Das letzte Tabu - NS-Militärjustiz und KriegsverratVon Wolfram WetteVortrag von Professor Dr. Wolfram Wette am Samstag, 09.06.2007, auf dem 31. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Köln veranstaltet von der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK) im Zentrum “Gewaltfrei Leben und Handeln” des Internationalen Versöhnungsbundes e.V., deutscher Zweig und des Bundes für soziale Verteidigung In der Stabskompanie der Sturm-Panzer-Abteilung 216, einer an der Ostfront -zunächst im Raum Orel, dann in der Nähe von Saporoshje - eingesetzten Einheit, kam es im Sommer 1943 zur Bildung eines so genannten Soldatenrats. Den Hintergrund dieser spektakulär klingenden Aktion bildete die schlechte Stimmung bei den Soldaten dieser Kompanie. Die Einheit hatte während der Kämpfe im Raum Kursk im Juli 1943 hohe Verluste erlitten. Zusätzlich angeheizt wurde die Unzufriedenheit dadurch, dass die Soldaten sich durch ihren Einheitsführer ungerecht behandelt fühlten. Die Initiative zur Gegenwehr ging anscheinend von dem Gefreiten Hugo Ruf und dem Stabsgefreiten Martin Weber aus.Feldurteil des Reichskriegsgerichts vom 29.1.1944 gegen den Stabsgefreiten Martin Weber (Todesstrafe wegen Kriegsverrats u.a.). In: Wolfram Wette/ Detlef Vogel (Hrsg.), unter Mitarbeit von Ricarda Berthold u. Helmut Kramer: Das letzte Tabu. NS-Militärjustiz und Kriegsverrat. Mit einem Vorwort von Manfred Messerschmidt. Berlin 2007, Teil E, Dok. 12, S. 216 ff., dazu auch die Dok. 10 und 11, S. 196-215. Wie das Reichskriegsgericht später feststellte, kam es zu einer Zusammenkunft, während derer die genannten Soldaten in Trunkenheit unter dem “verderblichen Einfluss” des kommunistisch gesinnten Gefreiten Ruf mit dem Kommunistengruß gegrüßt und auf ein Hitler-Bild geschossen haben sollen. Außerdem hätten Ruf und Weber ein im Offiziersheim aufgefundenes Flugblatt des Nationalkomitees “Freies Deutschland” (NKFD) bei den Kameraden herumgereicht. In diesem Flugblatt, das von kriegsgefangenen deutschen Offizieren unterzeichnet war, wurden die deutschen Truppen dazu aufgerufen, “bis zur deutschen Reichsgrenze zurückzugehen und den Russen ihr Land zu überlassen”. Daraufhin wurde der Soldatenrat in “Komitee Freies Deutschland” umbenannt. Weil die Feldpostzensur Briefe der beteiligten Soldaten abfing, wahrscheinlich aufgrund von Denunziation, wurden die verdächtigen Soldaten verhaftet und vor das Reichskriegsgericht gestellt.Siehe Wette/Vogel, Das letzte Tabu, S. 96-98 und die Dokumente 11, 12 und 13. Der Fall “Sturmpanzerabteilung” wird auch thematisiert in der im Juni 2007 eröffneten Wanderausstellung “‘Was damals Recht war…’. Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht” der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Siehe Drehbuch vom 26.2.2007, Fallgeschichten III.12, S. 242-256. Den Urteilstexten ist nicht mit hinreichender Klarheit zu entnehmen, ob die missgelaunten und aufgebrachten Soldaten ihr Tun wirklich als eine durchdachte politische Aktion begriffen haben. Versucht man, sich den Handlungsspielraum dieser Soldaten im unmittelbaren Front2 gebiet vorzustellen, so ist dies eher unwahrscheinlich. Die Kriegsrichter allerdings nahmen das Treiben dieser Soldaten sehr ernst. Wohl in Erinnerung an die revolutionäre Arbeiter- und Soldatenratsbewegung am Ende des Ersten Weltkrieges - das Trauma aller deutschen Nationalisten - stilisierten sie die Vorkommnisse zu einer “kommunistischen Zellenbildung” zum Zwecke eines “gewaltsamen Umsturzes” hoch und griffen mit härtesten Strafmaßnahmen durch. Insgesamt 17 Angehörige der Stabskompanie der Sturm-Panzer-Abteilung 216 wurden vor dem Reichskriegsgericht angeklagt. In den Monaten Dezember 1943 bis Februar 1944 fanden fünf Verhandlungen statt. Die Verfahren endeten mit 11 Todesurteilen wegen Kriegsverrats, Vorbereitung zum Hochverrat und Zersetzung der Wehrkraft, 3 Gefängnisstrafen, einer Zuchthausstrafe und zwei Freisprüchen. Die Todesurteile wurden durch Erhängen, Enthaupten und Erschießen vollstreckt. Die Militärrichter begründeten die von ihnen verhängten Todesstrafen mit ideologisch überhöhten Konstruktionen, zum Beispiel der Folgenden: “Wer während des Schicksalskampfes des deutschen Volkes gegen seinen sowjetischen Todfeind, noch dazu als Soldat an der Ostfront, sich so verhält und solche Taten begeht, wie die 4 Angeklagten, unternimmt es, während eines Krieges gegen das Reich der feindlichen Macht Sowjet-Russland Vorschub zu leisten und dadurch gleichzeitig der Kriegsmacht des Reiches Nachteile zuzufügen.”Feldurteil des Reichskriegsgerichts vom 22.1.1944 gegen Dietz, Spenn, Hoops und Buchholz, Begründung, S. 6. In: Wette/Vogel, Das letzte Tabu, Dok. 10, S. 196 ff. Der 1919 geborene Johann Lukaschitz, der vor 1933 Mitglied der “Roten Falken” gewesen war, gehörte nicht zum Kern, sondern lediglich zum Umfeld des Soldatenrats. Das Reichskriegsgericht befand ihn der Nichtanzeige eines geplanten Hoch- und Kriegsverrats sowie der Zersetzung der Wehrkraft für schuldig und verurteilte ihn zusammen mit seinen Kameraden Sasse und Zirn zum Tode. Sieben Tage später wurde er im Zuchthaus Halle durch das Fallbeil hingerichtet.Vgl. den Artikel: Johann Lukaschitz. In: Michael Eberlein/Norbert Haase/Wolfgang Oleschinski: Torgau im Hinterland des Zweiten Weltkrieges. Militärjustiz, Wehrmachtgefängnisse, Reichskriegsgericht. Leipzig 1999, S. 136-138, mit Auszug aus dem Urteil S. 138. Kurz vor seiner Ermordung war der mit schweren Ketten gefesselte Johann Lukaschitz im Wehrmachtgefängnis Torgau-Fort Zinna einem Leidensgenossen begegnet, dem verurteilten Wehrmachtsdeserteur Ludwig Baumann, der sich noch heute gut an ihn erinnert.Telefonat d. Verf. mit Ludwig Baumann am 12.3.2006. Vgl. auch die TV-Dokumentation von Hauke Wendler: Deserteure unterm Hakenkreuz. Deutschland 2006, NDR 24.10.2006. Die wegen Kriegsverrats oder Nichtanzeige eines Kriegsverrats verurteilten Soldaten dieser Panzersturmabteilung gelten noch immer als todeswürdige Verbrecher. Sie sind, zusammen mit anderen, die letzten Opfer der NS-Militärjustiz, die bis zum heutigen Tage nicht rehabilitiert worden sind. Daher steht dieses Thema jetzt, im Jahre 2007, auf der politischen Tagesordnung des Deutschen Bundestages. Wir erinnern uns: Im Jahre 1998 bekundete der Deutsche Bundestag mit den Stimmen aller Parteien den Kriegsdienstverweigerern und Wehrkraftzersetzern seinen Respekt, ebenso übrigens den Landesverrätern und Spionen. Das damals beschlossene Gesetz zur Aufhebung der NS-Unrechtsurteile hatte allerdings einen Mangel: Die Parteien hatten sich über die Bewertung der Wehrmachtsdeserteure nicht einigen können. Sie blieben daher von der Rehabilitierung zunächst ausgeschlossen. Es dauerte noch einmal vier Jahre, bis auch für die Deserteure eine gerechte Lösung gefunden werden konnte. Mit seiner rot-grünen Mehrheit hob der Deutsche Bundestag am 17. Mai 2002 die Urteile gegen Deserteure der Wehrmacht pauschal auf. Erst jetzt, 57 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, mussten diese nun nicht mehr den Makel des verurteilten Straftäters tragen. Das geschichtspolitische Gewicht dieser parlamentarischen Entscheidung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dokumentiert sie doch einen grundlegenden Wertewandel, der sich bei großen Teilen der deutschen Gesellschaft seit Anfang der achtziger Jahre schrittweise vollzogen hatte, als die ersten Deserteursdenkmäler für Zündstoff in der öffentlichen Debatte sorgten.Vgl. Wolfram Wette: Deserteure der Wehrmacht rehabilitiert. Ein exemplarischer Meinungswandel in Deutschland (1980-2002). In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 52 (2004), H. 6, S. 505-527; ders.: Ein Meinungswandel in Deutschland (1980-2002). Opfer der NS-Militärjustiz rehabilitiert. In: Wolfram Wette (Hrsg.): Filbinger - eine deutsche Karriere. Springe 2006, S. 157-171. Es hätte eigentlich in der Logik der bisherigen Rehabilitierungspolitik gelegen, auch die Kriegsverräter einzubeziehen. Dazu konnte sich der Gesetzgeber jedoch auch im Jahre 2002 nicht durchringen. Das ist um so erstaunlicher, als die wegen Landesverrats, Spionage und “Übergabe an den Feind” Verurteilten bereits seit 1998 rehabilitiert sind. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) soll damals im “Basta”-Ton geäußert haben, das sei “mit ihm nicht zu machen”. Wie auch immer: Die Regierungsparteien nahmen den Tatbestand “Kriegsverrat” aus politischen Erwägungen von der Rehabilitierung aus. Zwar enthält das Unrechtsbereinigungsgesetz von 1998 in diesem Punkt eine Unklarheit. Die dazu in der Gesetzesbegründung und im Rechtsausschuss abgegebenen Erklärungen lassen aber keinen Zweifel, dass man die Kriegsverräter nicht rehabilitieren wollte. Die Begründung der damaligen Regierungsparteien für ihre ablehnende Haltung war wenig überzeugend. Sie lautete: Im Militärstrafgesetzbuch der NS-Zeit fände “sich eine ganze Reihe von Straftatbeständen, bei denen die Aufhebung des Urteils ohne Einzelfallprüfung nicht verantwortbar erscheint. Beispielhaft seien hier der Kriegsverrat, die Plünderung, die Fledderei sowie die Misshandlung von Untergebenen genannt. Bei diesen Delikten vermag auch der Umstand, dass sie während eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges begangen wurden, keinen Anlass zur Rehabilitierung zu begründen.”Von den Mehrheitsfraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachter Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege (NSAufhGÄndG) vom 20.2.2002. In: Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Drucksache 14/8276, hier: S. 6. Wie man sieht, wurden hier also kriminelle Delikte und das politische Delikt Kriegsverrat unreflektiert in einem Atemzug genannt. Damals gab es einen hörbaren Widerspruch: Ludwig Baumann, der Vorsitzende der “Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz”, erhob während der Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 24. April 2002 die Forderung, dass auch die Verurteilungen wegen Kriegsverrats aufgehoben werden sollten. Baumann begründete seinen Vorstoß mit der eingängigen rhetorischen Frage: “Denn was ist verurteilenswert am Verrat eines Vernichtungskrieges”?Rechtsausschuss 24.4.2002, Zusammenstellung der Stellungnahmen, hier: Stellungnahme Ludwig Baumann, S. 36. Die PDS-Fraktion stellte noch im Jahre 2002 einen Änderungsantrag zum Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen, in dem sie forderte, die Paragraphen 57, 59 und 60 des MStGB über den Kriegsverrat ebenfalls in die Liste der aufzuhebenden Straftatbestände aufzunehmen. Ihre Begründung lautete: Kriegsverrat sei “in dem vom nationalsozialistischen Deutschland verschuldeten Angriffs- und Vernichtungskrieg weder kriminell noch unehrenhaft” gewesen.Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Drucksache 14/9116 vom 15.5.2002: Änderungsantrag der Fraktion der PDS zum NS-AufhGÄndG. Fragt man nach den Motiven, welche die SPD-Bundestagsfraktion damals veranlassten, sich der Rehabilitierung der Kriegsverräter zu verweigern, so stößt man auf das folgende Argument: “So erscheint der in Fällen des Kriegsverrats gegebene Unrechtsgehalt (nicht auszuschließende Lebensgefährdung für eine Vielzahl von Soldaten) äußerst hoch.” Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege (NS-AufhÄndG). Rohentwurf der Koalitionsparteien SPD und Bündnis 90/Die Grünen vom 30.1.2002, S. 8. Vier Jahre später, also 2006, argumentierte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries erneut in dieser Weise. Der Vorsitzende der “Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz” hatte sie gebeten, sich für die Rehabilitierung der wegen Kriegsverrats verurteilen Wehrmachtsoldaten einzusetzen. Die Ministerin lehnte dies ab unter Hinweis auf den “möglicherweise gegebenen Unrechtsgehalt”, der sich aus der “nicht ausschließbaren Lebensgefährdung für eine Vielzahl von Soldaten” ergeben könne.Schreiben der Bundesjustizministerin Brigitte Zypries vom 25. April 2006 an den Vorsitzenden der Bundesvereinigung der Opfer der NS-Militärjustiz, Ludwig Baumann, im Besitz d. Verf. Es wird auch zitiert von Eckart Spoo: Kriegsverrat. In: Ossietzky. Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft, 9. Jg., Nr. 12, 10. Juni 2006, S. 444-446, Zitat S. 445. Um eine Klärung der Unklarheiten hat sich die Bundesregierung bislang offenbar nicht bemüht. 2007 ergriff die Linkspartei ein weiteres Mal die Initiative und brachte im Bundestag einen Gesetzentwurf ein, der das Ziel verfolgt, die wegen Kriegsverrats verurteilten Soldaten der Wehrmacht pauschal zu rehabilitieren und die bislang für eine Rehabilitierung vorgesehene Einzelfallprüfung abzuschaffen.Gesetzentwurf der Abgeordneten Jan Korte, Ulla Jelpke … und der Fraktion Die Linke: Entwurf eines zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege (2. NS-AufhÄndG) (September 2006). Inzwischen: Drucksache 16/3139 vom 25.10.2006. Am 10. Mai 2007 beriet der Bundestag diesen Gesetzentwurf in Erster Lesung. Wenn die Presse darüber fast durchgängig nicht berichtete, so lag dies unter anderem daran, dass eine mündliche Beratung im Bundestag aus Zeitgründen nicht stattfinden konnte und die Stellungnahmen der Bundestagsfraktionen daher schriftlich zu Protokoll gegeben wurden mussten.Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007, S. 9971-9977. In den Positionierungen der Parteien zeigten sich erneut die alten Gegensätze. Der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Norbert Geis, konstruierte Szenarien, in denen das - schon aus der Deserteurs-Debatte bekannte, aber nie verifizierte - Argument eine zentrale Rolle spielte, die Kriegsverräter hätten andere Wehrmachtsoldaten gefährdet. Geis behauptete: “Wer Kriegsverrat beging, hat oft in einer verbrecherischen Weise den eigenen Kameraden geschadet, ja sie oft in Lebensgefahr gebracht, in der sie dann auch umgekommen sind, dies zum Beispiel dann, wenn der Verräter zu den feindlichen Linien überwechselte und, um sich dort lieb Kind zu machen, die Stellungen der eigenen Kameraden verriet, von der (sic!) er geflüchtet war. Der Feind konnte sich darauf einrichten und den Standort der Truppe unter Beschuss nehmen, wobei viele ihr Leben verloren haben.”Norbert Geis MdB, ebda., S. 9972 D. Dieses Szenario findet, wie schon an dieser Stelle anzumerken ist, in der von uns vorgelegten Sammlung von Kriegsgerichtsurteilen keine Bestätigung. Unklar ist, aus welchen Quellen der Erinnerung sich Vermutungen dieser Art gespeist haben könnten, die eine Rehabilitierung der Kriegsverräter bislang verhinderten. Möglicherweise spielt hier der nationalkonservative Freiburger Historiker Gerhard Ritter eine Rolle. Er hatte zum Widerstand gegen das NS-Regime gehört und war deswegen im KZ Ravensbrück inhaftiert gewesen. In seinem Buch über den ehemaligen Leipziger Oberbürgermeister und Hitler-Gegner Carl Goerdeler, das im Jahre 1954 erstmals erschien, ging Ritter auch auf die Berliner Widerstandsgruppe “Rote Kapelle” ein. Ihre Mitglieder hätten, so unterstellte er, “wichtige militärische Geheimnisse zum Verderben deutscher Truppen verraten”. Daher habe diese Gruppe mit “deutschem Widerstand” nichts zu tun gehabt. Sie sei “ganz eindeutig im Dienst des feindlichen Auslandes gestanden”.Gerhard Ritter: Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung. 1. Aufl. Stuttgart 1954, 4. Aufl. 1984, S. 107 f., auch zum Folgenden. Diese “Edelkommunisten” hätten durch den Verrat militärischer Geheimnisse “zum Verderben deutscher Truppen” gehandelt.Der Präsident des Reichskriegsgerichts, Admiral Max Bastian, stellte gar die - vom nationalsozialistischen Feindbild geprägte - Behauptung auf, die “Rote Kapelle” habe das Ziel verfolgt, “in Deutschland eine Kommunistenherrschaft zu errichten”. Zit. nach Manfred Messerschmidt: Die Wehrmachtjustiz 1933-1945. Hrsg. Vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt. Paderborn, München, Wien, Zürich 2005, S. 110. Ritter hat sich seinerzeit, also Anfang der 50er Jahre, von den Ansichten eines hochrangigen Militärrichters der Wehrmacht beeindrucken lassen, nämlich des vormaligen Generalrichters am Reichskriegsgericht, Manfred Roeder.Manfred Roeder: Die Rote Kapelle. Aufzeichnungen des Generalrichters Dr. M. Roeder. Hamburg 1952; vgl. dazu auch den Beitrag von Helmut Kramer: “Landesverrat hat immer und zu allen Zeiten als das schimpflichste Verbrechen gegolten.” Das Verfahren der Staatsanwaltschaft Lüneburg von 1951 gegen den Generalrichter a. D. Manfred Roeder. In: Wette/Vogel, Das letzte Tabu, S. 69-88. Dieser war im Fall “Rote Kapelle” der Vertreter der Anklage gewesen, hatte in dieser Rolle die Deutungsmuster der Gestapo vertreten und hernach an 48 (!) Todesurteilen persönlich mitgewirkt, die zwischen September 1942 und September 1944 gegen Mitglieder dieser Berliner Widerstandsorganisation ausgesprochen und, nach Bestätigung durch Hitler, vollstreckt worden waren. Nach dem Kriege, 1951, veröffentlichte Roeder einen Bericht über die Verfahren gegen Mitglieder der “Roten Kapelle”, der im Kern eine Rechtfertigung in eigener Sache darstellte. Ausgerechnet diese Schrift nahm Ritter dann zur Grundlage seiner Darstellung. Die historische Forschung hat längst ermittelt, dass die - von der Gestapo mit dem Namen “Rote Kapelle” belegte Gruppe - politischen Widerstand im engeren Sinne leistete. Aus diesem Grunde wurde ihre Geschichte auch bereits Ende der 80er Jahre in die Ständige Ausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin aufgenommen und damit angemessen gewürdigt. Die “Rote Kapelle” bestand aus mehr als einhundert Mitgliedern und war fast neun Jahre lang politisch aktiv, nämlich von 1933 an bis zu ihrer Aufdeckung 1942. Bei den widerständigen Männern und Frauen handelte es sich keineswegs um “bezahlte Landesverräter” im Dienste der Sowjetunion, wie es die von der Gestapo in die Welt gesetzte Legende wissen wollte.Vgl. Johannes Tuchel: Das Ende der Legenden. Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Der 20. Juli 1944. Bewertung und Rezeption des deutschen Widerstandes gegen das NS-Regime. Köln 1994, S. 277-290. Zu der recht heterogenen Gruppierung gehörten Menschen aus unterschiedlichen sozialen und kulturellen MilieusJürgen Danyel: Die Rote Kapelle. In: Peter Steinbach/Johannes Tuchel (Hrsg.): Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur. Bonn, Berlin 2004, S. 396-413, hier: S. 396. Vgl. weiterhin: Hans Coppi/Geertje Andersen (Hrsg.): Dieser Tod passt zu mir. Harro Schulze-Boysen. Grenzgänger im Widerstand. Briefe 1915 bis 1942. Berlin 1999, S. 8. Weitere Überblickswerke zur Geschichte der Roten Kapelle: Hans Coppi/Jürgen Danyel/ Johannes Tuchel (Hrsg.): Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Berlin 1994; Jürgen Danyel: Die Rote Kapelle. In: Steinbach/Tuchel, Widerstand (2004), S. 396 ff.; Regina Griebel/Marlies Coburger/Heinrich Scheel: Erfasst? Das Gestapo-Album zur Roten Kapelle. Eine Fotodukumentation. Halle 1992; Peter Steinbach: Widerstandsorganisation Harnack/Schulze Boysen. Die “Rote Kapelle” - ein Vergleichsfall für die Widerstandsgeschichte. In: ders., Widerstand im Widerstreit. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Erinnerung der Deutschen. Ausgewählte Studien. 2. Aufl. Paderborn 2001, S. 234 ff., unter ihnen Ministerialbeamte, Soldaten und Offiziere der Wehrmacht sowie zahlreiche Künstler und Studenten und weit über 40 Frauen.Danyel, Rote Kapelle, S. 398. Ähnlich wie in München die Studentengruppe “Weiße Rose” versuchte auch die Widerstandsgruppe “Rote Kapelle” in Berlin, die Bevölkerung ihrer Stadt durch Flugblätter aufzuklären und sie zum Widerstand gegen das NS-Regime aufzurufen. Zudem suchte sie Kontakte zu den amerikanischen und sowjetischen Kriegsgegnern Hitler-Deutschlands, weil sie glaubte, dass nur diese militärisch und ökonomisch in der Lage sein würden, das nationalsozialistische Deutschland zu besiegen.Ebda., S. 407. Nach der Verhaftung der meisten Mitglieder der “Roten Kapelle” kam es Ende August 1941 zu einer Serie von Prozessen vor dem Reichskriegsgericht. Die in der Widerstandsgruppe engagierten Soldaten, nämlich Oberleutnant Harro Schulze-Boysen, Unteroffizier Heinz Strehlow sowie die Mannschaftssoldaten Horst Heilmann und Friedrich RehmerFeldurteil des Reichskriegsgerichts vom 18.1.1943 gegen den Unteroffizier Heinz Strehlow, den Schützen Friedrich Rehmer, den Gefreiten Prof. Dr. Werner Krauß und sechs weitere Angeklagte (Strehlow und Rehmer u.a. wegen Kriegsverrats). Übersicht über die Prozesse gegen die “Rote Kapelle” vor dem Reichskriegsgericht mit Angabe der herangezogenen Straftatbestände bei Norbert Haase: Das Reichskriegsgericht und der Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft. Hrsg. von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Justiz. Berlin 1993, S. 133-136. Jetzt in: Wette/Vogel, Das letzte Tabu, Teil E, Dok. 1 und 2, S. 133-143., wurden wegen Kriegsverrats zum Tode verurteilt und erhängt. Die Zivilisten erhielten wegen Hochverrats die gleiche Strafe. Die von dem NS-Militärrichter Roeder und dem Historiker Gerhard Ritter aufgestellte Behauptung, Mitglieder der “Roten Kapelle” hätten durch ihre Verratshandlungen den Feind in der Weise begünstigt, dass dadurch Soldaten der Wehrmacht unmittelbar zu Schaden gekommen wären, ist also auch in diesem Paradefall von Kriegsverrat unzutreffend. Aber die Legende nahm ihren Lauf. Roeders und Ritters Urteil über diese Widerstandsgruppe hat deren Bild in der deutschen Öffentlichkeit in der Folgezeit nachhaltig geprägt. So lässt sich am Fall der Widerstandsgruppe “Rote Kapelle” exemplarisch ablesen, wie schwer es das Thema Kriegsverrat jeweils hatte und bis heute hat, unvoreingenommen diskutiert zu werden. Im Bewusstsein der meisten Menschen ist jede Art von Verrat negativ besetzt. Ob man bei diesem Begriff an das Ausscheren eines Einzelnen aus einer Jugendclique, einer Sportgemeinschaft, aus einem Polizei- oder Offizierkorps denkt, oder an Landesverrat oder Hochverrat: Alle diese Handlungen stehen in dem Geruch, etwas Schändliches, Verwerfliches, nicht Entschuldbares zu sein. Man weiß auch: Je geschlossener eine Gruppe ist, desto negativer wird der Abtrünnige bewertet und desto härter wird sein verräterisches Handeln sanktioniert. In der Skala der verurteilenswerten Verratshandlungen nimmt das politische Delikt des Kriegsverrats offenbar die Spitzenposition ein. Zumindest sahen die Militärrichter der NS-Zeit dies so. Der schon zitierte ehemalige Generalrichter Manfred Roeder sprach gewiss für seinen ganzen Berufsstand, wenn er nach dem Kriege seine Überzeugung kundtat: “Landesverrat hat immer und zu allen Zeiten als das schimpflichste Verbrechen gegolten”.Helmut Kramer: “Landesverrat hat immer und zu allen Zeiten als das schimpflichste Verbrechen gegolten”. Das Verfahren der Staatsanwaltschaft Lüneburg von 1951 gegen den Generalrichter a. D. Manfred Roeder. In: Wette/Vogel, Das letzte Tabu, S. 67-83. In der Tat ist die Geschichte der Verfolgung von politischen Verratsdelikten in der Zeit des deutschen Nationalstaats 1871-1945 lang. Sie kann hier nicht referiert werden.Siehe hierzu Helmut Kramer/Wolfram Wette (Hrsg.): Recht ist, was den Waffen nützt. Justiz und Pazifismus im 20. Jahrhundert. Berlin 2004. Mit einer Ausnahme: In den Jahren der Weimarer Republik war ein deutscher Bürger, ob Demokrat oder Pazifist, Soldat oder Zivilist, der etwas über die illegalen und im Geheimen betriebenen deutschen Rüstungen öffentlich ausplauderte, in den Augen der militaristischen Kräfte ein Verräter. Die radikalen Rechten begingen damals weit über 300 politische Mordtaten. Ihren eigenen Leuten in den geheimen Wehrorganisationen drohten sie: “Verräter verfallen der Feme!”Vgl. Carl Mertens: Verschwörer und Fememörder. Berlin-Charlottenburg 1926; Emil Julius Gumbel unter Mitarbeit von B. Jacob und E. Falck: “Verräter verfallen der Feme!” Opfer, Mörder, Richter 1919-1929. Berlin 1929; Helmut Donat: Rüstungsexperte und Pazifist. Der ehemalige Reichswehroffizier Carl Mertens. In: Wolfram Wette (Hrsg.): Pazifistische Offiziere in Deutschland 1871-1933. Bremen 1999, S. 247-271. Zudem überzog seinerzeit die politische Justiz die Pazifisten und Rüstungskritiker mit einer Serie von Landesverratsprozessen.Vgl. Kramer/Wette, Recht, besonders die Beiträge von Wolfram Wette, Ingo Müller und Otmar Jung. Die NSDAP Hitlers radikalisierte dann den Kampf gegen Verräter aller Art in einem bislang nicht gekannten Maße. Im Jahre 1930 brachte sie im Reichstag einen Gesetzentwurf mit dem Titel “Zum Schutz der deutschen Nation”Der Gesetzentwurf der NSDAP-Reichstagsfraktion trug den Titel “Gesetz zum Schutz der deutschen Nation”. Er wurde eingebracht als Änderungsantrag zur zweiten Beratung des Entwurfs eines “Gesetzes zum Schutze der Republik und zur Befriedung des politischen Lebens”. In: Verhandlungen des Reichstags. IV. Wahlperiode 1928, Bd. 440, Anlg. zu den Stenographischen Berichten Nr. 1626-1900, hier: Drucksache Nr. 1741, ausgegeben am 13. März 1930. Berlin 1930; die Entwürfe des Gesetzes zum Schutz der Republik: ebda., Nr. 1441 und 1641 der Drucksachen. Siehe: Wette/Vogel, Das letzte Tabu, S. 50 ff. ein, der erkennen ließ, wie diese Partei, wenn sie je an die Macht kommen sollte, mit Verrätern jeglicher Schattierung umzugehen gedachte. Die NSDAP forderte für Landesverrat generell die Todesstrafe, auch für den journalistischen Landesverrat, womit Veröffentlichungen über illegale und geheime Rüstungsanstrengungen gemeint waren.§ 1 des Gesetzentwurfs. Mit dem neuen Begriff “Wehrverrat”§ 2 des Gesetzentwurfs. fasste sie alle “wehrfeindlichen” Bestrebungen zusammen. Bereits das Eintreten für friedliche Ideen und Ziele sollte generell mit dem Tode bestraft werden. Die NSDAP kreierte damals auch den “Volksverrat”, den “Wirtschaftsverrat” und den “Rassenverrat”.§ 5 des Gesetzentwurfs der NSDAP. Nach der Machtübertragung auf Hitler im Januar 1933 hielt die NSDAP, was sie in Sachen Pazifismusbekämpfung versprochen hatte. Im Hinblick auf den Kriegsverrats-Paragraphen ist die von der nationalsozialistischen Reichsregierung verfügte Änderung des Militärstrafgesetzes vom 28. November 1934 von Bedeutung. Sie sah für dieses Delikt nunmehr generell die Todesstrafe vor. In unserem Buch “Das letzte Tabu. NS-Militärjustiz und Kriegsverrat”, das im Juli 2007 im Berliner Aufbau-Verlag erscheinen wird, präsentieren wir Sachinformationen über das weithin unbekannte Thema Kriegsverrat.Wolfram Wette: Todesurteile wegen Kriegsverrats in der NS-Zeit. In: Wette/Vogel, Das letzte Tabu, S. 15 ff. Wir klären den Begriff und dokumentieren Urteile deutscher Kriegsgerichte aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, die wegen dieses Straftatbestands gefällt wurden. Darüber hinaus versuchen wir, etwas über die Motive und die Handlungen der Soldaten der Wehrmacht heraus zu bekommen, die von der NS-Militärjustiz als Kriegsverräter verfolgt wurden. Wir beleuchten die von den Militärrichtern angewendeten Doppelstandards: Höchststrafen für den widerständigen “kleinen Mann” in Uniform, geringe Strafen oder gar keine Strafverfolgung von Offizieren bei vergleichbaren Tatbeständen. Schließlich versuchen wir die Frage zu beantworten, ob sich ein typisches Kriegsverräter-Profil ermitteln lässt. Niemand muss an seiner Bildung zweifeln, wenn er mit dem Begriff “Kriegsverrat” nichts anfangen kann. Ist er doch seit 1945 aus dem deutschen Wortschatz vollständig verschwunden. In der Zeit des ersten deutschen Nationalstaats (1871-1945), also nicht nur in den Jahren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, gab es den Kriegsverrat als ein politisches Militärstrafdelikt. In eine heute verständliche Sprache übersetzt, wurde unter Kriegsverrat in der NS-Zeit ein Landesverrat verstanden, der von Angehörigen der Wehrmacht während des Krieges (“im Felde”) begangen wurde. Ein Zivilist konnte also keinen Kriegsverrat begehen. Als militärischer Landesverrat konnten alle Handlungen verfolgt werden, die - wie es im Militärstrafgesetz (§§ 57-61) und im Strafgesetzbuch (§ 91 b) hieß - geeignet waren, dem kriegführenden Deutschen Reich “einen Nachteil zuzufügen” und den Feindmächten “Vorschub zu leisten”, also einen Vorteil zu bringen. Wie die von uns dokumentierten Urteile belegen, gab diese schwammige Formulierung des Kriegsverrats-Paragraphen den Militärrichtern ein justizförmiges Schwert an die Hand, mit welchem sie die unterschiedlichsten Erscheinungsformen von abweichendem und widerständigem Handeln mit der Höchststrafe verfolgen konnten, nämlich mit der Todesstrafe. Die bereits erwähnte Gesetzesänderung von 1934 bestand in der Streichung einer langen Aufzählung von einzelnen Kriegsverrats-Tatbeständen, die im MStGB von 1872 anschaulich aufgeführt worden waren, und in der pauschalen Androhung der Todesstrafe. Wir haben es bei den ab 1934 gültigen Kriegsverrats-Paragraphen also mit radikalisiertem NS-Recht zu tun, und nicht mit in gleicher Weise schon früher gültigem Kriegsrecht. Manche Juristen rechnen zur Gruppe der Kriegsverrats-Delikte auch die im MStGB benachbarten Paragraphen “Dienstpflichtverletzung im Felde” (§ 62 MStGB) und “Übergabe an den Feind” (§ 63 MStGB).3232 Otto Gritschneder, Otto: Furchtbare Richter. Verbrecherische Todesurteile deutscher Kriegsgerichte. München 1998, subsumiert die §§ 57-63 des Militärsstrafgesetzbuches unter die Überschrift “Kriegsverrat”, S. 178 f. Der Sache nach ist dies logisch und durchaus berechtigt, waren diese Handlungen doch ebenfalls geeignet, den Feind zu begünstigen und die Wehrmacht zu schwächen. Im seinerzeit gültigen Militärstrafgesetzbuch selbst wird eine solche Subsumierung allerdings nicht vorgenommen. Die Straftatbestände “Dienstpflichtverletzung im Felde” (§ 62) und “Übergabe an den Feind” (§ 63) werden unter einer eigenen Überschrift subsumiert: “Gefährdung der Kriegsmacht im Felde”.So in der Edition von Hanns Dombrowski (Hrsg.): Kriegsstrafrecht. Textausgabe der Bestimmungen des Kriegsstrafrechts und Kriegsstrafverfahrensrechts in neuester Fassung unter Verwendung amtlicher Erläuterungen, mit Anmerkungen, Verweisungen, Sachverzeichnis und Vorwort. 5., stark erw. Aufl. Berlin 1942, hier: S. 84 f. Dombrowski war Oberstkriegsgerichtsrat beim Reichskriegsministerium. Das bedeutet, dass beispielsweise jene Offiziere und Soldaten, die während der letzten Kriegsphase Städte, Dörfer, Kulturdenkmäler, militärische Anlagen und Menschen vor der Zerstörung und Vernichtung zu schützen versuchten, nicht - wie man erwarten würde - unter den Straftatbestand des Kriegsverrats fielen, sondern unter “Wehrkraftzersetzung”, “Dienstpflichtverletzung im Felde” oder “Übergabe an den Feind”.Fallbeispiele in Wette/Vogel, Das letzte Tabu, Teil A: Todesurteile wegen Kriegsverrats in der NS-Zeit, S. 41-45. Damit wird immer unklarer, welche spezifischen Handlungen die NS-Militärrichter eigentlich mit dem Kriegsverrats-Paragraphen identifizierten. Nach den Kommentaren von Erich Schwinge zum Kriegsverrats-Paragraphen erfasste der vage Begriff des Vorschubleistens “jede Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der Macht des feindlichen Staates, sofern dadurch irgendwie die militärische Lage beeinflusst werden kann”. Als Erläuterung fügte er hinzu: “Ein Vorschubleisten ist beispielsweise zu erblicken: in Lieferung von Waffen, Munition, Ausrüstungsgegenständen und Transportmitteln an den Feind, im Entweichenlassen von Kriegsgefangenen, die in die feindliche Streitmacht als Mitkämpfer eintreten wollen, Begünstigung ihrer Flucht, im Anwerben von Agenten für den feindlichen Nachrichtendienst usw.” Bereits im Kommentar zum Militärstrafgesetz von 1939 fixierte Schwinge die Pazifisten als Kriegsverräter.Militärstrafgesetzbuch. Erläutert von Dr. Erich Schwinge, ord. Professor der Rechte an der Universität Marburg. 2. völlig neu bearb. Aufl. Berlin 1944, S. 166 f.: “Der Kriegsmacht des Deutschen Reiches werden N a c h t e i l e i. S. des § 91 b zugefügt, wenn die Kampfkraft durch pazifistische Propaganda, durch Erregung öffentlicher Unruhen und Störungen des Wirtschaftslebens geschwächt wird.” Wenn diese tatbestandsmäßigen Voraussetzungen gegeben seien, sei “stets Todesstrafe” zu verhängen. In der 6. Auflage des Kommentars von 1944 fügte er hinzu: “Seit dem Krieg mit Russland genügt jegliche Unterstützung der Ziele des Bolschewismus.”Militärstrafgesetzbuch nebst Kriegssonderstrafrechtsverordnung. Erläutert von Dr. Erich Schwinge, ord. Professor der Rechte an der Universität Wien, Kriegsgerichtsrat a.D. 6. Aufl. Berlin 1944, S. 155. Das bedeutete, dass nun schon die kommunistische Gesinnung eines Wehrmachtsoldaten ausreichte, um den Straftatbestand des Kriegsverrats zu erfüllen. Ein Kontakt zu russischen Kriegsgefangenen konnte ähnlich gewertet werden. Das Reichskriegsgericht (RKG), aber auch der Volksgerichtshof und die Feldkriegsgerichte, hatten mit den Kriegsverrats-Paragraphen also ein Mittel in der Hand, mit welchem sie auch Gesinnungen mit dem Tode bestrafen konnten. Unsere Dokumentation macht deutlich, dass die Militärjustiz die Kriegsverrats-Paragraphen in der Praxis als ein Verfolgungsinstrument benutzte, das mit einem großen Ermessensspielraum gehandhabt werden konnte. Wir haben in unserem Buch 29 Urteile wegen Kriegsverrats gegen insgesamt 63 Wehrmachtangehörige dokumentiert, sowie 5 Anklageschriften und weitere Dokumente. Diese Quellen lassen erkennen, dass der Widerstand gegen das NS-Regime, welcher von der NS-Justiz mit dem Straftatbestand Kriegsverrat verfolgt wurden, vielfältige Formen hatte. Wir haben die Fälle nach den folgenden historisch-politischen Kategorien geordnet: 1. Politischer Widerstand, 2. Widerständige politische Gesinnung, 3. Solidarität mit verfolgten Juden, 4. Hilfe für Kriegsgefangene, 5. Kooperation mit einer Feindmacht, 6. Überläufer zu Partisanen, 7. Kontakte zu Partisanen, 8. Schwarzmarktdelikte, 9. Bewaffnete Widerstandsgruppen in Österreich. An dieser Stelle kann ich naturgemäß nur einige wenige Fälle von Kriegsverrat exemplarisch vorführen. Den klassischen Fall für politischen Widerstand, der als Kriegsverrat verfolgt wurde, stellt die - bereits behandelte - “Rote Kapelle” dar. Für eine widerständige politische Gesinnung mag hier der Fall Adolf Pogede stehen. Geboren 1896, war Pogede seit 1914 Mitglied der SPD, später der USPD und seit 1925 der KPD. In den Jahren 1928-1933 nahm er als Mitglied der Bezirksverordneten-Versammlung in Berlin-Wedding ein politisches Mandat wahr. Im Zweiten Weltkrieg war er Obergefreiter und wurde als Kraftfahrer in einem Grenadier-Ersatz-Regiment eingesetzt. Im Februar 1944 unterhielt er in seinem Standort Frankfurt/Oder Kontakte zu sowjetischen Kriegsgefangenen, mit denen er durch seine dienstliche Tätigkeit in einem städtischen Verpflegungsmagazin zusammentraf. Er gab sich den Kriegsgefangenen als früheres Mitglied der KPD zu erkennen und äußerte, dass Hitler Deutschland in den Abgrund führen und die Rote Armee bald in Berlin einmarschieren werde. Da einer der Kriegsgefangenen in Wirklichkeit ein eingeschleuster V-Mann war, wurde Pogede denunziert und verhaftet. Am 14. Juli 1944 verurteilte ihn das Reichskriegsgericht “wegen Kriegsverrats und verbotenem Umgang mit Kriegsgefangenen” zum Tode. Die Kriegsrichter befanden, der Soldat habe aus einer staatsfeindlichen Gesinnung heraus den Widerstandswillen der Kriegsgefangenen gestärkt und bei ihnen Hoffnungen auf einen Sieg der Alliierten geweckt. Pogede wurde am 11. August 1944 im Zuchthaus Halle mit dem Fallbeil hingerichtet.Feldurteil des Reichskriegsgerichts vom 14.7.1944 gegen den Obergefreiten Adolf Hermann Pogede. In: Wette/Vogel, Das letzte Tabu, S. Teil E, Dok. 8, S. 183 ff. Wegen eines reinen Gesinnungsdelikts wurde auch der Stabsgefreite Josef Salz verfolgt. Bei ihm entdeckte man ein selbst geschriebenes Tagebuch, “in dem er sich”, wie es im Urteil heißt, “als Freund der Juden und Bolschewisten ausgab und das deutsche Volk, seine Führung und Wehrmacht in übler Weise schmähte und verleumdete”. Dadurch, so wurde ihm vorgehalten, habe er “seine Kampfbereitschaft geschwächt und es gleichzeitig unternommen, dem Feind billiges Propagandamaterial in die Hände zu spielen”. Salz hatte jedoch gar keine Verbindungen zum Feind. Daher konstruierte das Gericht die Möglichkeit, dass er damit gerechnet habe, “in die Gefangenschaft der Bolschewisten zu geraten”. Weil er von diesen nicht erschossen werden wollte, habe er das Tagebuch geführt.Der Stellvertretende General des II. Armeekorps und Befehlshaber im Wehrkreis II, General d. Inf. Hoernlein: Korps-Verordnungsblatt vom 14.2.1945, Nr. 7. Darin also bestand das todeswürdige Verbrechen dieses Stabsgefreiten: Regimekritische Gedanken niedergeschrieben zu haben, die aus seiner Sicht niemals an die Öffentlichkeit gelangen sollten. Salz wurde am 8. Februar 1944 in Stettin - wohl von einem Feldkriegsgericht - wegen Kriegsverrats zum Tode verurteilt und noch am selben Tage erschossen. General der Infanterie Hoernlein, seines Zeichens Stellvertretender Kommandierender General des II. Armeekorps, gab wenige Tage später die Gründe für das Todesurteil im Korps-Verordnungsblatt allen Soldaten seines Befehlsbereichs bekannt. Er nutzte die Bekanntgabe zu der Warnung: “So ergeht es jedem, der dem Führer die Treue bricht! Wer durch Feigheit sein Leben erhalten will, stirbt den Verbrechertod!”Siehe Wette/Vogel, Das letzte Tabu, S. 93 f. Auch der Versuch, Juden vor der Verfolgung und Ermordung zu retten, konnte zu einer Todesstrafe wegen Kriegsverrats führen. Ein - namentlich nicht bekannter - deutscher Soldat machte am 3. Mai 1944 in Ungarn den Versuch, 13 Juden zu retten, indem er sie mit einem Wehrmacht-Lastkraftwagen nach Rumänien zu transportieren versuchte. Bei einer Grenzkontrolle wurden die zwischen Fässern versteckten Juden entdeckt. Der Soldat kam wegen versuchten “Judenschmuggels”, wie es in dem entsprechenden Wehrmacht-Dokument heißt, vor ein Kriegsgericht und wurde am 9. Mai 1944 wegen Kriegsverrats zum Tode und zum Verlust der Wehrwürdigkeit verurteilt. Der Oberbefehlshaber des Heeres ordnete die Vollstreckung an. Auch dieses Todesurteil wurde zum Zwecke der Abschreckung öffentlich gemacht. Der “Deutsche General” in Rumänien befahl, das Urteil und die Vollstreckungsanordnung allen Wehrmachtsangehörigen seines Befehlsbereichs sofort bekannt zu machen.Sonderbefehl des Deutschen Generals beim Oberkommando der deutschen Wehrmacht [in Rumänien] betreffend “Judenschmuggel” vom 17.6.1944. In: Wette/Vogel, Das letzte Tabu, Teil E, Dok. 15, S. 241 ff. Anders als in Deutschland, bildeten sich in Österreich - zumal in der zweiten Kriegshälfte - mehrere bewaffnete Widerstandsgruppen, der auch desertierte Wehrmachtsoldaten angehörten. Bei der “Österreichischen Freiheitsfront (ÖFF)” handelte es sich um eine kommunistische Widerstandsorganisation, die in mehreren Regionen Österreichs präsent war und deren Aktivitäten schwerpunktmäßig in der Steiermark lagen. Das politische Ziel dieser im Herbst 1943 gegründeten Organisation war “ein freies unabhängiges demokratisches Österreich”. Daher setzte sie sich für den gewaltsamen Sturz der NS-Herrschaft und für die Lostrennung der Alpen- und Donauregion vom Deutschen Reich ein.Feldurteil des Reichskriegsgerichts vom 5.3.1945 gegen Franz Haslinger, Johann Fürst und Rupert Heindler. In: Wette/Vogel, Das letzte Tabu, Teil E, Dok. Nr. 35, S. 380 ff. Die ÖFF sammelte NS-Gegner in ihren Reihen, beschaffte Waffen, verbreitete illegale Flugblätter und versuchte auch innerhalb der Wehrmacht eine Widerstandsorganisation aufzuziehen. Folgt man dem Text der Kriegsgerichtsurteile, so bekommt man den Eindruck, es habe sich um eine Raub- und Mörderbande gehandelt, die Österreich der Sowjetherrschaft ausliefern wollte. Tatsächlich verfolgten die Widerstandskämpfer jedoch den Plan, beim - vom Süden her erwarteten - Vormarsch der britischen Armee mit dieser zusammen zu arbeiten. In der zweiten Jahreshälfte 1944 wurde die Widerstandsgruppe der Soldaten Haslinger, Fürst und Heindler von einem Verhafteten denunziert und danach völlig zerschlagen. Die drei Genannten kamen vor das Reichskriegsgericht. Obwohl diese Widerstandskämpfer weder über Verbindungen zu sowjetischen noch zu britischen Truppen verfügten, konstruierte das Reichskriegsgericht einen Fall von Kriegsverrat. Die beklagten “Bandenmitglieder” hätten mit Gewalt gegen die deutsche Ordnungsmacht gekämpft, und diese Handlungen hätten “eine unmittelbare Hilfeleistung für die Feindmächte und eine Schädigung der deutschen Kriegsmacht” dargestellt. Damit hätten sie Kriegsverrat begangen. Alle drei Soldaten wurden mit dem Tode bestraft. Der einzige General der Wehrmacht, der wegen Kriegsverrats zum Tode verurteilt wurde, war der widerständige General Walther von Seydlitz-Kurzbach. Er geriet nach der vernichtenden Niederlage der 6. deutschen Armee in der Schlacht von Stalingrad im Januar 1943 in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Dort trat er dem Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) und dem Bund Deutscher Offiziere (BDO) bei und übernahm in beiden Organisationen Führungspositionen.Vgl. Bodo Scheurig (Hrsg.): Verrat hinter Stacheldraht? Das Nationalkomitee “Freies Deutschland” und der Bund Deutscher Offiziere in der Sowjetunion 1943-1945. München 1965; sowie Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Das Nationalkomitee “Freies Deutschland” und der Bund Deutscher Offiziere. Frankfurt/M. 1995. In der Folgezeit arbeitete er mit der Gewahrsamsmacht Sowjetunion zusammen. Unter anderem rief er die im Osten kämpfenden Wehrmachttruppen in Flugblättern dazu auf, sich auf die Reichsgrenzen zurückzuziehen, sich gegen das Hitler-Regime zu erheben und eine Beendigung des Krieges zu erzwingen. Als Reaktion auf diese Frontpropaganda, welche die Moral der Wehrmacht im Osten aufweichen sollte, wurden gegen fast 300 Mitglieder von NKFD und BDO Strafermittlungsverfahren wegen “Verrat und Treuebruch” in Abwesenheit eingeleitet.Ueberschär, Deutschland, S. 145. Das Reichskriegsgericht verurteilte v. Seydlitz am 16. April 1944 in Abwesenheit wegen Hoch- und Kriegsverrats zum Tode.Die Akten des Prozesses gegen Seydlitz vor dem RKG wurden vor Kriegsende vernichtet. Wichtige Informationen enthält die Anklageschrift des Reichskriegsanwalts gegen Generalmajor Martin Lattmann, Otto Korfes und Alexander Edler von Daniels, August 1944. In: Militärhistorisches Archiv Prag, RKG 39-13/18, K 51, S. 3. Siehe dazu auch Julia Warth: Verräter oder Widerstandskämpfer? Wehrmachtgeneral Walther von Seydlitz-Kurzbach. München 2006, S. 172 f. Andere Mitglieder des NKFD und des BDO wurden nicht verurteilt, obwohl auf sie dieselben Straftatbestände hätten Anwendung finden können. Vermutlich sollte das Seydlitz-Urteil symbolisch für alle NKFD- und BDO-Mitglieder gelten. Immerhin stellte der Oberreichskriegsanwalt im Reichskriegsgericht im August 1944 gegen weitere Generale, die im Verdacht standen, dem NKFD oder dem BDO anzugehören, Ermittlungen an mit dem Ziel, sie wie Seydlitz in Abwesenheit zu verurteilen. In der Anklageschrift heißt es, sie seien “hinreichend verdächtig, in der Sowjetunion in den Jahren 1943 und 1944 sich gemeinschaftlich fortgesetzt des Kriegsverrats schuldig gemacht zu haben”.Siehe Anklageschrift des Oberreichskriegsanwalts vom August 1944. In: Wette/Vogel, Das letzte Tabu, Teil E, Dok. 20, S. 269 ff. Das Verfahren wurde jedoch nicht weiter verfolgt. Nach dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944 (22. Juni bis 4. Juli)Siehe: Deutschland im zweiten Weltkrieg. Bd. 6: Die Zerschlagung des Hitlerfaschismus und die Befreiung des deutschen Volkes (Juni 1944 bis zum 8. Mai 1945). Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Wolfgang Schumann u. Olaf Groehler. Berlin (DDR) 1985, S. 31-52 und Karten “Die Zerschlagung der Heeresgruppe Mitte und die Befreiung Ostpolens”, S. 51, sowie zum “Verlauf der Kampfhandlungen an der deutschsowjetischen Front im Sommer/Herbst 1944”, S. 65. wurden mehrere Verfahren wegen Kriegsverrats gegen Generäle dieser Heeresgruppe eingeleitet, an erster Stelle gegen den Oberbefehlshaber, Generalfeldmarschall Ernst BuschKurzvita Ernst Busch in: Das Große Lexikon des Zweiten Weltkrieges. Hrsg. von Zentner/Bedürftig. München 1988, S. 108., der Ende Juni 1944 durch Generalfeldmarschall Walter Model ersetzt wurde, sowie gegen eine Anzahl von höheren Kommandeuren, die sich selbst in Sicherheit gebracht und gleichzeitig die ihnen anvertrauten Soldaten im Stich gelassen hatten, oder andere, die ihren Truppen angesichts der erdrückenden Übermacht der Roten Armee befohlen hatten, die Kampfhandlungen einzustellen. Es ist nicht zu erkennen, ob das RKG überhaupt ernstlich beabsichtigte, gegen diese Frontoffiziere vorzugehen. Tatsächlich kam es zu keinen weiteren Verfahren gegen sie, obwohl sie unter dem Verdacht des Kriegsverrats standen. Diese Zurückhaltung der NS-Justiz in der Verfolgung von Offizieren gibt Gelegenheit zu einer generellen Beobachtung: Die vielen - längst gut erforschten - landesverräterischen Auslandskontakte von Politikern, Diplomaten und Offizieren, die dem nationalkonservativen Widerstand angehörten, hätten eigentlich wegen Landes- und Kriegsverrats verfolgt werden müssen. Allerdings sahen sich die Mitglieder dieser Widerstandsgruppen aus den Reihen der alten Eliten selbst nicht als Verräter, sondern als deutsche Patrioten, die das Land vor Hitler und seiner Politik retten wollten. Der rückblickende Betrachter registriert mit einigem Erstaunen, dass die nationalkonservativen Oppositionellen seinerzeit durchweg unentdeckt blieben, von der Gestapo und der Justiz nur mit geringem Nachdruck oder gar nicht verfolgt wurden und daher auch nicht bestraft wurden. Erst nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wurden einige von ihnen verhaftet und dann auch zum Tode verurteilt und hingerichtet. Zuvor - also in den Jahren 1938 bis 1944 - kam es gegen keinen von ihnen zu einer Anklage und Verurteilung wegen Landes- oder Kriegsverrats. Es ist zu vermuten, dass der Verzicht auf die strafrechtliche Verfolgung dieser landesverräterischen Auslandskontakte auch etwas mit ihrer Zugehörigkeit zu den traditionellen, staatstragenden Machteliten zu tun hat. Im höheren Offizierskorps gehörte es zum guten Stil und zum viel beschworenen Korpsgeist, sich nicht gegenseitig “ans Messer” zu liefern. Die Militärjustiz betrachtete das Militärstrafgesetz als ein militärisches Führungsinstrument zur Disziplinierung der Untertanen in Uniform, nicht aber als ein Instrument zur Verfolgung regimekritischer Angehöriger der militärischen Führung, also von Angehörigen einer alten Elite. Ich komme zum Schluss: Unsere Forschungen haben ergeben, dass keineswegs alle 68 Soldaten, die wegen Kriegsverrats verurteilt wurden, im Sinne eines bewussten politischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus handelten. Aktiven Widerstand leisteten, so weit dies den Urteilen zu entnehmen ist - die Perspektive der Verurteilten kennen wir nicht -, wahrscheinlich 27 der wegen Kriegsverrats Verurteilten. Weitere 19, also ein knappes Drittel dieser Opfer der NS-Militärjustiz, verfolgten offenbar das Ziel, auf irgendeine Weise etwas zur Beendigung des Krieges beizutragen, was ebenfalls als ein widerständiges Verhalten betrachtet werden kann. Bei dem verbleibenden Drittel ist ein widerständiges Potential nicht ohne weiteres zu erkennen, was allerdings auch der für die Kriegsgerichtsurteile typischen Verfolgerperspektive geschuldet sein kann. Das heißt: Unter den wegen Kriegsverrats Verurteilten gab es durchaus den Typus des politisch weit blickenden und mutig entscheidenden Helden, der sich in den Dienst der Kriegsgegner Hitler Deutschlands stellte, um gegen das NS-System zu kämpfen und zu einer raschen Beendigung des Krieges beizutragen. Neben den Widerstandskämpfern bringt ein nicht geringer Teil der Kriegsgerichtsurteile jedoch auch unbotmäßige einfache Soldaten in unser Blickfeld, die den Krieg ablehnten, die sich gegen Vorgesetztenwillkür auflehnten, die entgegen den Befehlen anständig mit Kriegsgefangenen umgingen oder verfolgten Juden halfen. Diesen Soldaten war meist nicht einmal bekannt, was der Begriff Kriegsverrat überhaupt bedeutete und welche Strafe das Militärstrafrecht für ihn androhte.Als exemplarisch mag die Aussage des Sozialgerichtspräsidenten a.D. und ehemaligen Wehrmacht-Oberleutnants Heinz Drossel gelten, der vor 1939 Jura studiert hatte und während des Krieges mehrfach zur Verteidigung von Soldaten herangezogen wurde. Drossel zufolge kannten die allermeisten Wehrmachtsoldaten den Kriegsverrats-Paragraphen überhaupt nicht. Sie hätten allenfalls etwas vom Hoch- und Landesverrat gewusst. Gespräch d. Verf. mit H. Drossel am 13.9.2006. Vgl. auch die Kriegserinnerungen von Heinz Drossel: Die Zeit der Füchse. Lebenserinnerungen aus dunkler Zeit. 2. Aufl. Waldkirch 2001. Zu Kriegsverrätern wurden sie insoweit erst durch die NS-Militärjustiz gemacht. Geht man von den Quellen aus, also den erhalten gebliebenen Todesurteilen samt ihren Begründungen, so kommt man zu dem Ergebnis, dass die diversen Fälle von Kriegsverrat weniger durch das Profil der widerständigen Handlungen zusammen gehalten werden als vielmehr durch die Monotonie des Strafmaßes, nämlich der Todesstrafe. Damit treten einmal mehr die Militärrichter in unser Blickfeld, die völlig zu Recht als Angehörige einer “Blut- und Terrorjustiz” charakterisiert worden sind. Den historischen Quellen entsteigt also am Ende sowohl der Kriegsverräter mit dem Profil eines politisch überzeugten Widerstandskämpfers als auch der unangepasste Soldat, der aufgrund von Unbotmäßigkeiten das Opfer einer willkürlichen und grausamen Militärjustiz wurde. Überraschend ist insbesondere das Ergebnis, dass sich die vorliegenden Kriegsverrats-Urteile nur ganz vereinzelt auf landesverräterische Kontakte von Soldaten zu Feindmächten beziehen. Eine distanzierte und um Objektivität bemühte Betrachtungsweise wird zu der folgenden Einsicht gelangen: Eine “Lebensgefährdung für eine Vielzahl von Soldaten” ging nicht einmal von den - wohl am meisten verunglimpften - Mitgliedern der Widerstandsgruppe “Rote Kapelle” oder von den zu den Partisanen geflohenen Deserteuren aus. Auch die anderen Kriegsverrats-Urteile, die in dieser Dokumentation präsentiert werden, sind nicht geeignet, die Vermutung einer direkten Lebensgefährdung für andere Soldaten zu bestätigen.Vgl. den von uns dokumentierten Fall Franz Scheider. In: Wette/Vogel, Das letzte Tabu, Teil E, Dok. 30, S. 335 ff. Er wird auch dargestellt in der Wanderausstellung “‘Was damals Recht war…’” (siehe Anm. 2), Drehbuch, Fallgeschichten III.5, S. 123 ff.: Der Informationsaustausch von widerständigen deutschen Soldaten mit den griechischen Partisanen sollte dem “beiderseitigen Schutz dienen” (S. 123). Die meisten der verurteilten Kriegsverräter leisteten auf unterschiedliche Weise politischen Widerstand gegen das NS-Regime, andere halfen verfolgten Juden oder Kriegsgefangenen, wieder andere desertierten und liefen zu den Partisanen über. Selbst die einseitig von der Betrachtungsweise der NS-Militärrichter geprägten Quellen lassen erkennen, dass die meisten Fälle von “Kriegsverrat” politisch oder moralisch/ethisch motiviert waren. Wer Widerstand gegen das verbrecherische NS-Regime für legitim hält, darf die Kriegsverräter infolge dessen nicht von der Rehabilitierung ausnehmen.
Zur Person des Autors: Wolfram Wette, Prof. Dr. phil., geb. 1940, Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie, Promotion 1971 in München, Habilitation 1991 in Freiburg i. Br.; von 1971 bis 1995 Historiker im Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) in Freiburg i. Br.; seit 1998 apl. Professor für Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br.; Ehrenprofessor der russischen Universität Lipezk; Mitbegründer des Arbeitskreises Historische Friedensforschung (AHF); Mitherausgeber der Reihen “Geschichte und Frieden” und “Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung”; Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der “Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz”. Buchpublikationen zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges und der NS-Militärjustiz:
Wir bedanken uns bei Wolfram Wette für die freundliche Veröffentlichungsgenehmigung FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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