Die Mai-Unruhen: Bruder, zur Sonne
Der junge Mann stellte sich auf die Kreuzung, stoppte die Fußgänger und winkte die Autos durch. Das war gut so, denn die Ampeln waren abgeschaltet oder ausgefallen. Doch dies war eine ungewöhnliche Pariser Mainacht. Die Autokolonne: Das waren schwarze Mannschaftswagen der CRS, der gefürchteten Bereitschaftspolizei. Die Fußgänger: Das waren Tausende Studenten, Zehntausende vielleicht, die gerade noch skandiert hatten: CRS = SS. Und der junge Mann zeigte alle Insignien der radikalen Studentengewerkschaft SNESup. Ein junger französischer Revolutionär als Verkehrspolizist - es sind doch sonst die Deutschen, die erst einmal Bahnsteigkarten lösen, bevor sie Bahnhöfe besetzen. Der Konvoi stoppte einige hundert Meter weiter. Die Bereitschaftspolizisten nahmen die Verfolgung der Demonstranten auf. Tränengasbomben platzten. 200 Meter weiter machten sich Demonstranten daran, eine Barrikade zu bauen. Und wir standen zwischen den Fronten. Wir hätten gar nicht dort sein sollen, wäre es nach den Wünschen unseres Verlegers gegangen. Walter Petersen, Verlagschef der SPD-Wochenzeitung Vorwärts, hatte um die Sicherheit des noch sehr neuen Verlagsgebäudes in Bad Godesberg gebangt. Gegen die Notstandsgesetze würde ja direkt vor der Haustür demonstriert werden. Falls die linken Staatsfeinde auf ihrem Zug nach Bonn den Bau stürmen wollten, war vorzusorgen. Mein Redakteurskollege Nils und ich - wir sollten uns bitte mit schwerem Metall ausrüsten, Regletten aus der Setzerei, und den Angriff abwehren. Gerade wir; denn wir hatten laut gesagt, dass wir mit demonstrieren wollten. Für einen parteitreuen Geschäftsführer eine unerträgliche Vorstellung, auch wenn er den Ruf zu den Regletten vielleicht nicht ganz ernst gemeint haben sollte. Wir aber machten uns lieber davon. Nach Paris. Frankreich hatte eine Revolution. Mindestens eine. Deshalb standen wir in jener 1968er "Nacht der Barrikaden" zwischen den Studenten und den Schwarzbehelmten im Niemandsland. Glücklicherweise gibt es in Paris Seitenstraßen. Auf einem kleinen Platz an unserem Fluchtweg harrten an die 100 Nordafrikaner aus, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Gendarmen passten auf, dass sie nicht von dieser Körperhaltung abwichen. Die ganz gewöhnliche Polizei hatte die Gelegenheit wahrgenommen, dunkelhaarige Ausländer zusammenzutreiben und zu bewachen. Nun standen sie da, ratlos, eingeschüchtert und im Ungewissen darüber, warum man sie festhielt und was ihnen demnächst in dieser Nacht widerfahren werde. Mit den Kundgebungen der jungen Leute aus den Universitäten hatten sie nichts zu tun. Im Vorort Nanterre hatte es im März und April begonnen, Studentinnen- und Studentenprotest gegen die Isolation in Wohnheimen, den Mangel an Freizeiteinrichtungen, gegen überholte Lehr-Inhalte und bald auch gegen die polizeiliche Überwachung, die zu polizeilicher Gewalt eskalierte. Es folgten Proteste gegen den Vietnamkrieg, Solidaritätsadressen an die Prager Reformkommunisten, an die demonstrierenden Kommilitonen "von Berlin bis Tokio". Die Bewegung war bald hochpolitisch. Und am 3. Mai besetzten die Studenten die Sorbonne, die Universität im Quartier Latin. Befreites Gebiet mitten in der französischen Hauptstadt, unter den Augen von Staatschef Charles de Gaulle. Die Staatsgewalt machte einen jungen Deutschen als Rädelsführer aus, Daniel Cohn-Bendit. Just an unserem Anreisetag verweigerte sie ihm die Wieder-Einreise. Er kam natürlich trotzdem. Doch eine solche Bewegung hat keine Rädelsführer. Sie ist spontan und einfallsreich. Kreative Geister widmeten dem deutsch-jüdischen Rebellen ein Chanson mit dem Kehrreim: "Nous sommes tous des juifs allemands" (Wir alle sind deutsche Juden), mit satirischen Anspielungen auf de Gaulles erlesene Beleidigungen der Studenten ("Bettscheißer, Diebsbanden, Gesindel"). Ein Lied im Dreivierteltakt der alten Musette-Walzer. Deutsche Kampflieder klingen energischer; die Pariser Studenten waren energisch. Die rund 80 Barrikaden im Quartier Latin wurden von ihnen aus Pflastersteinen, Eisengittern und brennenden Autos gebaut. Symbole der Revolution, ein Bürgerkrieg war es nicht. Die CRS taten in diesen Maitagen einiges, das sie in die Nähe jener anderen Schwarzhemden zu rücken schien. Über ihre Tränen- und anderen Kampfgase schwiegen sie sich aus; über ihre Bereitschaft, Schlagstöcke einzusetzen und Gefangene wider alle (Genfer) Konvention zu behandeln, berichteten viele, Studenten wie Arbeiter. Der Spiegel schrieb Wochen später: "Die CRS quälten Gefangene, schlugen sie auf Köpfe und Hände, vergewaltigten gefangene Studentinnen, sperrten im Gefängnis Beaujon bis zu 80 Gefangene in 15 Quadratmeter große Zellen." Das Stadtviertel um die Sorbonne, die medizinische Fakultät und das Odéon war tabu für die so genannten Ordnungskräfte. Es war eine Zone freier Rede, hier entstanden Schlagworte wie: "Seid Realisten, verlangt das Unmögliche." Hier verband sich spielerische Lust an den Worten mit radikaler politischer Debatte. Viele Wände waren mit Plakaten und Sprüchen vollgeklebt. Die studentische Revolution erfand ihre eigene Plakat-Ästhetik im befreiten Territorium. Die Fantasie an die Macht! Auch Boulogne-Billancourt war eine Art befreites Gebiet, wenigstens das Terrain, auf dem sich die Renault-Werke ausdehnten. Eine Zone der Ordnung - scheinbar. Denn es herrschte Generalstreik, es fuhr keine Metro und kein Bus, und die Tankstellen waren geschlossen. Wir waren privilegiert: Im Kofferraum hatte Nils einige Benzinkanister verstaut. Renault war eine Hochburg des Gewerkschaftsbundes CGT. Deren Chef Georges Séguy war hoher KP-Funktionär. Der sah auf Disziplin und besonders darauf, dass die Studenten hübsch draußen blieben. "Jetzt ist nicht die Stunde, um über die grundlegende Veränderung in der Gesellschaft zu quatschen", tönte er. Damit spielte er auf ein Flugblatt an, das einige Renault-Arbeiter verfasst hatten: "Wenn wir wollen, dass unsere Lohnerhöhungen und unsere Forderungen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen Erfolg haben, wenn wir nicht wollen, dass sie ständig bedroht sind, dann müssen wir jetzt für eine grundlegende Veränderung in der Gesellschaft kämpfen. Als Arbeiter sollten wir selbst danach streben, den Gang unserer Unternehmen zu kontrollieren. Unsere Forderungen sind denen der Studenten ähnlich." Unsinn, knurrte Séguy, übrigens habe seine Gewerkschaft Erfahrung genug und brauche keine verwöhnten Bürgersöhnchen als Führer. Auch unseren Besuch im Werk brauchte man nicht. Die Streikposten bei Renault waren misstrauisch. Wir rochen nach Barrikade. Der Dunst der Gase, mit denen die CRS freigiebig um sich schossen, hing tief in unseren Klamotten. Einige Anrufe unseres orts- und parteikundigen Kollegen, und wir waren trotzdem drin. Hier war die Revolution noch in Ordnung. Der Betrieb war besetzt, die Besetzung genau geregelt. Offizielles Tischtennisturnier, gesponsert von der Streikleitung. Schichtpläne für die Streikposten. Arbeitermacht. Wenn sie in die Hände der CGT gerät, ist kein Platz für Spontaneität. Der Bus-Fahrplan für An- und Abreise zur Massendemonstration war exakt berechnet. Und dann stand da am Seine-Ufer, nicht weit vom Louvre, völlig verzweifelt und den Tränen nahe ein Sechzehnjähriger. Hatte demonstriert, wie die CGT es gewollt hatte, und den Anschluss an die Kolonne seiner Kollegen verloren. Der Bus war pünktlich ohne ihn abgefahren; Organisation ist alles. Wir lieferten den jungen Arbeiter in Billancourt ab. Das unbedingte Vertrauen in seine Gewerkschaft hatte der junge Mann nicht verloren. "Ma faute", mein Fehler, beteuerte er und bedankte sich. Ihr seid solidarische Kollegen, brachte er heraus, und in diesem Augenblick glaubten wir zur neutralen Beobachtung verpflichteten Journalisten ihm das. CGT-Vorsitzender Séguy wurde ein paar Tage später aus der Halle gebuht. Ausgerechnet bei Renault. Die CGT hatte mit der Regierung unter Georges Pompidou einen Kompromiss ausgehandelt. Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns um 35 Prozent. Gegenleistung: Ende der Streiks und der Betriebsbesetzungen. Dieser Pakt, das "Grenelle-Abkommen", war zu wenig. Die "grundlegende Veränderung in der Gesellschaft" schien möglich. Die wenigen Vertreter der jüngeren, ursprünglich christlichen Gewerkschaft CFDT mokierten sich. Draußen suchten sie den Dialog mit der anderen, studentischen Bewegung. Die Macht liegt auf der Straße - und die kommunistische Gewerkschaft macht Tarifpolitik. Sehr sozialdemokratisch, um nicht zu sagen: deutsch eigentlich. Oder doch nicht? Die Partei hatte ein strategisches Ziel. De Gaulle sollte Präsident bleiben; er war Gegenspieler der USA, hatte mit einer straff geführten Nato nichts im Sinn, was bei den Genossen in Moskau auf freudiges Interesse stieß. Damit war klar, wer die Ordnung bewahrt. Waldeck Rochet, Parteichef seit 1964, war einige Wochen später stolz darauf, "dass es vor allem die ruhige und entschlossene Haltung der Kommunistischen Partei war, die ein blutiges Abenteuer in unserem Land verhinderte". Eine mörderische Auseinandersetzung wäre immerhin möglich gewesen. De Gaulle hatte mächtige, gut bewaffnete Verbündete. Nicht allein die CRS, nicht nur die Fremdenlegion. Auch die in Deutschland stationierten Truppen. Deren General, Jacques Massu, hatte sich einen einschlägigen Ruf zehn Jahre zuvor verdient, im Algerienkrieg. Jetzt war er in Baden-Baden stationiert. De Gaulle reiste hin. Viele glaubten, er sei geflohen. Im Quartier Latin hörte man wieder den zehn Jahre alten Schlachtruf der Linken und Liberalen vom Mai 1958: "La giraffe au zoo!" Die Giraffe de Gaulle ließ sich jedoch nicht in den Zoo oder sonstwo hin vertreiben. Im Gegenteil. Der Präsident versicherte sich der Unterstützung des einst rechts-putschistischen Generals und ließ gegen die Protestler in Paris marschieren. Und die KP hielt still; es würde ja irgendwann mal gewählt werden. Ein Dankschreiben der Generäle an die Ordnungsmacht Kommunistische Partei ist nicht überliefert. Ich hatte mir ausgemalt, eine Reportage über den Sieg der Arbeiter- und Bürgerbewegung gegen ein autokratisches Regime schreiben zu können. Und ich schrieb sie. Dann durfte ich alles neu formulieren, in aller Eile. De Gaulle und die Kommunistische Partei hatten mir die schöne Geschichte über zwei französische Revolutionen kaputt gemacht. Quelle: Frankfurter Rundschau vom 03.05.2008. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Karl Grobe. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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