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KSE-Abkommen steht auf dem Spiel

Sonderkonferenz zum Vertrag über konventionelle Rüstungen in Wien begonnen


Wolfgang Kötter

Am 12. Juni hat in Wien eine von Russland geforderte Sonderkonferenz zum Vertrag über die Begrenzung der Konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) begonnen. Sie reiht sich ein in verstärkte Bemühungen zur atmosphärischen Erwärmung, denn seit einiger Zeit ist das Klima zwischen Moskau und dem Westen spürbar frostig. Selbst wenn der zuweilen befürchtete neue Kalte Krieg nicht ausbricht, steht viel auf dem Spiel, sollte es nicht gelingen, die angestauten Probleme und gegenseitigen Vorwürfe vernünftig zu klären. Bereits im April hatte Russlands Präsident Putin ein Moratorium für die Erfüllung des KSE-Vertrages avisiert. Siebeneinhalb Jahre nach seiner Unterzeichnung ist der überarbeitete Vertrag immer noch nicht in Kraft getreten. Wenn die NATO-Staaten ihre Ratifizierung weiterhin verzögern, mahnte Außenminister Lawrow mehrfach an, werde sein Land aus dem Vertrag komplett aussteigen,

Das wäre ein abrupter Schluss ohne Happy-End für eine allerseits gelobte "Erfolgsstory" multilateraler Rüstungskontrolle, die nicht nur nach Meinung des Hamburger Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik "hervorragend funktioniert" hat. 16 Mitglieder der NATO und 6 Warschauer-Pakt-Staaten hatten das Abkommen im Jahre 1990 unterschrieben, das zwei Jahre später in Kraft trat. Es begrenzt für verschiedene europäische Subregionen die erlaubte Zahl an Kampfpanzern, gepanzerten Fahrzeugen, Artilleriegeschützen, Militärhubschraubern und Kampfflugzeugen. Der Vertrag sieht umfassende Verifikationsprozeduren und Maßnahmen zur Vernichtung bestimmter Waffen vor. Dementsprechend wurden in den Folgejahren rund 60.000 konventionelle Großwaffensysteme verschrottet, Militärs reisten zu Tausenden gegenseitigen Inspektionen und Beobachtungsbesuchen vor Ort, und schließlich sorgte der umfangreiche Informationsaustausch für eine bis dahin beispiellose Transparenz in militärischen Angelegenheiten.

Nach der Auflösung des Warschauer Paktes und dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Vertrag entsprechend den veränderten Bedingungen modifiziert und statt der Gruppenbegrenzungen nationale Limits für Rüstungen und Obergrenzen der Streitkräfte festgelegt. Außerdem können weitere europäische Staaten hinzu kommen. Allerdings haben die neuen NATO-Mitglieder Slowenien, Estland, Lettland und Litauen dies bisher nicht getan und unterliegen somit keinerlei Begrenzungen für Großwaffensysteme, Militärpersonal oder Verstärkungen. Demgegenüber traten die Sowjetnachfolger Russland, Kasachstan, Ukraine und Weißrussland dem neuen Vertrag inzwischen bei. Die NATO begründet ihr Zögern bei der Ratifizierung des Anpassungsvertrages mit dem nicht erfolgten Abziehen russischer Truppen aus Georgien und Moldawien (Dnjestr-Republik). Vor allem die USA fordern den versprochenen Abzug, aber Experten halten das schon wegen der geringen Truppenzahlen für nur vorgeschoben und sehen eher die Absicht Washingtons dahinter, die eigenen strategischen Positionen in russischen Anrainerregionen weiter auszubauen.

Nun wird im Westen gerätselt, was konkret die Konsequenzen eines russischen Austritts sein könnten. Im Wesentlichen hat Russland drei Optionen: Erstens könnte es die im Vertrag festgelegten Obergrenzen für konventionelle Großwaffen überschreiten. Russland könnte zweitens die erlaubten Truppenstärken in den Militärbezirken Sankt Petersburg und Kaukasus erhöhen. Damit würde sich die Streitkräftepräsenz an den Grenzen zu Norwegen, Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen massiv erhöhen. Das beträfe fünf NATO-Mitglieder, im Süden wäre vor allem Georgien davon betroffen. Drittens schließlich könnte Moskau die vereinbarten regelmäßigen Benachrichtigungen, Datenaustausch und gegenseitigen Inspektionen einstellen, die bisher die Einhaltung der Begrenzungen, die militärischen Einrichtungen und das Gerät anderer Länder überprüfen. Schon jetzt hat Russland die Information über Truppenbewegungen gestoppt und ausländische Kontrollbesuche verwehrt.

Sollte nun der vollständige Ernstfall eintreten, stürzte nicht nur eine weitere Säule des in Jahrzehnten errichteten Gebäudes internationaler Rüstungskontroll- und Abrüstungsabkommen ein. Die negativen Konsequenzen würden die Ost-West-Beziehungen in ihrer Substanz weiter erschüttern. Bereits seit einiger Zeit empfindet der Kreml eine ganze Reihe westlicher Aktionen als Missachtung seiner legitimen Sicherheitsinteressen. Moskau ist zum einen darüber besorgt, dass die NATO entgegen früheren Versprechungen mit ihrer Infrastruktur immer näher an die russischen Grenzen heranrückt und fühlt sich umzingelt. Von der Ostsee bis zum Schwarzen und Kaspischen Meer, vom Baltikum bis nach Zentralasien hat die NATO vor allem durch ihre extensive Osterweiterung eine beispiellose Militärpräsenz etabliert. Als gegen sich gerichtet betrachtet Russland ebenfalls die US-Pläne zur Stationierung einer Raketenabwehr in Osteuropa und im Kaukasus. Die USA erhalten durch die geplanten Radaranlagen einen ziemlich präzisen Einblick in die russischen Tests von Langstreckenraketen in Zentralrussland und bei der Nordmeerflotte. Russische Militärs befürchteten, dass dadurch die strategische Stabilität beeinträchtigt und ihre Kapazität für einen nuklearen Vergeltungsschlag vermindert werden. Außerdem sei eine zukünftig noch anwachsende Zahl von US-Abfangraketen vor der eigenen Haustür zu befürchten. Wie Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow moniert, verläuft die Flugbahn jeder Rakete, die in Osteuropa oder dem Kaukasus abgeschossen wird, unmittelbar entlang der russischen Grenzen. Augenblicklich richten sich die Raketen angeblich zwar nicht auf Russland, aber wenn in Polen, Tschechien und Georgien Radars und verbunkerte Raketen erst einmal installiert sind, können Mission wie auch Zielkoordinaten schnell verändert werden.

Die fehlende Sensibilität des Westens gegenüber russischen Sicherheitsbedenken ignoriert, dass Bedrohungsängste komplex sind und auch auf historischen Erfahrungen beruhen. Die nach drei feindlichen Invasionen und Millionen Menschenopfern zur Supermacht aufgestiegene UdSSR zerbrach 1990 an politischer Paralyse. Russland als ihr mächtigster Nachfolgestaat musste sich mit dem zweitklassigen Status einer Regionalmacht abfinden. Aber inzwischen hat sich die Situation gewandelt. In Moskau schwindet allmählich der Phantomschmerz über die untergegangene Sowjetunion, und ein gestärktes Russland ringt wieder um Macht und Einfluss im internationalen Geschehen. Jetzt pocht man mit demonstrativer Geste auf gleichberechtigten Respekt und einen erneuerten Großmachtstatus auf gleicher Augenhöhe mit den übrigen Weltmächten. Für besonders schmählich gilt die beflissene Bereitschaft Warschaus und Prags, dort Elemente des US-Raketenabfangsystems zu beherbergen. Für Moskau geben sich die Ex-Verbündeten als Spielbälle amerikanischer Expansionsstrategie dafür her, eine neue Bedrohung sozusagen im eigenen Hinterhof aufzubauen. Und noch ist kein Ende abzusehen. Demnächst wird es US-Militärstützpunkte in Bulgarien und Rumänien geben, und auch die NATO-Aufnahme von Georgien und der Ukraine ist bereits im Gespräch. Russland hat mehrfach Vergeltung angekündigt. Man muss abwarten, wie Washington auf den Vorschlag Moskaus reagiert, eine Radarstation in Aserbaidshan gemeinsam zu nutzen. Darum wäre der Westen schlecht beraten, Moskaus Bedenken einfach als "lächerlich" abzutun. Denn sollte es nicht gelingen, die heranrollende Welle des Misstrauens wieder zu glätten, kommt vielleicht doch noch die neue Eiszeit. Eine weitere Runde des Wettrüstens ist jedenfalls bereits in vollem Gange, und das nächste Abrüstungsopfer erscheint schon am Horizont: Weil das Drohpotential wieder gebraucht wird, könnte der russisch-amerikanische INF-Vertrag über die Beseitigung nuklearer Mittelstreckenraketen demnächst ebenfalls aus dem Weg geräumt werden.

 

Artikel XXI, Punkt 2 des KSE-Vertrages:

"Der Verwahrer beruft eine außerordentliche Konferenz der Vertragsstaaten ein, wenn ein Vertragsstaat, der die Auffassung vertritt, daß außergewöhnliche Umstände im Zusammenhang mit diesem Vertrag eingetreten sind, darum ersucht … Um den anderen Vertragsstaaten die Vorbereitung auf diese Konferenz zu ermöglichen, enthält das Ersuchen die Begründung dafür, warum der Vertragsstaat eine außerordentliche Konferenz für erforderlich hält. Die Konferenz prüft die in dem Ersuchen genannten Umstände und ihre Auswirkungen auf die Wirkungsweise des Vertrags. Die Konferenz beginnt spätestens 15 Tage nach Eingang des Ersuchens und dauert höchstens drei Wochen, sofern sie nichts anderes beschließt."

 

 

KSE-Unterzeichner

Armenien, Aserbaidschan, Belgien, Bulgarien, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Georgien, Griechenland, Großbritannien, Island, Italien, Kanada, Kasachstan, Luxemburg, Moldawien, Niederlande, Norwegen, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Slowakei, Spanien, Tschechische Republik, Türkei, Ukraine, Ungarn, USA, Weißrussland.

 

Chronik

 

Datum Ereignis
1973-1989 Verhandlungen über die gegenseitige Verminderung von Streitkräften und Rüstungen in Europa bleiben ohne Ergebnis.
9. März 1989 Zwischen NATO und Warschauer Pakt beginnen Verhandlungen über die Begrenzung von konventionellen Streitkräften in Europa.
19. November 1990 22 NATO- und Warschauer-Pakt-Staaten unterzeichnen in Paris den aus 23 Artikeln und einen umfangreichen Anhang bestehenden Vertrag über die Begrenzung von Streitkräften und Rüstungen in Europa (KSE-Vertrag).
Juni 1992 Die Staaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) unterzeichnen den Vertrag nach dem Ende der UdSSR.
6. Juli 1992 Unterzeichnung des sogenannten KSE-1A-Abkommen, das Personalobergrenzen für die nationalen Streitkräfte festlegt und einer "abschließenden Akte" durch 29 NATO-Staaten und Exmitglieder des Warschauer Pakts in Helsinki.
9. November 1992 Der KSE-Vertrag tritt in Kraft.
August 1999 1. NATO-Osterweiterung um Polen, Tschechien und Ungarn.
November 1999 Die inzwischen 30 Vertragsstaaten unterzeichnen in Istanbul den an die neuen Verhältnisse adaptierten KSE-Vertrag. Dieser weist nun zulässigen Obergrenzen für die jeweilige Waffenart den einzelnen Staaten zu.
Mai 2002 Der Nato-Russland-Rat wird gebildet und soll u.a. Konsultationen über den KSE-Vertrag führen.
April 2004

2. NATO-Osterweiterung um Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowenien und die Slowakei.

Juni 2004

Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan, Moldawien, Russland, die Ukraine und Weißrussland treten dem angepassten KSE-Vertrag bei.                  

April 2007 Russlands Präsident Putin kündigt ein Moratorium der Vertragserfüllung an. Der NATO-Russlandrat beschäftigt sich mit dem Problem.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Veröffentlicht am

14. Juni 2007

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