Der Tod in Paris und unsere SchuldVon Heiner Flassbeck Als am 11. September 2001 in New York Flugzeuge in das World Trade Center flogen und viele hunderte Menschen töteten, waren einige der jungen Männer, die vergangenen Freitag Tod und Schrecken in Paris verbreiteten, vermutlich noch Kinder. Sie sind, so viel kann man heute schon absehen, aufgewachsen unter sozialen und menschlichen Bedingungen, die sich die wenigsten von uns vorstellen können. Ihre ganze Jugend war einerseits begleitet von der Gefahr, als potentieller Terrorist aufzufallen, wenn man sich ein wenig zu viel in religiösen oder arabischen Zirkeln aufhält, und von der Erfahrung, dass der Westen ohne Rücksicht auf Verluste ganze Länder zusammenbombt und hunderttausende von Toten in Kauf nimmt, wenn es darum geht, "Sicherheit" für seine Bürger zu garantieren. Es gibt aber keine Sicherheit. Flugzeuge kann man sichern, auch öffentliche Gebäude oder Politiker. Für den Bürger aber gibt es keine Sicherheit. Wer das System treffen will, das in den Augen dieser jungen Leute so absolut zerstörerisch und lebensbedrohend wirkt, kann überall zuschlagen. Für sie ist gleich, wen es trifft, wenn es nur dieses System trifft. Sicherheit kann es daher nur geben, wenn wir zu begreifen beginnen, dass die zornigen jungen Männer ein Produkt unserer Welt sind. Sie sind nicht Fremde, die das Böse in sich tragen, sondern sind das Ergebnis unserer Fehleinschätzungen und unserer Kaltschnäuzigkeit, wenn es darum geht, zu Hause die potentiell Verdächtigen aufzuspüren und woanders mit Bomben und Drohnen für "Ordnung" zu sorgen. Es ist ein Klischee, aber es bewahrheitet sich immer wieder: Wird ein Terrorist getötet, treten an seine Stelle zehn neue. Wurde nicht mit klammheimlichen Stolz in fast allen Medien bis Freitag Vormittag berichtet, man habe wieder einen "Führer" des IS per Drohne, also ohne Gerichtsverhandlung, ohne Verteidigungsmöglichkeit und mit der großen Gefahr, sogar den Falschen zu treffen, "liquidiert"? Wie kann man sich darüber wundern, dass junge Menschen, die mit dem vorsätzlichen Töten anderer Menschen per Knopfdruck eines Regierungsbeamten aufgewachsen sind, ihrerseits glauben, man dürfe denjenigen, die das tagtäglich tun, auch Schaden zufügen, auch wenn es am Ende nur der berühmte Kollateralschaden in Form von vielen unschuldigen Menschen ist? Beim islamistischen Terror wie bei fast allen anderen Problemen folgt unsere Politik einfachen, ja primitiven Mustern, die nicht nur die Probleme nicht lösen, sondern ständig neue schaffen. Man muss es sich vorstellen, die EU hat tatsächlich vorige Woche geschafft, in aller Eile einen Europa-Afrika-Gipfel auf Malta abzuhalten, wo man den Afrikanern ein wenig Geld versprochen hat, wenn sie sich anstrengen, ihre Leute zu Hause zu behalten. Auch einen Syrien-Gipfel, der nach einer friedlichen Lösung suchen sollte, gab es plötzlich, nachdem man seit Jahren mit den verschiedensten militärischen Interventionen das Chaos und das Unglück in dem Land vergrößert hat. Von einer langfristigen wirtschaftspolitischen Strategie für Afrika war so wenig die Rede wie von einer neuen Friedensstrategie für Syrien und den gesamten Mittleren Osten. Man spürt förmlich, wie eine Krise nach der anderen die Politik immer wieder aus tiefem Schlaf aufweckt, so dass sie erst einmal unkontrolliert um sich schlägt. Auch jetzt sind die Scharfmacher schon wieder unterwegs. Noch mehr Gewalt werden sie predigen, "bis auch der letzte Terrorist eliminiert ist". Es gibt ihn aber nicht, den letzten Terroristen. Präsident Hollande hat schon am Freitag Abend die falschen Worte gefunden. Niemand hat einen Krieg erklärt und niemand will einen Krieg führen. In einem Krieg geht es um klar definierbare Gegner, deren Zahl begrenzt ist. Hier geht es um die Frage, ob unsere Gesellschaft so beschaffen ist, dass nicht immer wieder andere junge Leute glauben, Gewalt gegen den Staat und seine Bürger sei eine Lösung für ihre Probleme. Die richtige Antwort wäre gewesen, den Drohnenkrieg und die Bombardierung Syriens sofort einzustellen und all den jungen Menschen, die in Europa in Gefahr sind, in die terroristische Szene abzurutschen, ein ernsthaftes Gesprächsangebot zu machen. Der 11. September 2001 hat in vieler Hinsicht unsere Welt geändert. Vor allem anderen hat er auf die Frage, was der Staat tun kann und darf, um Gewalttaten abzuwenden, neue Antworten gebracht. Aber keine dieser Antworten war gut. Vom grenzenlosen Abhören über die grenzenlose Beobachtung von Menschen bis hin zu Folter und Freiheitsberaubung in Guantánamo und dem gesetzlosen Töten mit Drohnen, haben diese Antworten eine Demontage des Rechtsstaates mit sich gebracht, die man dreißig Jahre vorher für unmöglich gehalten hätte und die auch die Vorstellungen der seit damals aufgewachsenen jugendlichen Bürger mehr und mehr verrohen lässt. Doch die Politik in Deutschland, Frankreich und anderswo schaut systematisch weg, weil man befreundeten Staaten ja nicht den Vorwurf machen will, gegen rechtsstaatliche Prinzipien zu verstoßen. Doch genau das hätte man dauernd tun müssen, damit wenigstens nicht der Eindruck entsteht, es werde mit voller Absicht mit zweierlei Maß gemessen. Der Zweck darf die Mittel nicht heiligen. Dieses Prinzip muss für alle gelten und es muss vor allem für den Staat gelten. Viele Jugendliche, die in einer Welt aufwachsen, in der sich der Staat anmaßt, die Regeln massiv zu verletzen, deren Einhaltung er seinen Bürgern abverlangt, verlieren die Orientierung und sind anfällig dafür, auch ihren Zwecken alles unterzuordnen. Am schlimmsten sind diejenigen, die den Terrorismus mit den Flüchtlingskrise ganz schnell in irgend einer Form zusammenrühren. Man wird sie heute Abend in Dresden wieder in erheblicher Zahl sehen können. Dass die Flüchtlinge selbst vor dem Terror geflohen sind, wird ebenso vergessen wie die Tatsache, dass die Attentäter von Paris vermutlich ihr ganzes Leben in Europa verbracht und vielleicht genau deswegen frustriert und radikalisiert waren. Aber selbst wenn es einen gäbe, der erst vor kurzem gekommen ist, was bedeutete das? Auch zu uns werden viele traumatisierte Menschen kommen. Was aus ihnen wird, entscheiden wiederum in erster Linie wir, nämlich durch den täglichen Umgang mit ihnen. Das fängt mit ganz normalen Dingen an. Ich habe es erst gestern am Flughafen wieder erlebt, hunderte Passagiere laufen durch die Zollkontrolle, angehalten werden zwei jugendliche Männer mit schwarzen Haaren und einer dunklerer Hautfarbe und eine farbige Frau. Wer auch nur den Anschein erweckt, dass die Hautfarbe oder die Religion einen Menschen ausmachen, hat den ersten Schritt hin zu einer Diskriminierung getan, die immer wieder bei einigen der Diskriminierten zu heftigen Gegenreaktionen führen wird. Nur wenn wir allen Bürgern jeden Tag sagen, dass sie es sind, deren Verhalten und deren Politik über die Zukunft einer offenen und toleranten Gesellschaft entscheidet, dann gibt es eine Chance, den Hass zu überwinden. Quelle: flassbeck-economics.de - 16.11.2015. Veröffentlicht amArtikel ausdrucken |
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