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Dorothee Sölle: Einseitig für das Leben arbeiten!

Am 10. Oktober 1981 kamen 300.000 Menschen zur inzwischen legendären Demonstration gegen die atomare "Nachrüstung" auf die Bonner Hofgartenwiese. Sie protestierten gegen die von der NATO geplante Stationierung von "Pershing II"-Mittelstreckenraketen und "Cruise Missiles"-Marschflugkörpern und forderten ein atomwaffenfreies Europa und das Ende der Blockkonfrontation. Wir erinnern mit dem Redebeitrag von Dorothee Sölle an dieses wegweisende Ereignis vor 35 Jahren.

Einseitig für das Leben arbeiten!

Von Dorothee Sölle

Der Atomtod bedroht nicht nur die, die sich fürchten, sondern auch die, die glauben, mit dem Atomtod an der Hand sicherer zu sein. Aufrüstung tötet auch ohne Krieg. Wenn ein Fluss umkippt, so bedeutet das: die Giftmenge, die ein Lebenszusammenhang noch erträgt, wird zuviel, die Zerstörung nimmt überhand, die Fische sterben, die Pflanzen folgen ihnen, das Wasser stinkt. Wenn ein Fluss umkippt, ist es eigentlich kein Fluss mehr, sondern eine Müllkippe. Und wenn ein Land umkippt? Wenn die Schad- und Giftstoffe so überhand nehmen, dass das Leben erstickt wird, dass die Menschen an der Möglichkeit, hier zu leben, verzweifeln, wenn sie sich nach Auswanderung umsehen oder sich selbst kaputt machen, wenn sie wie Fische in der stinkenden Brühe herumtreiben? Wenn ein Fluss ökologisch verschmutzt ist, kippt er um. Wenn ein Land militärisch verschmutzt ist und sich zu Tode rüstet, dann kippt das Land um. Genau das erleben wir.

Stellt Euch vor, der Friede bräche aus. Nicht der Friede der Gewalttätigen, die die Megatonnen im voraus berechnen, nicht der Friede der steigenden Dividende für Rüstungsaktien, nicht der Friede der Berufsverbote für Menschen, die ein Verteidigungsrisiko darstellen (und das tun wir doch alle!), nicht der Friede, der die Armen verkommen lässt und in der Türkei für Folterungen sorgt. Ich meine nicht die Friedlosigkeit, die in unserem Land herrscht.

Stellt Euch vor, das Volk erklärt der Regierung den Frieden, was das ist: Frieden, und die Regierung versteht es endlich und erklärt es den Amerikanern. Wir verzichten auf Euren Schutz. Wir treten aus dem Bündnis aus. Wir wollen uns nicht von Euch zu Tode rüsten lassen. Die Hälfte des Geldes, das wir für die Vorbereitung des Holocaust ausgeben, werden wir für die Probleme in unserem Land brauchen, für Wohnraum und Gesundheit und Schulen, für all die Ausländer, die bei uns nichts lernen dürfen. Die andere Hälfte geben wir für friedliche Projekte in der Dritten Welt aus, die die Ursachen des Verhungerns bekämpfen. Der Waffenhandel wird ab sofort verboten, die damit befassten Firmen werden behandelt als das, was sie sind: Verbrecher.

Stellt Euch vor, der Frieden bräche aus. Wir im Herzen Europas wären wehrlos. Wir würden nicht mehr Krieg üben, Krieg lernen, Krieg spielen und Krieg mit unseren Steuern bezahlen. Wir stellten keinerlei Bedrohung für unsere Nachbarn dar. Niemand - nicht einmal das Neue Deutschland - könnte uns Aggressivität, Friedlosigkeit, Vorbereitung eines Angriffskrieges und Erstschlagwünsche unterstellen. Wir wären zum erstenmal in der Geschichte unseres Landes frei, nämlich frei vom Wunsch zu töten, zu vergelten oder vorsorglich zu töten. Wir hätten die Sklaverei, unter der die Menschheit bis heute lebt, abgeschafft. Die Kriegssklaverei und die Atomsklaverei. Und stellt Euch die wirkliche Freiheit vor: niemanden mehr zu bedrohen und zu übervorteilen, zu belügen und zu erpressen. Freiheit von dem Zwang, ein Verbrechen vorzubereiten, das in der bisherigen Geschichte der Menschheit noch nicht vorgekommen ist, die atomare Vernichtung allen Lebens. Frei werden von der Vorbereitung auf Mord und Selbstmord.

Stellt Euch vor, wir wären wehrlos. Wir lebten in einem friedlichen Lande. Würden wir überfallen werden? Wären wir ein Vakuum, das den aggressiven Feind magnetisch anzieht? Auf diese Frage kann niemand mit Sicherheit antworten. Ich halte es nicht für wahrscheinlich, dass die Sowjetunion ein solches Deutschland überfiele, aber da ist ein Restrisiko und eine Restangst, die wir niemandem wegreden können. Die Frage ist nur, ob dieses Risiko und diese Angst nicht beträchtlich kleiner sind als das, was wir jetzt eingehen. Ob die Vorbereitung auf den Erstschlag, mit dem wir den europäischen Teil der Sowjetunion in vier Minuten in ein Trümmer- und Leichenfeld verwandeln können, ob diese Vorbereitung nicht mehr Risiko und größere Gefahr für uns bedeutet, als der friedliche dritte Weg, den wir suchen.

Stellt Euch vor, der Friede bräche aus. Nicht der bewaffnete Gewaltfriede, sondern der gewaltfreie Friede, für den wir hier stehen und um dessentwillen wir keine Gewalt anwenden, weil die Mittel des Kampfes auch das Ziel des Kampfes verformen. Wir können nur gewaltfreie Methoden anwenden, um den Frieden, den wir meinen, vorzubereiten. Wir misstrauen der Regierung gerade darum, weil sie die gewaltsamste Methode der Weltgeschichte, die Massenvernichtung anwenden will, um den Frieden zu sichern. Ihre Methode: aufrüsten widerspricht ihrem Ziel: abrüsten. Ihre Methode: Gewalt, Atomgewalt widerspricht ihrem Wunsch: Sicherheit. Wir wollen die Ziele und die Methoden unseres Lebens zusammenhalten.

Stellt Euch vor, wir könnten der Regierung ganz klar machen, warum wir hierhergekommen sind. Wir könnten ihr unsere Vision mitteilen, unseren Traum. Wir könnten die verzweifelten Aufrüster daran erinnern, was sie wirklich wollen, und wir könnten die zynischen Aufrüster so entlarven, dass jeder Mensch sieht, was ihre Interessen sind. Was ist denn der Unterschied zwischen Ost und West? Es ist nicht der zwischen SS-20 und Pershing II, lasst Euch nicht für dumm verkaufen! Der reale Unterschied zwischen Ost und West, das sind wir, die Friedensbewegung, die Tatsache, dass im Osten aufgerüstet wird, ohne dass das Volk seine Stimme erheben kann.

Stellt Euch vor, der Geist der Wehrlosigkeit, der Verwundbarkeit käme deutlich zutage, so dass unser Traum wirklich wird: Befreiung aus der Sklaverei, Verbannung der Sklavenhändler, die größte historische Aufgabe der Menschen auf diesem Planeten am Ende des 20. Jahrhunderts. Vielleicht würden wir dabei etwas ärmer, ich glaube die meisten von uns würden diesen Preis bezahlen wollen. Vielleicht müssen wir für diesen Frieden, von dem wir träumen, noch etwas mehr tun, als nach Bonn zu fahren. Vielleicht müssen wir das Neinsagen üben, die großen und die vielen kleinen Verweigerungen, im Krankenhaus, in der Kaserne, im Betrieb, in der Schule. Wir haben eine ganz einseitige Auffassung, einseitig gegen die Massenvernichtungsmittel, die man so wenig Waffen nennen kann wie das Gas, das Hitler in Auschwitz verwenden ließ, eine "Waffe" war.

Quelle: Buch "Bonn 10.10.1981", Friedensdemonstration für Frieden und Entspannung in Europa, Reden, Fotos .., Lamuv-Verlag 1981.

Veröffentlicht am

09. Oktober 2016

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