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Vollendung ohne Ende

Globale Soziale Rechte: Inwieweit kann Globalisierungskritik den Rückzug in die nationalstaatliche Trutzburg vermeiden?


Von Michael Jäger

Bei Attac wird ein neues Projekt diskutiert: der Kampf um “Globale Soziale Rechte”. Das klingt sehr allgemein und wenig radikal, man kann es sich kaum als “zündende” Losung vorstellen. Aber der Schein trügt. Die Debatte reagiert auf ein strategisches Dilemma, dessen sich die Bewegung schon vor Jahren bewusst wurde. Sie ist globalisierungskritisch, das soll aber nicht den Rückzug in eine nationalstaatliche Trutzburg bedeuten; man kämpft vielmehr für eine andere Globalisierung. Was hat man dann denen zu sagen, die gegen den Abbau des Sozialstaats kämpfen?

Natürlich unterstützt man den Kampf. Der Abbau wird ja von denen, die ihn betreiben, mit den Sachzwängen der Globalisierung gerechtfertigt. Aber der Sozialstaat ist eben der Nationalstaat, zu dessen Verteidigung Attac nicht aufrufen will - schon weil es illusionär wäre, und mehr noch, weil Nationalismus nicht weiterhilft. In Verbandskategorien gedacht, ist nicht zuletzt ein Bündnis mit den deutschen Gewerkschaften angesagt. Ein solches wurde tatsächlich angestrebt. Die Unterstützung der WASG, die von Gewerkschaftern gegen Hartz IV gegründet wurde, fand Ausdruck in der Wahl der Attac-Aktivistin Sabine Lösing in den Bundesvorstand dieser Partei. Aber es blieb ein konzeptioneller Bogen zu spannen. Um beim eigenen internationalistischen Ausgangspunkt zu bleiben, konnte Attac nicht vergessen, dass es weltweit Menschen gibt, denen Schlimmeres unter der Globalisierung zustößt als deutschen Arbeitern - etwa den Flüchtlingen aller Art, darunter die Arbeitsemigranten.

Der Bogen, der jetzt gespannt wird, heißt “Globale Soziale Rechte”. Einen “Globalen Sozialstaat” gibt es nicht und wird es nicht geben. Aber der Sozialstaat ist selbst nichts anderes als ein Bündel von Rechten und Pflichten, gegossen in Gesetzesform. Von Globalen Sozialen Rechten sprechen, heißt eine analoge Bündelung für Interessen anstreben, in denen In- und Ausländer ihren gemeinsamen Nenner sehen sollen. Internationale Verträge würden hierbei die Rolle übernehmen, die inländisch dem Gesetz zukommt. Die Perspektive der Rechtsglobalisten - um sie einmal so zu nennen - ist radikal genug. Ausgehend vom Programm Michael Hardts und Toni Negris, der Empire-Theoretiker, stellen sie sich auf die Seite der internationalen Migrationsströme, fordern Grenzöffnung und Gastrecht. Die Losung von Hardt/Negri war aber dreifach: Weltbürgerschaft, soziale Rechte und Recht auf Wiederaneignung der Produktionsmittel. Man sieht schon, dieser Vorschlag ist nicht “reformistisch statt revolutionär”. Vielmehr wäre jemand, der den Reformismus-Verdacht hegt, zu fragen: Warum sollen Menschen, die revolutionär die Eigentumsfrage stellen, nicht auch für die Weltbürgerschaft kämpfen? Die Rechtsglobalisten werfen aber sogar die Frage auf, ob der eine Kampf ohne den andern überhaupt geführt werden kann.

So fragt auch ein französischer Marxist, auf dessen Überlegungen sie zurückgreifen. Etienne Balibar zeigte 2001 in einem Vortrag, dass Weltbürgerschaft und soziale Rechte in ein- und derselben politisch-rechtlichen Figur gedacht werden können, ja müssen. Die Nation als Quell der Staatsbürgerschaft ist nämlich geradezu durch Sozialpolitik (re)produziert worden. Umgekehrt wäre die soziale Regulierung der Klassenkämpfe nicht möglich gewesen ohne den Bezug auf die Nation als “Form der privilegierten Gemeinschaft”. Staatsbürgerschaft wurde an Nationalität gebunden mit der Folge, dass ihr soziale Rechte eingeschrieben sind. Heute wird diese soziale Staatsbürgerschaft in Frage gestellt. Balibar plädiert für ihre Verteidigung unter der Bedingung ihrer Ausdehnung. Es muss ein neues Konzept der Staatsbürgerschaft erfunden werden, dabei sind die grundlegenden Widersprüche des national-sozialen Staates zu überwinden: Die Staatsgrenzen sollen “demokratisiert” werden, indem Aus- und Einwanderungsländer die Migrationsströme gemeinsam verwalten, die Migranten werden dann als Individuen mit dem Recht des Andersseins wahrgenommen, so dass sie soziologischen Vorurteilen nicht ausgesetzt sind. Eine Verringerung des globalen Wohlstandsgefälles wäre die Voraussetzung solcher Schritte. Durch Balibars Überlegungen wird aus der “Weltbürgerschaft” eine innenpolitisch einklagbare Forderung, über die man konkret (und öffentlich) mit den deutschen Gewerkschaften diskutieren kann.

Dass “Kommunismus und Staatsbürgerschaft” in seinen Augen ein Paar bilden - emanzipatorische Politik, sagt er, müsse sich “immer auf das Verhältnis von Kommunismus und Staatsbürgerschaft beziehen” -, wird nicht jedem gefallen. Bekommt dadurch nicht beispielsweise die Ausbürgerung Wolf Biermanns eine sehr grundsätzliche Bedeutung? Aber es gibt ein gegenwärtiges Problem, hinzutretend zur Frage der Weltbürgerschaft, ihr im Übrigen verwandt, dessen Grundsätzlichkeit außer Frage stehen dürfte: die Rolle der “Menschenrechte” im Kontext der so genannten “humanitären Intervention”. Hier weisen die Rechtsglobalisten auf ein Dilemma hin, das sie auflösen wollen: Der Menschenrechtsdiskurs, der an der Schwelle zur bürgerlichen Demokratie mit utopischem Überschuss entstand - alle Menschen “sind” frei und gleich geboren, das heißt sie sollen es werden (und logischerweise müsste dann die Klassengesellschaft fallen) -, dieser Diskurs ist heute bei der einen Sorte von (ehemaligen) Linken zum “nachutopischen Pragmatismus” verkommen. Diese Linken sehen keinen naturrechtlichen Grund mehr und daher überhaupt keinen Grund, weshalb das Recht nicht positivistisch zum Interventionsrecht umgebogen werden sollte. Eine andere Sorte bleibt derweil bei der alten Reduktion von Recht zunächst auf Macht und dann beider auf ökonomische Determination stehen. Was können die letztgenannten Linken den erstgenannten eigentlich vorwerfen? Man fragt sich fast, warum sie nicht deren größeren Machtsinn bewundern.

In einer interessanten Erörterung der Kritik, die Jacques Derrida an Walter Benjamins Rechtsbegriff geübt hat, führt der Philosoph Thomas Seibert, Attac-Aktivist und medico international-Mitarbeiter, das Dilemma auf den “Utopismus einer vollendet gerechten Gesellschaft” zurück. An ihm gemessen, erscheint nämlich nachgerade jedes konkrete Recht als rechtsunfähig, so dass man eben aufhört, es überhaupt noch ernst zu nehmen. Aber da stellt sich, auch für noch so materialistische Denker, die Frage, was - in diesem Zusammenhang und überhaupt - die Hoffnung auf “Vollendetes” eigentlich bedeuten soll. Wer materialistisch denkt, kann Vollendung ja nicht platonistisch buchstabieren: Dann wäre sie als Ideal der Geschichtlichkeit enthoben, und ihr stünde die selbstverständliche Unvollkommenheit alles Zeitlichen und Räumlichen gegenüber. Die Zeit selber jedoch als Vollendung gedacht, was will man in ihr finden, wenn nicht einen optimalen Prozess der Rechtsentwicklung? Die Zeit und mit ihr die Rechtsentwicklung kann und soll kein Ende haben. Das widerspricht “vollendeter Gerechtigkeit” nicht, sondern diese hat in dem stets vorhandenen Gerechtigkeitsverlangen, das mit keiner Rechtslage zufrieden ist, sondern sie je um einen Schritt verändern will und auch kann, seine einzige Existenz.

Die Orientierung auf den nächsten Schritt ist entscheidend. Sie ist nicht “reformistisch”, sondern lässt jede realistische Radikalität zu. Sie verpflichtet aber die Radikalen zur Rechtfertigung: nicht bloß vor einer abstrakten unerreichbaren Gerechtigkeit, sondern vor dem jeweils vorhandenen Recht. Auch noch, wenn es um dessen Veränderung geht. Die Antwort auf die Frage, wie dem Menschenrechts-Interventionismus zu begegnen ist, lautet also: offensiv mit einem eigenen Rechtsstandpunkt, der sich keineswegs im Hinweis auf die UN-Charta erschöpfen muss. - Wer an der Radikalität dieser Antwort zweifelt, sei auf Friedrich Engels verwiesen. Der hielt es für keine Nebensache, dass “die unvermeidliche soziale Revolution” in den entwickelten Ländern des Kapitalismus mit “gesetzlichen Mitteln” durchgeführt werden kann.

Vgl. Texte auf www.bewegungsdiskurs.de .

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   22 vom 01.06.2007. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Michael Jäger und des Verlags.

Veröffentlicht am

03. Juni 2007

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