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Nicht im Mindesten

Nächstenliebe: Union und SPD erhalten die “arbeitende Armut”


Von Robert Kurz

Wenn die defensive Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn notwendig wird, ist das ein buchstäbliches Armutszeugnis für die herrschende Gesellschaftsordnung - Kampf um Mindeststandards kennzeichnete den Frühkapitalismus. Nach 150 Jahren sozialer und politischer Regulation haben die Krisenprozesse von Dritter Industrieller Revolution und Globalisierung Teile der Lohnabhängigen auf das Niveau des 19. Jahrhunderts zurückversetzt. Blamiert hat sich dabei jetzt schon die Gegenüberstellung eines angeblich sozialen “rheinischen” und eines neoliberalen “angelsächsischen” Kapitalismus. Tatsächlich ist die marktradikale Prekarisierung der Arbeit in Westeuropa nirgends so weit fortgeschritten wie hierzulande. Die BRD gehört zu den wenigen Industrieländern, die sich einem gesetzlichen Mindestlohn verweigern.

Allerdings kommt es darauf an, ob der in anderen EU-Staaten die Lebensbedürfnisse sichert. Während der Mindest-Stundenlohn in Spanien bei 3,99 Euro, in Polen bei umgerechnet 1,34 Euro und in Bulgarien bei gerade einmal 53 Cent liegt, beträgt er in Frankreich 8,27 Euro und in Luxemburg 9,08. In Großbritannien ist er mit umgerechnet 7,96 Euro doppelt so hoch wie in den USA mit 3,98. Auch wenn man die Unterschiede bei der jeweiligen Kaufkraft berücksichtigt, handelt es sich bei den Mindestlöhnen in den USA sowie in Süd- und Osteuropa bloß um die “Garantie” einer Elendsexistenz. Andererseits kann die Forderung des DGB nach einem gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro im Vergleich mit anderen westeuropäischen Staaten eher als zahm gelten. Die Behauptung des Münchner Ifo-Instituts, schon diese moderate Untergrenze würde mehr als eine Million Jobs gefährden, verweist nur auf den bereits überproportional hohen Anteil von “arbeitender Armut”.

In die zynische Abwehr der deutschen Funktionseliten gegen den gesetzlichen Mindestlohn mischt sich eine diffuse Angst, gerade weil dieses Land in der Kontinuität der Krisenverwaltung von Kohl-Administration, Rot-Grün und großer Koalition zur Speerspitze einer Deregulierung der Arbeitsmärkte in der EU geworden ist. Eine Trendumkehr durch einen allgemeinen Mindeststandard auf westeuropäischem Niveau müsste mit hohem Aufwand bereits verfestigte Hungerlohn-Strukturen aufbrechen. Das könnte eine Dynamik in Gang setzen, die zur Grundsatzfrage nach dem Warencharakter der Arbeitskraft führt. Die bedingungslose Unterwerfung dieser “Ware” unter das Marktgesetz von Angebot und Nachfrage bildet den Kern des parteiübergreifenden neoliberalen Programms, während Marx das “historische und moralische Element” von unhintergehbaren Lebensansprüchen betont hatte.

Es geht also längst nicht mehr um das Stückwerk von Branchentarifen, sondern um einen weitreichenden gesellschaftspolitischen Konflikt. Für zunehmend zwangs-flexibilisierte Lohnabhängige mit fragmentierten Erwerbsbiografien, die zwischen verschiedensten Zweigen der gesellschaftlichen Reproduktion pendeln, ist die Fixierung auf Branchenregelungen ohnehin organisatorisch obsolet. Der hohe Grad kapitalistischer Vergesellschaftung erzwingt einen entsprechenden Grad von Allgemeinheit in den sozialen Konflikten. Das gilt heute generell für den Krisenkapitalismus, nicht bloß beim Klimawandel oder der Kinderbetreuung, sondern auch hinsichtlich sozialer Mindeststandards. Jede Teilfrage wird sofort zur Grundsatzfrage, weil die herrschende Rationalität für nichts mehr garantieren kann.

Gerade deshalb darf der Kampf um eine flächendeckende Regelung nicht dem politischen Dienstweg überlassen bleiben. Die SPD kann von der Linkspartei vorgeführt werden, weil sie unter dem Zwang der Koalitionsvereinbarungen gegen ihre eigene Krokodilstränen-Kampagne für einen gesetzlichen Mindestlohn stimmen und am Montag in der Koalitionsrunde einem faulen Kompromiss in Gestalt von beschränkten Branchenregelungen zustimmen musste. Das könnte freilich auch der Linken selber passieren, wenn sie sich nach dem Muster ostdeutscher Koalitionen auf eine Regierungsteilhabe als Juniorpartner ausrichtet. Die staatliche Krisenverwaltung ist nicht der gute Onkel, der nur richtig beraten werden will, sondern der Gegner, dem ein wirkliches Zugeständnis gegen die hierzulande weit fortgeschrittene Logik vom reinen Warencharakter der Arbeitskraft abgerungen werden muss. Es ist dieses in der Debatte um den Mindestlohn verborgene “Marxsche Gespenst”, das die Funktionseliten unruhig werden lässt. Die institutionelle Barriere gegen eine gesetzliche Regelung im Sinne der Lebensansprüche ist daher schon so hoch, dass es wohl der Entfesselung einer realen außerparlamentarischen Eingriffsmacht bedarf, die über begrenzte traditionelle Streiks hinausgeht.

Quelle: Freitag   - Die Ost-West-Wochenzeitung 25 vom 22.06.2007. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Robert Kurz und des Verlags.

Veröffentlicht am

25. Juni 2007

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