30 Jahre “Frieden schaffen ohne Waffen”, 25 Jahre MenschenketteInterview mit Ulli Thiel
Lebenshaus: Ulli, Du hast im Juni 1978 das inzwischen weithin bekannte Motto "Frieden schaffen ohne Waffen" ins Leben gerufen. Wie stand es denn damals in den siebziger Jahren überhaupt um die Friedensbewegung? Ulli Thiel: Nach dem Ausklingen der Ostermärsche Ende der sechziger Jahre war es um die Friedensbewegung in der ersten Hälfte der siebziger Jahre recht still geworden. Die Hoffnungen der ehemaligen Friedensaktivisten waren wohl darauf gerichtet, dass die Regierenden der politischen Entspannung - "neue Ostpolitik" - nun auch die militärische folgen lassen würden. Bald war aber erkennbar, dass die Hoffnungen falsch waren und der Rüstungswettlauf stattdessen ungehemmt weiterging. Erneute größere Aktionen gegen das Wettrüsten fanden 1976/77 statt: Demonstrationen und Kundgebungen des Komitees für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit (KoFAZ) und die Abrüstungsstafetten der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG-VK). Auch im kirchlichen Bereich rückte das Thema Abrüstung jetzt stärker in den Mittelpunkt. Ende des Jahres 1977 gründete sich die ökumenische Initiative Ohne Rüstung Leben (ORL). Diejenigen, die sie unterstützen wollten, unterschrieben folgende Erklärung: "Ich bin bereit, ohne den Schutz militärischer Rüstung zu leben. Ich will in unserem Staat dafür eintreten, dass Frieden ohne Waffen politisch entwickelt wird." Die Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste (ASF) und die Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) stellten ihr jährlich stattfindendes Pfingstfestival 1978 erstmals unter ein Motto, das sich auf die Abrüstungsthematik konzentrierte: "Leben ohne Waffen - Frieden ist der Weg". Bei mir war ganz sicherlich eine sehr starke Identifikation mit den Inhalten und Zielvorstellungen des Festival-Themas vorhanden. Nur sprachlich wirkten sie mir umständlich. Mit den KoFAZ-Losungen jener Zeit konnte ich andererseits inhaltlich wenig anfangen. Sie waren mir zu sehr am negativen und statischen Friedensbegriff orientiert: "Stoppt das Wettrüsten" oder "Den Frieden sichern - das Wettrüsten beenden". Es konnte in einer Zeit des zigfachen Overkills nicht davon gesprochen werden, Frieden zu sichern, sondern es bedurfte erst einmal eines Prozesses, Frieden zu schaffen. Lebenshaus: Und wie ist es dann zu "Frieden schaffen ohne Waffen" gekommen? Ulli Thiel: Als im Spätsommer 1978 bei uns in Baden-Württemberg wieder einmal mehrere Termine der Bundeswehrausstellung "Unser Heer" anstanden, planten verschiedene Friedensgruppen Gegenaktionen, für die ein Motto gefunden werden musste. Auf der Rückfahrt vom Aktions-Vorbereitungstreffen im Juni fiel mir dann ein Motto ein, das sich sogar reimte, auch wenn es auf den ersten Blick etwas banal klang: "Frieden schaffen ohne Waffen". Beim nächsten Vorbereitungstreffen wurde dann für die neue Losung grünes Licht gegeben und "Frieden schaffen ohne Waffen" wurde zur Headline auf Plakaten und Flugblättern. Die Aktionen, die dann im August und September 1978 unter diesem Motto liefen, waren recht erfolgreich und fanden auch sehr gute Resonanz. Allein an der Abschlussaktion in Rastatt beteiligten sich etwa 500 Personen - für damalige Verhältnisse eine große Zahl. Das neue Motto fand in den darauf folgenden Monaten sehr schnell Verbreitung in der noch nicht so großen Friedensbewegung. Ende des Jahres beschloss der Bundesverband der DFG-VK, seine Abrüstungsaktivitäten im Jahr 1979 im Hinblick auf den Antikriegstag - 40. Jahrestag des Beginns des 2. Weltkrieges - unter der Losung "Frieden schaffen ohne Waffen" durchzuführen. Auch zahlreiche andere Organisationen griffen für Veranstaltungen darauf zurück. Lebenshaus: Gerne erinnere ich mich an diese Zeit zurück. Ich war im Frühjahr 1978 gerade Mitglied der DFG-VK geworden und mir persönlich gefiel die mit dem Slogan "Frieden schaffen ohne Waffen" verbundene Ausrichtung sehr gut. Damit hat die DFG-VK Baden-Württemberg sicherlich die Inhalte und die Aktionen großer Teile der deutschsprachigen Friedensbewegung mitgeprägt. Wie kam es dazu? Ulli Thiel: Dass es ausgerechnet im Südwesten zur Initiierung des "Frieden schaffen ohne Waffen" kam, war auch durch die damalige friedenspolitische Situation bedingt: der Landesverband der DFG-VK orientierte sich in den siebziger Jahren sehr stark an dem von der Friedensforschung geprägten Begriff des "positiven Frieden", nach dem die Abwesenheit von Krieg noch kein Friede ist - statt dessen gilt es, Frieden zu entwickeln, zu schaffen. Und nach Auffassung der baden-württembergischen DFG-VK konnte dies nur mit Mitteln erreicht werden, die mit dem Ziel übereinstimmen, also: Frieden schaffen ist nur ohne Waffen möglich. Lebenshaus: Wie ging es dann mit dem neuen Motto weiter? Als ich 1980 an einem Friedensfestival im niedersächsischen Beienrode teilnahm, war es offizielles Motto. Ulli Thiel: Vom 1. September bis 9. November 1979 fanden in Berlin Friedenswochen statt, welche die Aktion Sühnezeichen / Friedensdienste (ASF) gemeinsam mit rund vierzig Kirchengemeinden, Initiativen und Organisationen unter das Motto "Frieden schaffen ohne Waffen" gestellt hatte. Diese Berliner Friedenswochen waren der Auslöser dafür, dass man sich bei der ASF überlegte, wie die Rüstungsthematik noch stärker in die öffentliche Diskussion gebracht werden könnte. Die Idee der bundesweiten Friedenswoche wurde geboren. ASF und AGDF kamen auf mich zu und fragten, ob das Motto "Frieden schaffen ohne Waffen" für das nächste Festival in Beienrode und die beabsichtigten Friedenswochen im Herbst 1980 übernommen werden darf. Ich stimmte zu. Nachdem es nun sowohl für das Friedensfestival als auch die bundesweiten Friedenswochen verwendet wurde, gewann das Motto nun eine zentrale Bedeutung. Im Mittelpunkt des Pfingst-Festivals in Beienrode, das durch eine starke Aufbruchsstimmung geprägt war, stand so die Orientierung und Mobilisierung für die erste bundesweite Friedenswoche. Schnell waren erste Materialien für die Vorbereitung der Aktionswoche entstanden: ein Aktionshandbuch, Rundbriefe, Aufkleber, Plakate, Buttons. Zum Motto des Festivals und der Friedenswoche entstand sogar ein eigenes Lied, dessen Text aus der Feder des bekannten Lyrikers und Sühnezeichen-Aktivisten Volker von Törne stammt. Lebenshaus: Ja, wie viele andere war ich von dieser Aufbruchstimmung angesteckt. Und wie in vielen anderen Orten organisierten wir in meiner damaligen Heimatstadt Nürtingen eine Friedenswoche. Es tat gut, uns eingebunden zu wissen in ein Netz von Menschen und Gruppen, die gemeinsam "Frieden schaffen ohne Waffen" wollten. Ulli Thiel: Die Reaktion auf den Aufruf zur ersten bundesweiten Friedenswoche war überwältigend: statt der erwarteten dreißig Aktionen fanden im November 1980 in rund 350 Orten Friedenswochen statt, die sehr häufig von kirchlichen Friedensgruppen initiiert worden waren. Die Losung der Aktion war spätestens von diesem Zeitpunkt an nicht nur mehr in Insider-Kreisen, sondern auch in der bundesdeutschen Öffentlichkeit weitgehend bekannt geworden. In den folgenden Jahren wurde das Motto für die Friedenswochen beibehalten. Und die Resonanz auf die Aufrufe wuchs weiter: nach Schätzungen von ASF wurden im November 1981 bereits in über 3.000 Orten der Bundesrepublik Veranstaltungen zu den Friedenswochen durchgeführt. Auf Anregung von ASF und AGDF rief nun auch der Rat der Evangelischen Kirchen in Deutschland im gleichen Novemberzeitraum zu einer Friedensdekade auf. So wie das Motto der DDR-Friedensdekade "Schwerter zu Pflugscharen" Anfang der achtziger Jahre Eingang in die westdeutsche Friedensbewegung fand, wurde umgekehrt auch "Frieden schaffen ohne Waffen" von der unabhängigen DDR-Friedensbewegung sehr schnell übernommen. Bereits die erste Friedensdekade im November 1980, die von den ostdeutschen Landesjugendpfarrern zusammen mit dem Sekretariat des DDR-Kirchenbundes durchgeführt worden war, stand unter diesem Motto. So wurde es über die Grenzen der Blockkonfrontation hinaus zu einer Klammer für Aktionen der Basisgruppen und Kirchen in Ost und West. Lebenshaus: Nicht überall ist das neue Motto "Frieden schaffen ohne Waffen" aber auf Zustimmung gestoßen? Ulli Thiel: Von einigen Gruppierungen der Friedensbewegung wurde es sogar abgelehnt, denn sie orientierten sich eher am Begriff des "negativen Frieden" und bevorzugten statt dessen Slogans wie "Das Wettrüsten beenden!" oder "Zukunft sichern - Abrüsten!" Andererseits war das Motto bald so populär, dass sogar die Regierungschefs beider deutscher Staaten glaubten, "Frieden schaffen ohne Waffen" aufgreifen und verändern zu müssen. Kohl in seiner ersten Regierungserklärung 1982: "Frieden schaffen mit immer weniger Waffen" - Honecker: "Frieden schaffen gegen NATO-Waffen". In vielen Medien und später auch in (Schul-)Büchern wurde "Frieden schaffen ohne Waffen" zum Synonym für die große Friedensbewegung der achtziger Jahre. Inzwischen wird der noch immer aktuelle Slogan "Frieden schaffen ohne Waffen" von allen Teilen der Friedensbewegung uneingeschränkt befürwortet. Zu dieser Akzeptanz haben sicherlich auch die weltweiten Interventionen der Bundeswehr und anderer Armeen beigetragen. Durch dieses militärische Eingreifen konnte nirgendwo Frieden geschaffen werden - ganz im Gegenteil: Der Einsatz von Waffen hat bestehende Konflikte noch verschärft und den Frieden in immer weitere Ferne geraten lassen. - Die vielen Toten, die alltägliche Gewalt und die große Not in Afghanistan, im Irak und in anderen Besatzungsgebieten führen bei immer mehr Menschen zu der Überzeugung, dass man nur "ohne Waffen Frieden schaffen" kann. Lebenshaus: Lass´ uns noch auf eine Aktion zurückblicken, die im Herbst 1983 für riesengroße Schlagzeilen sorgte: Die über 100 Kilometer lange Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm. Und die Idee für dieses spektakuläre Ereignis stammt ebenfalls von Dir. Wie ist diese Idee entstanden? Ulli Thiel: Es war eigentlich einem Konflikt in der Friedensbewegung zu verdanken, dass es 1983 zu der neuen Aktionsform einer Menschenkette kam, mit der für Frieden und Abrüstung und gegen die atomare Bedrohung demonstriert werden sollte. Der Friedensbewegung in Süddeutschland wurde durch einen Beschluss einer bundesweiten Aktionskonferenz im April 1983 die Aufgabe gestellt, in ihrem Bereich eine der vier "Volksversammlungen für den Frieden" zu organisieren. Die anderen drei sollten in Bonn, Hamburg und Berlin sein. Wie die Aktion aussehen sollte, konnte jede Region selbst entscheiden. Im Süden wurden zwei Aktionsformen favorisiert: eine traditionelle Demo mit Großkundgebung in Stuttgart - oder eine gewaltfreie Blockade-Aktion in Neu-Ulm, wo die neuen Atomraketen stationiert werden sollten. Die zwei unterschiedlichen Gruppierungen der Friedensbewegung blockierten sich gegenseitig mit ihren jeweiligen Vorschlägen und konnten nicht zusammenfinden - so schien es wenigstens. Dem Landesverband Baden-Württemberg der Deutschen Friedensgesellschaft -Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) fiel in dieser Situation aufgrund seiner offenen Struktur und seines pluralistischen Charakters die wichtige Funktion eines Vermittlers zu. Er brachte den Vorschlag einer neuen Aktionsform ein: einer Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm, durch welche die beiden bisher vorgeschlagenen Aktionen verbunden werden sollten. Vor Beginn der Kettenbildung sollte blockiert werden und nach der Menschenkette sollten Großkundgebungen in Stuttgart und Neu-Ulm stattfinden. Lebenshaus: Bei der Aktionskonferenz der süddeutschen Friedensbewegung im Juni 1983 in Ulm, an der rund 1.000 Menschen teilnahmen, drohte am Ende des ersten Tages die Spaltung. Insbesondere dank Deiner Idee mit der Menschenkette und Deiner hervorragenden Leitung der Konferenz wurden dann am zweiten Tag die entsprechenden Beschlüsse gefasst. Gab es für Dich in der Folgezeit dann irgendwann mal Augenblicke, in denen Du an der Verwirklichung Deiner Idee gezweifelt hast? Ulli Thiel: Ja, sogar ganz stark! Das war etwa Ende August/Anfang September, als die Entscheidungs- und Arbeitsgremien der süddeutschen Friedensbewegung einen Konflikt um nicht abgesprochene Briefe an DDR-Stellen auszutragen hatten, der weite Teile der Mobilisierungsarbeit zum Stillstand brachte und das geschlossene Bündnis zu spalten drohte. Lebenshaus: Die Spaltung wurde zum Glück vermieden. Aber wie war das am Anfang, als der Vorschlag mit der Menschenkette von Vielen für nicht zu verwirklichen oder gar für verrückt erklärt wurde? Ulli Thiel: Anfangs stieß dieser Vorschlag nicht nur auf Zustimmung. Viele hatten Angst, dass man sich mit diesen insgesamt vier Aktionen an einem Tag zu viel aufladen würde und dass dies nicht zu bewältigen sei. Es bestanden auch große Zweifel, ob es gelingen würde, über eine Strecke von 108 km eine lückenlose Menschenkette zu bilden. Für viele Kritiker schien ein "Flop" damit vorprogrammiert zu sein, über den sich die politischen Gegner natürlich freuen würden. Als dann aber im Laufe der Zeit das Interesse der Medien und vieler Friedensbewegter - auch außerhalb Süddeutschlands! - an den süddeutschen Aktionen immer größer wurde, wichen auch die Ängste und Zweifel. Dass die lückenlose Bildung der Kette mit den ca. 400.000 Menschen am 22.10.1983 dann schließlich doch gelang, lag sicherlich auch mit daran, dass die vielen Aktiven der DFG-VK bei ihrer Arbeit im süddeutschen Aktionsbüro und bei der Moderation der Aktionskonferenzen von Anfang an auf eine verlässliche und professionelle Organisation und Planung dieser schwierigen Aktion bedacht waren. Viele andere Aktive ließen sich nach und nach vom Optimismus der DFG-VK-ler anstecken, die sich für ihre Arbeit den Leitsatz gewählt hatten: "Was gilt die Wette? - Wir schaffen die Kette!" Lebenshaus: Die Menschenkette war dann in der Tat ein riesengroßer Erfolg hinsichtlich der Teilnehmerzahl und der öffentlichen Aufmerksamkeit. Aber das mit dieser Aktion und unzähligen anderen Aktionen zu dieser Zeit verbundene Ziel, die Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen zu verhindern, konnte nicht erreicht werden. Ab November 1983 wurden in unserem Land diese neuen äußerst gefährlichen Waffen stationiert. Hast Du das als Niederlage empfunden? Wie bist du damit umgegangen? Ulli Thiel: Ja, ich empfand es zunächst als eine Niederlage, durch die bei mir auch eine große Enttäuschung und Wut aufkam, zumal die Raketenstationierung ja gegen den Willen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung durchgezogen wurde. Bundeskanzler Kohl verhöhnte uns auch noch mit den Worten: "Die demonstrieren - wir regieren!" - Dennoch: Im Gegensatz zu vielen anderen habe ich aber nicht resigniert. Der Widerstand gegen die Atomraketen ging ja weiter und einige Jahre später kam es ja zu deren Abzug und Verschrottung. Und dass die Friedensbewegung an diesem Erfolg und an der Überwindung der Ost-West-Konfrontation maßgeblich beteiligt war, ist unter anderem in Gorbatschows Lebenserinnerungen nachzulesen. Lebenshaus: Wie kommt es, dass Du Dich auch 25 Jahre später immer noch sehr stark in der Friedensbewegung engagierst? Woher nimmst Du die Kraft dafür? Ulli Thiel: Mein Engagement gegen Kriegsvorbereitung und Krieg hat seine Basis in meinem christlichen Glauben und der damit verbundenen humanen Orientierung. Für mich ist das Leben der höchste Wert, den es unbedingt zu schützen gilt. Glaubwürdig gegenüber anderen kann ich diese Haltung aber nur dann vertreten, wenn ich mich auch dafür einsetze, dass Menschen nicht zu Schaden kommen oder gar getötet werden. Und der Krieg ist nun mal das abscheulichste Verbrechen, durch das immer wieder unendlich viele Menschen auf grausamste Weise verstümmelt oder ermordet werden. Solange diese Geisel der Menschheit noch existiert, will ich - gemeinsam mit meiner Frau - dazu beitragen, dass wir der konkreten Utopie von einer Welt ohne Krieg ein Stück näher kommen.
Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
|