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Die Menschenrechte sind in der Defensive wie schon lange nicht mehr

Über die negativen Folgen des Anti-Terror-Kampfs und den “erweiterten Sicherheitsbegriff” / Von Barbara Lochbihler

Sicherheit und Menschenrechte schließen sich nicht aus, sondern ergänzen und bedingen sich gegenseitig, urteilt Barbara Lochbihler. Doch im von den USA angeführten Kampf gegen den internationalen Terror bleiben vielfach Menschenrechte und die Sicherheit für viele Menschengruppen auf der Strecke. Wir dokumentieren einen Beitrag von Barbara Lochbihler, Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International, im Wortlaut.


“Mit dem Einsturz der Zwillingstürme hat sich Ihre Rolle erledigt.” So knapp und klar beschied ein ranghoher Regierungsbeamter eine Delegation von Amnesty International (AI) kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA. Der Beamte wird seine Offenheit bald bereut haben, doch kam seinen Worten prophetische Kraft zu: Dass alle Politik auf den international verbindlichen Menschenrechten zu gründen habe, war bis dahin Konsens zumindest in Rechtsstaaten und internationalen Organisationen.

Der Kampf gegen den “Terrorismus” hat diesen Konsens offen aufgekündigt. Sicherheitspolitik ist das Gebot der Stunde. Und viele, auch westliche, Regierungen betrachten und behandeln Menschenrechte als ein Hindernis für Sicherheit. Sie werden gesetzlich eingeschränkt, öffentlich relativiert, praktisch hintangesetzt. Wie die USA seit über einem Jahr die Gefangenen auf ihrer Basis Guantánamo behandeln, ist nur eines der eklatanteren Beispiele.

Die Koalition gegen den Terror hat sich Verbündete gesucht, denen internationales Recht noch nie viel bedeutete, und die das Stichwort “Anti-Terror-Kampf” dankbar aufnahmen, um interne Opposition nun legitimiert unterdrücken zu können. Eingangs des 21. Jahrhunderts sind die Menschenrechte in der Defensive wie schon lange nicht mehr.

Zweifelsohne ist Sicherheit ein zentrales und unbedingt schützenswertes Gut. Nur: Was ist Sicherheit? Und für wen gilt sie? Die Nato-Staaten propagieren neuerdings einen “erweiterten Sicherheitsbegriff”. Wer genau hinschaut, findet Altbekanntes. Nach wie vor wird Sicherheit vor allem militärisch-staatlich und ökonomisch-strategisch gefasst und mit solchen Mitteln angestrebt. Die anhaltenden Debatten um Irak belegen dies. Es geht nur um das Wann und Wie eines Krieges. Und das wochenlange Räsonieren darüber hat dem Krieg schon politische Normalität zuerkannt, bevor der erste Schuss gefallen ist.

Dieses Denken ist nicht nur falsch, es ist gefährlich. Sicherheit und Menschenrechte schließen sich nicht aus, sondern ergänzen und bedingen sich gegenseitig.

Ein Sicherheitsbegriff ist erst dann wahrhaft “erweitert”, wenn er sich als menschliche Sicherheit versteht. Das Konzept der menschlichen Sicherheit, wie es die UN seit 1994 entwickeln, beginnt im Alltag der Menschen. In einem Satz gesagt: Menschen sollen frei von Not und frei von Furcht leben können.

Diese Forderung stellt den Schutz der Menschenrechte und der Existenz des Einzelnen über die territoriale Integrität der Staaten. Sie schließt alle Menschen ein. Das Sicherheitskonzept des “Kriegs gegen den Terror” schließt viele Menschen von Sicherheit direkt aus, indem es sie als “Bedrohung”, als äußere oder innere “Feinde” definiert. Es schließt sie indirekt aus, da der Krieg gegen den Terror eine Unsummen verschlingende, entwicklungsfeindliche Rüstungsspirale weiter dreht. Der Anti-Terror-Krieg wird so zum Krieg gegen die Armen.

Wollen wir menschliche Sicherheit erreichen und sichern, so müssen wir Konflikten vorbeugen und dürfen kein Jota vom Schutz der Menschenrechte abweichen. Dies gilt grundsätzlich. Wir erwarten aber insbesondere von der Europäischen Union, dass sie ihre gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nicht nur dem Wort, sondern auch der Praxis nach an diesen Prinzipien ausrichtet. Nehmen wir den wichtigen “europäischen Partner” Russland: Die Bundesregierung muss mit all ihrem Gewicht darauf dringen, dass die russische Regierung die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen der letzten Jahre vollständig untersucht, die Ergebnisse veröffentlicht und die Verantwortlichen bestraft. Es ist falsch, zu glauben, hier gehe es nur um Tschetschenien. Menschenrechte werden überall in der Russischen Föderation beständig und schwer wiegend verletzt. Doch in Tschetschenien ist die Straflosigkeit für schwerste Menschenrechtsverletzungen endemisch. Schröder sollte Putin direkt auffordern, eine politische Lösung für den gewaltsamen Tschetschenien-Konflikt zu finden.

Vorbeugung ist der wirksamste Menschenrechtsschutz. Und deshalb kann nationale Souveränität nicht das höchste Maß einer Politik sein, die auf Menschenrechten gründet. Gerade wenn sie dem Einzelnen zugute kommen soll, muss Sicherheitspolitik nationalstaatliche Grenzen überwinden. Sie muss etwa zivile Interventionen zum Schutz von Menschenrechten erlauben. Das Völkerrecht hat solche Forderungen aufgenommen. Es mangelt vor allem an der Durchsetzung. Mit dem Internationalen Strafgerichtshof steht seit kurzem ein wirksames Instrument zur Verfügung. Es könnte dazu beitragen, dass wir zukünftig nicht erst Massenmorde wie in Ruanda und Bosnien brauchen, um den internationalen Menschenrechtsschutz zu verbessern. Um so ärgerlicher ist, dass die USA derzeit erhebliche Anstrengungen unternehmen, den Internationalen Strafgerichtshof auszuhebeln.

Menschenrechtspolitik ist nicht blind für die Spannung, die sich zwischen dem Menschenrechtsschutz und bestimmten politischen Konstellationen aufbaut. Sie wirkt in Bürgerkriegen wie im ehemaligen Jugoslawien, sie wirkt in zerfallenden Staaten wie in Teilen Afrikas. Menschenrechtsarbeit will Einfluss auf Friedens- und Sicherheitspolitik nehmen, aber weiter greifen als die zugespitzte Lösung einer militärischen Intervention. So liefert sie mit ihren Recherchen Grundlagen für Gerechtigkeit und Versöhnung. Sie hilft, Minderheiten wirksam zu schützen. Sie erinnert an völkerrechtliche (Selbst-)Verpflichtungen, die nicht zuletzt aus dem Leid vergangener Kriege erwachsen sind. Sie denkt und operiert von der Sicherheit des Einzelnen her. Ob militärische Einsätze berechtigt sind oder nicht, dazu nimmt Amnesty International grundsätzlich nicht Stellung. Denn Neutralität ist unabdingbar, um die Unabhängigkeit unserer Arbeit zu garantieren. Zudem bergen Militäreinsätze immer die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen in sich. Deshalb ist es unzulässig, wenn Regierungen - wie unlängst die der USA und Großbritanniens - AI-Berichte zu Menschenrechtsverletzungen in Irak dazu verwenden wollen, einen Krieg zu legitimieren.

Ein Irak-Krieg bedeutet, dass die Umsetzung der “erweiterten Sicherheit” die persönliche Unsicherheit von Millionen von Menschen in der Golfregion vervielfacht. Sollte es zum Krieg kommen, müssen deshalb alle Kriegsparteien den Schutz der irakischen Zivilbevölkerung an oberste Stelle setzen. So schreibt es das humanitäre Völkerrecht der Genfer Konventionen vor. Das gilt für Bombardierungen ebenso wie für mögliche Racheakte Saddam Husseins etwa an den Kurden oder den Schiiten im eigenen Land.

Beim Golf-Krieg 1991 kamen nach seriösen Schätzungen zwischen 27 000 und 56 000 irakische Zivilisten ums Leben. Die Nachbarstaaten sind aufgerufen, die Flüchtlinge zu schützen, die in hoher Zahl an die Grenzen drängen werden. Die internationale Staatengemeinschaft muss diese Nachbarstaaten finanziell und logistisch unterstützen und selbst Kontingente aufnehmen.

Nach vertraulichen Prognosen der UN muss mit fünf Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen gerechnet werden. Die Lebensbedingungen weiterer Millionen Iraker im Land werden sich dramatisch verschlimmern. Gründe genug, dass die Verantwortlichen sich beständig fragen und fragen lassen sollten, ob ein militärisches Vorgehen dem Schutz der Menschenrechte und der menschlichen Sicherheit besser dient als politische Mittel.

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 21.02.2003. Wir veröffentlichen diesen Text mit freundlicher Genehmigung der FR.

Veröffentlicht am

15. März 2003

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