertha von Suttner, S. 65. und mit dem von ihr hochverehrten "Weisen von Jasnaja Poljana"Suttner, Memoiren, S. 491. stand Bertha von Suttner seit 1891 in loser Korrespondenz. "Madame", schrieb Tolstoj ihr, "[i]ch schätze Ihr Werk" - "Die Waffen nieder!" - "sehr hoch, und ich glaube, daß die Veröffentlichung Ihres Romans ein glückliches Vorzeichen ist. / Die Abschaffung der Sklaverei wurde durch das berühmte Buch einer Frau, Mme. Beecher-Stowe,Der noch im Jahr seiner Ersterscheinung ins Deutsche übersetzte Roman "Uncle Tom’s Cabin, or, Life among the Lowly" (1851/52, dt. 1852) von Harriet Beecher Stowe (1811-1896) wurde zu einem der politisch wirksamsten Bücher der US-amerikanischen Literatur. vorbereitet. Gebe Gott, daß die Abschaffung des Krieges durch das Ihre bewirkt wird!"Suttner, Memoiren, S. 170. Literarisch konnte ihn der Roman freilich nicht überzeugen, notierte er doch in sein Tagebuch: "Abends ‚Die Waffen nieder’ gelesen, bis zu Ende. Gut formuliert. Man spürt die tiefe Überzeugung, aber unbegabt." Zit. n. Hamann, Bertha von Suttner, S. 140. Übereinstimmen konnte Bertha von Suttner mit Tolstojs Abscheu vor Dogmen jeder Art, mit seinem Kampf gegen Nationalismus, Patriotismus, Antisemitismus und Klerikalismus, doch ging ihr die Radikalität der Mittel, mit denen eine Gesellschaft ohne Krieg und Staat zu schaffen sei, gegen den Strich. Zur Erinnerung: In den gegenwärtigen Staaten führten nach Tolstoj alle Menschen ein sklavenartiges Dasein im Dienste der Besitzerhaltung und Besitzsteigerung einiger weniger. Gleichgültig welcher Monarch, welcher Diktator, welche Partei an die Macht kämen, notwendig müßten sie, um ihre Macht zu erhalten, nicht nur alle vorhandenen Gewaltmittel anwenden, sondern noch neue hinzuerfinden.Vgl. zur Einführung Stefan Zweig: Drei Dichter ihres Lebens. Casanova. Stendhal. Tolstoi. (ED 1928.) Frankfurt a.M. 1981. (=Stefan Zweig: Gesammelte Werke in Einzelbänden.) S. 257-275. Die christlichen Konfessionen hätten ihr ursprüngliches Ziel, die Menschen aus der Knechtung durch staatliche und ökonomische Tyrannei zu befreien, nicht nur aus den Augen verloren, sondern planmäßig zu eigenem Besitz- und Machterhalt verraten. Deshalb segneten sie Waffen, bemäntelten Unrecht mit Formeln, erstarrten in Konventionen und Riten. Die Künstler schliefen in ihrem Elfenbeinturm den Schlaf der Ungerechten, der Sozialismus doktere am Unheilbaren herum und die Revolutionäre bedienten sich derselben Gewalt wie ihre Feinde - was das Unrecht fortschreibe und verewige. Mit demokratischen, philantropischen oder revolutionären Verbesserungen von Regierungsformen komme man nach Tolstoj all dem nicht bei. Nicht der Staat, sondern der Mensch selber müsse geändert werden. In den Worten von Stefan Zweig, der dem Bewunderten in "Drei Dichter ihres Lebens" ein Denkmal gesetzt hat: Tolstoj, "dieser Genialste aller Diagnostiker […] unserer Zivilisationskonstruktion" habe als "Radikalrevolutionär" der Herrschaft des Zaren, der Kirche und aller gebilligten Staatsgemeinschaft offene Fehde angesagt. "Seine Staatslehre ist die erbittertste Antistaatslehre"Ebda, S. 261. "SCHWÖRT ÜBERHAUPT NICHT"Herzstücke dieser Antistaatslehre sind der allgemeine Friede und die Friedlichkeit des einzelnen. Hierin ging Tolstoj über die gängigen Pazifismus-Konzepte weit hinaus, verwarf er doch jede Hoffnung auf Vereinbarungen und Verträge zwischen Potentaten, Parlamenten und Parteien. "Ich glaube nicht", bekannte er in einem Brief an Bertha von Suttner, "daß ein Schiedsgericht ein wirksames Mittel ist, um den Krieg abzuschaffen."Zit. n. Suttner, Memoiren, S. 171. Geradezu verstiegen hielt Tolstoj das etatistische Konzept von Tribunalen. "Ein Friedensgericht wird nur die Gefahr für den Friedlichen erhöhen, denn einen Napoleon oder Bismarck wird es immer geben, immer auch Patrioten, die ihnen willig Heerfolge leisten. Nein, der Krieg gegen den Krieg muß anders geführt werden".Friedrich Schütz: Ein Tag bei Leon Tolstoi. In: Neue Freie Presse (Wien) Nr. 11408 vom 28. Mai 1896 (Morgenblatt), S. 1f., und Nr. 11409 vom 29. Mai (Morgenblatt), S. 1-3. Friede könne nur über die Friedfertigkeit des einzelnen errungen werden, und diese wiederum nur durch eine unbedingte und uneingeschränkte Befolgung des Tötungsverbotes. In der Praxis bedeute dies die Weigerung, sich unter staatlicher Anleitung im Morden schulen zu lassen, mithin die Pflicht zur Wehrdienstverweigerung, und in letzter Konsequenz selbst das Verbot der Tötung in Notwehr. Als Berufungsinstanz gilt Tolstoj die Bergpredigt mit den Maximen: "Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: ‚Du sollst nicht töten’; wer aber jemand tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein […] Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: ‚Du sollst keinen Meineid schwören’, und: Du sollst halten, was du dem Herrn geschworen hast. Ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht […] Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: ‚Auge für Auge’ und ‚Zahn für Zahn’. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin. Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann laß ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm. Wer dich bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, den weise nicht ab. Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben’ und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen". (Mt 5,21-44) Ramus ruft Jesus in seinem Roman als Zeugen für seine antimilitaristische Haltung auf, und auf die Frage, welcher Konfession er angehöre, antwortet der Ich-Erzähler: "Konfessionslos und Christ."Ramus, Friedenskrieger des Hinterlandes, S. 64. Christ zu sein bilde nämlich einen Gegensatz zu den jüdisch-christlichen Konfessionen,Vgl. ebda, S. 64f. in denen eine Kaste von Klerikern die Menschen in die Fesseln konfessionellen Wahns schlage und das Ideal der Brüderlichkeit, selbst das Tötungsverbot zu hohlen Phrasen verkommen seien. In Kriegszeiten Christ zu bleiben, bedeute nichts anderes als die Pflicht zur Wehrdienstverweigerung. Eine Pflicht zur Verweigerung von Fahneneid und Wehrdienst will Suttner aus der Bergpredigt Jesu nicht ablesen, jedoch einen Appell zur "Güte", die anstelle der Vergottung von Stärke, Härte, Kalkül und Kälte "zum Motor des ganzen Gesellschaftslebens werden" müsse.Suttner, Briefe an einen Toten, S. 40. KRIEG IST DER MORD AUF KOMMANDO"Bertha von Suttner und Pierre Ramus schauen in ihren Romanen der Fratze des Krieges mitten ins Gesicht. Rauchende Dorftrümmer werden geschildert, zertretene Saaten, herumliegende Waffen und Tornister, durch Granaten aufgewirbelte Erde, Blutlachen, vor Angst toll gewordenes Vieh, Pferdeleichen, Massengräber, auf das greulichste zerrissene und zerfetzte Leiber, ein Soldat, dem eine Granate den Unterleib aufgeschlitzt und alle Eingeweide herausgerissen hat. Aus dem Gesicht des Krieges schließen Suttner wie Ramus auf dessen Essenz: Krieg "entmenscht, vertigert, verteufelt" den MenschenSuttner, Die Waffen nieder! S. 216. und kehrt alle Konventionen und Gesetze um: "Totschlag gilt nicht mehr als Totschlag; Raub ist nicht Raub - sondern Requisition; brennende Dörfer stellen keine Brandunglücke, sondern ‚genommene Positionen’ vor."Ebda, S. 95. Mithin ist Krieg nach Suttner nichts anderes als "Gewalt, Raub, Glaubensaufzwingung, Totschlagpolitik",Suttner, Der Kampf um die Vermeidung des Weltkriegs, Bd I, S. 628. "Mordarbeit"Suttner, Die Waffen nieder! S. 137. und "Blutarbeit",Ebda, S. 146. Kriegshelden bloße "Titanen des Völkermordes".Ebda, S. 306. In den Worten von Ramus: "Krieg ist der Mord auf Kommando."Ramus, Der Antimilitarismus als Taktik des Anarchismus, S. 51. Am Beginn jeden Krieges hört man Politiker von nationaler Würde und Offiziere von patriotischer Pflicht reden, sieht man Soldaten frohgemut ausrücken und verzückte Frauen Fahnen schwenken; Kinder erklären öffentlich, nun sei es an der Zeit, den Vater dem Vaterland zu schenken. Getragen und gesteigert wird dieser Einzel- und Massenwahn, Suttner führt dies minutiös aus, durch eine ganz bestimmte Phraseologie. Sie beginnt bereits mit dem scheinbar korrekten Befund: Der Krieg ist "ausgebrochen".Suttner, Die Waffen nieder! S. 20. "Man vergißt, daß es zwei Haufen Menschen sind, die miteinander raufen gehen".Ebda, S. 24. Ab dann sei in der Öffentlichkeit fast nur mehr von "Strategie" und "Chancen" die Rede.Ebda, S. 16. Die "Phrase, die durch tausendfältige Wiederholung sanktionierte Phrase", der Soldat sterbe "gerne für das Vaterland", klingt ihr "wie gesprochener Totschlag".Ebda, S. 209. Die allgegenwärtige Rhetorik des Euphemismus hat selbst die Begriffe "Schlacht" und "Schlachtfeld" ihres Sinns beraubt: "‚Schlacht’" geht es Bertha von Suttner durch den Sinn. "Ja geschlachtet würden sie auf dem Felde daliegen".Ebda, S. 21. Rationalisiert und sublimiert wird der kriegerische Einzel- und Massenwahn durch Begründungssysteme mehrerlei Art. Bei der Auflistung der zum Teil auch heute üblichen Glaubenssätze für den Krieg treten Suttner und Ramus geradezu in einen Dialog. Aus beider Dekalog der Kriegspropaganda seien zwei Glaubenssätze herausgegriffen:
SÄBEL UND WEIHWEDELAm unsinnigsten erscheint sowohl Suttner als auch Ramus die Berufung auf den christlichen Gott. Die Behauptung von Klerikern, der Krieg sei "von Gott selbst inventieret und den Menschen gelehrt worden",Ebda, S. 318. sei durch das Gebot "Du sollst nicht töten" zwingend aufgehoben. Vor dem Hintergrund des christlichen Monotheismus versteht Suttner "die Gebete zweier sich gegenüberliegender Armeen nicht, wo jede vom barmherzigen Himmel die Vernichtung des anderen erfleht."Bertha von Suttner: Inventarium einer Seele. Leipzig [um 1883], S. 366. Ramus führt das Argument weiter aus: "Deutsche Pfaffen beten zum protestantischen, österreichische und ungarische zum katholischen, Juden zum jüdischen, die Engländer zum protestantischen, die Franzosen zu beiden und die Balkanpfaffen zum griechisch-orthodoxen Gott; und wenn jetzt auch noch die Türken dazukommen, werden sie zu ihrem Allmächtigen, zu ihrem Allah-Gott beten, dieser möge ihren, just ihren Waffen den Sieg verleihen. […] Sonderbarerweise steht Gott im Kriege nie auf Seiten der Schwachen, sondern immer auf Seite der Starken und Stärksten und deshalb Raubtierähnlichsten."Ramus, Friedenskrieger des Hinterlandes, S. 78f. Trotz dieses klar vor Augen liegenden Widerspruchs zwischen christlicher Ethik und konfessioneller Praxis sei es nach Suttner den "Kriegsbarden und Feldgeistlichen" gelungen, das Kriegsleid "wegzusingen und wegzulügen"Suttner, Die Waffen nieder! S. 322. - wohl auch deshalb, weil Militarismus und Konfession auf eine Jahrhunderte lange Allianz zurückblicken können: Suttner: "Die Verbindung von ‚Säbel und Weihwedel’ ist so alt wie diese beiden Symbole, in was immer für Formen sie jeweilig getaucht wurden und werden."Suttner, Memoiren, S. 119. Zur zweiten Begründung: Um sich vor einem Krieg schützen zu können, müsse man aufrüsten. Die ‚Pflicht’ und der ‚Wille zur Selbstverteidigung’ mußten auch um 1900 dafür herhalten, Rüstung, Aufrüstung und Wettrüstung zu legitimieren. Angesichts der bornierten Unvernunft des Arguments weiß Suttner darauf nur mit einem satirischen "Wechselgesang" zu antworten:
Von der Infantilität einer solch gockelhaften Kraftmeierei einmal abgesehen, habe man es nach Suttner beim Wettrüsten auch mit sozioökonomischem Unsinn zu tun: "das Unvernünftigste von allem: neun Zehntel aller Hilfsquellen darauf zu verwenden, einander besser totschlagen zu können".6060 Bertha von Suttner: Martha’s Kinder. Roman. Eine neue Folge von: Die Waffen nieder! Berlin 1918, S. 178. Das "Böse" scheint um 1900 und auch im Ersten Weltkrieg noch nicht modern gewesen zu sein zur Begründung und Rechtfertigung von Krieg. Weitblickend schreibt Suttner den Kriegshetzern und Kriegsherren des dritten Jahrtausends ins Stammbuch: "Schlechte Eigenschaften, als da sind: Eroberungsgier, Rauflust, Haß, Grausamkeit, Tücke - werden wohl auch als vorhanden und als im Kriege sich offenbarend zugegeben, aber allemal nur beim ‚Feind’. Dem seine Schlechtigkeit liegt am Tage. Ganz abgesehen von der politischen Unvermeidlichkeit des eben unternommenen Feldzuges sowie abgesehen von den daraus unzweifelhaft erwachsenden patriotischen Vorteilen ist die Besiegung des Gegners ein moralisches Werk, eine vom Genius der Kultur ausgeführte Züchtigung."Suttner, Die Waffen nieder! S. 25. NATIONALISMUS UND ANTISEMITISMUSDen übergeordneten Fluchtpunkt von Suttners Denken bildete die generelle Entlarvung und Zergliederung von Klischees: zuallererst des Feind-Klischees, mit denen die Kriegsherren aller Zeiten und Länder das Volk aufhetzen. Stets werden die, die man sich zu Gegnern oder Unterworfenen auserkoren hat, erst typisiert, dann anonymisiert, auf die Stufe des Minderwertigen verwiesen und zugleich zum angstauslösenden Schreckbild stilisiert. In besonderer Weise gilt dies auch für das Feindbild der Antisemiten, an dem Suttner ganz besonders ekelerregend findet, daß es nicht von konfessionellen Fanatikern, sondern von "Gelehrttuenden" propagiert werde: "[…] mit den blinden Fanatikern des Mittelalters wollten sie" - die Antisemiten des 19. Jahrhunderts - "nichts gemein haben; sie wollten ihrem Standpunkt den Schein einer gewissen Aufgeklärtheit und Wissenschaftlichkeit geben und hatten folgendes Cliché gefunden: Nicht die Religion, sondern der Rasse gelten unsere Angriffe. Für die Gelehrtthuenden unter ihnen wurde dieser Satz mit endlosen ethnographischen Floskeln umrankt, wo es von Ariern, Turanern und Indogermanen wimmelte; für den Gebrauch der schlichteren Klassen wurde er in den hübschen, volkstümlichen Vers gebracht: Was der Jude glaubt, ist einerlei, / In der Rasse liegt die Schweinerei. Daß der Rassenhaß ebenso verwerflich ist wie der religiöse, das sahen die Semitenfeinde nicht ein. Ja, der naive Abscheu eines fanatisch gläubigen Christen […] war, wenngleich ungebildeter, so doch natürlicher, von seinem Standpunkt aus berechtigter und in seinen Motiven und Zielen aufrichtiger, als der mit einem Apparat von archäologischen und national-ökonomischen Betrachtungen umgebene politische Antisemitismus, welcher diesen Apparat nur gebrauchte, um seine uneingestehbaren Motive und Ziele zu verbergen." ERZIEHUNG UND SOLIDARITÄT"Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin." Die aus den 1980ern erinnerliche Losung schwebte sinngemäß schon Ramus als Antwort auf Kriegsproklamationen jeder Art vor. Jedem einzelnen Betroffenen biete die Verweigerung des Fahneneids eine konkrete Handhabe, für den Frieden einzustehen. Dieser individuelle Protest gegen den Krieg hätte kollektiv ergänzt zu werden durch Generalstreik, Soldatenstreik und organisierten passiven Widerstand. Um der Logik der Gewalt von vornherein den Boden zu entziehen und damit Kriegsgebrüll und Kriegsgemetzel gar nicht erst aufkommen zu lassen, tue neben pazifistisch-antimiliaristischer Propaganda vor allem eines not: eine Erziehung zum Frieden. Mehr als in allem anderen stimmen Suttner und Ramus darin überein: Erziehung und Bildung schmieden den Schlüssel zum Frieden der Welt. Für beide liegen die ideologischen Bindeglieder zwischen Krieg, Kriegsbefürwortung, Kriegswille und Kriegsbegeisterung klar auf der Hand: Patriotismus, Nationalismus, Militarismus und Klerikalismus bilden den Kot, auf dem die Barbarei von Kriegen erst richtig gedeihen kann. Mittelbare Maßnahmen dagegen seien vor allem individuelle Erziehung und Überzeugung.Vgl. Müller, Hommage à Pierre Ramus, S. 14f. Dafür wiederum seien laut Suttner erst die Fundamente zu legen, zuvorderst: das Bewußtsein der Solidarität: "Das ist ein Bewußtsein, das noch kräftiger wirkt als das Gebot: ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.’ Denn bei richtiger Solidarität ist der Nächste von vornherein mit [dem] Selbst identisch."Suttner, Memoiren, S. 126. Als Hauptschuldige am Mangel dieses Solidaritäts- als eines Friedensbewußtseins machen Ramus wie Suttner die Institution Schule aus. Die größten Irrlehren verbreite in diesen Anstalten der Geistes- und Gefühlsknechtung der Geschichtsunterricht mit seinem akademischen Steigbügelhalter, der universitären Historiographie - er bilde mit seiner Heldenverehrung nach Suttner die "Hauptquelle der [jugendlichen] Kriegsbewunderung."Suttner, Die Waffen nieder! S. 7. Habitus und Selbstverständnis elterlicher Erziehung wie schulischer Pädagogik haben sich seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in vielem verändert. Unbeschadet davon blieb die Gloriole, die den Kampf Mann gegen Mann, die Gewalt in der Durchsetzung von Wünschen und den Krieg als probates Mittel der Politik umgibt. Angelpunkte der pazifistischen Pädagogik von Suttner sind das Individuum und die Moral. Auf theoretischer Ebene scheinen die ethischen Axiome der bürgerlichen und anarchistischen Friedenskonzeptionen um 1900 längst widerlegt. Bereits die Subjekttheorien um 1900 und vollends die postmodernen Anthropologien haben das Individuum, wie Suttner und Ramus es verstanden, korrodiert, zuletzt destruiert und damit von persönlicher Verantwortlichkeit entbunden. Und überhaupt die "Moral": Weiß man nicht aus der Geschichte und der eigenen Erfahrung ganz genau, daß sie seit je nur mißbraucht wurde, um Unterwerfung zu erzielen und zu festigen? Auch in der Psychoanalyse und ihren Derivaten, diesen neuen Religionen mit wissenschaftlichem Anspruch, taugt die Moral als Therapeuticum nicht eben viel, dient sie doch kaum einmal dem obersten Fetisch, der Stabilisierung des Ich. ABGEWICKELT UND LÄCHERLICH GEMACHTMit der systematischen Abwicklung ihrer Programme hat man auch Ramus und Suttner ins Abseits gestellt. Im kollektiven Gedächtnis Österreichs hat Pierre Ramus keinerlei Platz gefunden, zählt somit zu den nach Pierre Bourdieu ‘vergessen Gemachten’, zu den historiographisch Exkommunizierten und strafweise Totgeschwiegenen.Vgl. Pierre Bourdieu: Das literarische Feld. In: Streifzüge durch das literarische Feld. Texte von Pierre Bourdieu [u.a.]. Konstanz 1997. (=édition discours. Klassische und zeitgenössische Texte der französischsprachigen Humanwissenschaften. 4.) S. 33-147, hier S. 56. Nachgerade albern erschien die "Friedens-Bertha" vielen Zeitgenossen. Stefan Zweig zeichnet den Verlauf dieser Ridikülisierung nach: "Als sie das erste Mal dieses Wort: ‘Die Waffen nieder!’ in die Welt schrie, liefen ihr die Leute zu und horchten auf. Aber als sie immer wieder nur dasselbe sagte: ‚Die Waffen nieder! ‘Die Waffen nieder!’, begann sich die Neugier zu langweilen. Man nahm diese leidenschaftliche Monotonie des Gedankens für Armut, seine Sinnfälligkeit für Banalität. […] Allmählich war sie etwas ganz Lächerliches geworden, die Friedens-Berta [!] der Witzblätter, und man nannte sie eine gute Frau mit jener mitleidigen Betonung, durch die man Güte der Dummheit nachbarlich macht."Stefan Zweig Berta [!] von Suttner. Eine Ansprache, inmitten des Weltkriegs 1917 anläßlich der Eröffnung des internationalen Frauenkongresses für Völkerverständigung in Bern. In: St.Z.: Begegnungen mit Menschen, Büchern, Städten. Berlin und Frankfurt a.M. 1955, S. 187-194, hier S. 189f. In entgegengesetzter Weise gilt dies für das kollektive Gedächtnis Österreichs, in dem Bertha von Suttner sich als Friedensnobelpreisträgerin trefflich für staatliche Ikonisierung taugt. Dabei ist sie als historische Erinnerungsfigur zwar nicht auf den Hund, sondern, schlimmer noch, auf die Tausend-Schilling-Note und zuletzt auf die Zwei-Euro-Münze gekommen - ein Zynismus der besonderen Art, ruft man sich Suttners radikale Absage an monetäres Kalkül als globales politisches Prinzip in Erinnerung. Ihr scharfer Blick ließ sie nämlich Armut und Elend nicht nur wahrnehmen, sondern auch deren Ursachen durchforschen: "Das Elend neben fabelhaftem Reichtum ist eine Schande für die Zivilisation."Suttner, Briefe an einen Toten, S. 179. Was sie in ihren "Briefen an einen Toten", den 1902 verstorbenen Arthur Gundaccar von Suttner konstatiert, erschreckt geradezu durch seine Aktualität: "Während wir von dem Verhängnis der Monarchien und der Einsetzung der Republiken reden, bauen wir in der idealen Republik Amerika eine Geldmonarchie auf, die absoluter ist als die Macht des Zaren."Ebda, S. 180. Laut und unermüdlich wider den Krieg aufzutreten, ihn unverblümt als Verbrechen und Mord zu bezeichnen, "Du sollst nicht töten" nicht als beschauliche Sonntagsformel, sondern als konkretes Programm aufzufassen, gar eine Welt ohne Herrschaft und Staat zu fordern: all dies scheint nicht zu dem zu passen, was sich als ‘Zeitgeist’ gibt. Viel eher gehorcht ihm da schon eine generelle Politikverweigerung mit dem Argument, die Beschäftigung mit Problemen der Gesellschaft oder Gemeinschaft sei generell als frucht- und nutzlos zu verwerfen. Suttner repliziert darauf vorausschauend mit der rhetorischen Frage: "Soll denn wirklich das Politisieren, also die Beschäftigung mit dem wichtigsten, das es im öffentlichen Leben gibt, den Schmocks der Redaktionsstuben und den Philistern der Bierbank überlassen werden?"Ebda, S. 200. Für den Schriftsteller, den Wissenschaftler, den Intellektuellen bedeute dies: "Arbeiten, arbeiten am Wohle der Menschheit […]. Das heißt also - wenn das Werkzeug die Feder ist - sich hinsetzen, alle Gedanken auf die Probleme konzentrieren, zu deren Lösung man sein Geistesscherflein beitragen will, und schreiben, schreiben. Aufsätze, Dichtungen, Romane…"Ebda, S. 1f. FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
|