Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Friede auf Erden - Eine Weihnachtspredigt von Martin Luther King

Obwohl Martin Luther Kings kritische Äußerungen zum Vietnamkrieg in das Jahr 1965 zurückreichen, nahm er bis zum Beginn des Jahres 1967 nicht an öffentlichen Aktionen der US-amerikanischen Friedensbewegung teil. Offensichtlich wollte er vermeiden, dass sich die Zahl der politischen Gegner der Bürgerrechtsbewegung vergrößerte. In den beiden letzten Jahren seines Lebens gab er diese taktische Rücksicht jedoch völlig auf. Sein unerschrockenes Engagement gegen den Vietnamkrieg machte ihn zur "Stimme derer, die keine Stimme haben", bei der amerikanischen Regierung aber zur "unerwünschten Person".

In seinen Predigten nahm King regelmäßig Stellung zum Vietnamkrieg. Die hier abgedruckte Predigt hielt er Weihnachten 1967 in der Ebenezer Baptist Church in Atlanta, an der er die 2. Pfarrstelle neben seinem Vater innehatte.

Auch heute, Jahrzehnte später, hat diese Predigt nichts von ihrer Aktualität verloren. Aus diesem Grunde veröffentlichen wir sie hier.

Friede auf Erden - Eine Weihnachtspredigt

Von Martin Luther King

Diese Weihnachtszeit findet uns als ein ziemlich ratloses Menschengeschlecht. Wir haben weder Frieden in uns noch Frieden um uns. Überall quälen lähmende Ängste die Menschen bei Tag und verfolgen sie bei Nacht. Unsere Welt ist krank an Krieg. Wohin wir uns immer wenden, sehen wir seine verhängnisvollen Möglichkeiten. Und doch, meine Freunde, kann die Weihnachtshoffnung auf Frieden und guten Willen unter allen Menschen nicht länger als eine Art frommer Traum von einigen Schwärmern abgetan werden. Wenn wir in dieser Welt nicht guten Willens gegen die Menschen sind, werden wir uns durch den Missbrauch unserer eigenen Werkzeuge und unserer eigenen Macht selbst vernichten. Klugheit aus Erfahrung sollte uns sagen, dass der Krieg etwas Überholtes ist. Es mag Zeiten gegeben haben, da der Krieg als ein negatives Gutes diente, indem er die Ausbreitung und das Wachstum einer bösen Macht verhinderte, aber die äußerst zerstörende Gewalt moderner Waffen schließt an sich schon die Möglichkeit aus, dass der Krieg heute noch als negatives Gutes dienen könnte. Wenn wir also voraussetzen, dass das Leben lebenswert ist, wenn wir voraussetzen, dass die Menschheit ein Recht darauf hat zu überleben, dann müssen wir eine Alternative zum Krieg finden - so lasst uns denn an diesem Morgen die Bedingungen für den Frieden erforschen. Lasst uns an diesem Morgen aufs neue über die Bedeutung jener Weihnachtshoffnung nachdenken: "Friede auf Erden den Menschen, die guten Willens sind." Und wenn wir diese Bedingungen erforschen, möchte ich vorschlagen, dass die modernen Menschen wirklich alle hingehen und die Bedeutung der Gewaltlosigkeit, ihrer Philosophie und ihrer Strategie studieren.

Wir haben die Bedeutung der Gewaltlosigkeit in unserem Kampf um Rassengerechtigkeit in den Vereinigten Staaten erprobt, nun aber ist für die Menschen die Zeit gekommen, die Gewaltlosigkeit in allen Bereichen menschlicher Konflikte zu erproben, und das bedeutet Gewaltlosigkeit auf internationaler Ebene. Zuerst möchte ich einmal sagen, dass unsere Zusammengehörigkeitsgefühle, wenn wir den Frieden auf Erden haben wollen, mehr ökumenisch als partikularistisch werden sollten. Sie müssen über unsere Rasse, unsere Sippe, unseren Stand und unser Vaterland hinausdringen, und das bedeutet, dass wir eine Weltperspektive entwickeln müssen. Kein einzelner kann allein leben; kein Land kann allein leben, und je länger wir es versuchen, desto mehr werden wir in dieser Welt Krieg haben. Jetzt ist das Gericht Gottes über uns, und wir müssen entweder lernen, als Brüder miteinander zu leben, oder wir werden alle zusammen als Narren zugrunde gehen.

Ja, als Nationen wie als einzelne hängen wir voneinander ab. Ich habe euch schon früher von unserem Besuch in Indien vor einigen Jahren erzählt. Es war ein großartiges Erlebnis, aber heute morgen will ich euch sagen, dass es dabei niederdrückende Momente gab. Wie kann jemand nicht niedergedrückt sein, wenn er mit eigenen Augen die Beweise dafür sieht, dass Millionen von Menschen hungrig schlafen gehen? Wie kann jemand nicht niedergedrückt sein, wenn er mit eigenen Augen Tausende von Menschen nachts auf den Gehsteigen schlafen sieht? Mehr als eine Million Menschen schläft jede Nacht auf den Gehsteigen von Bombay; mehr als eine halbe Million schläft jede Nacht auf den Gehsteigen von Kalkutta. Sie haben keine Häuser, in die sie gehen könnten. Sie haben keine Betten, in denen sie schlafen könnten. Als ich diese Verhältnisse sah, schrie etwas in mir: "Können wir in Amerika untätig daneben stehen und nicht davon betroffen sein?" Und es kam eine Antwort: "O nein!" Und ich begann darüber nachzudenken, dass wir gerade hier in unserem Land jeden Tag Millionen von Dollars ausgeben, um überschüssige Nahrungsmittel zu lagern; und ich sagte mir: "Ich weiß, wo wir diese Nahrungsmittel gebührenfrei lagern können - in den eingeschrumpften Mägen der Millionen von Kindern Gottes in Asien, Afrika, Lateinamerika und selbst in unserem eigenen Land."

Es läuft wirklich auf das hinaus: dass alles Leben miteinander in Wechselbeziehung steht. Wir sind alle in einem unentrinnbaren Netz der Gegenseitigkeit gefangen, in eine einzige Hülle des Schicksals gebunden. Was immer einen direkt betrifft, betrifft indirekt alle. Wir sind dafür geschaffen, zusammenzuleben, das liegt an der ineinandergreifenden Struktur der Wirklichkeit. Hast du dir je darüber Gedanken gemacht, dass du des Morgens nicht zur Arbeit gehen kannst, ohne vom größten Teil der Welt abhängig zu sein? Du stehst morgens auf und gehst ins Badezimmer und greifst nach dem Schwamm, und er wird dir von einem Inselbewohner aus dem Pazifik gereicht. Du greifst nach einem Stück Seife, und du empfängst sie aus den Händen eines Franzosen. Und dann gehst du in die Küche, um deinen Morgenkaffee zu trinken, und den schenkt dir ein Südamerikaner ein. Und vielleicht willst du Tee: den schenkt dir ein Chinese ein. Oder vielleicht hast du gern Kakao zum Frühstück, und den schenkt dir ein Westafrikaner ein. Und dann streckst du die Hand nach deinem Toast aus - und der kommt aus den Händen eines englischsprechenden Farmers, vom Bäcker nicht zu reden. Und ehe du am Morgen dein Frühstück fertig gegessen hast, bist du schon von mehr als der halben Welt abhängig gewesen. So ist unser Universum gefügt, das ist sein auf Wechselbeziehungen beruhendes Wesen. Wir werden keinen Frieden auf Erden haben, ehe wir nicht diese gegenseitige Abhängigkeit alles Seins begreifen.

Zum zweiten lasst mich nun sagen, dass, wenn wir den Frieden in der Welt haben sollen, Menschen und Völker gewaltlos dazu stehen müssen, dass Zwecke und Mittel übereinzustimmen haben. Eine der großen philosophischen Debatten der Geschichte ging um die ganze Frage von Zwecken und Mitteln. Und schon immer gab es Leute, die behaupteten, der Zweck heilige die Mittel, die Mittel seien wirklich nicht wichtig. Wichtig ist, zum Ziel zu gelangen, nicht wahr?

Wenn ihr also eine gerechte Gesellschaft zu entwickeln sucht, sagen sie, dann ist die Hauptsache, dass ihr das erreicht, und die Mittel sind gänzlich unwichtig; jedes Mittel ist recht, wenn es euch nur ans Ziel bringt - es können gewalttätige, es können unwahre Mittel sein; es dürfen sogar unrechte Mittel zu einem gerechten Zweck sein. Leute, die das behaupteten, gab es durch die ganze Geschichte hindurch. Aber wir werden niemals Frieden in der Welt haben, bevor die Menschen überall anerkennen, dass Mittel und Zwecke nicht voneinander zu trennen sind; denn die Mittel verkörpern das Ideal im Werden, das Ziel im Entstehen, und schließlich kann man gute Zwecke nicht durch böse Mittel erreichen, weil die Mittel den Samen und der Zweck den Baum darstellen.

Es ist sehr merkwürdig, dass alle großen militärischen Genies der Welt vom Frieden gesprochen haben. Die Eroberer der alten Zeit, die mordend hinter dem Frieden herjagten, Alexander, Julius Caesar, Karl der Große und Napoleon, waren sich alle darin gleich, dass sie eine friedliche Weltordnung suchten. Wenn ihr Mein Kampf genau genug lest, werdet ihr entdecken, dass Hitler behauptete, alles, was er in Deutschland tat, sei für den Frieden gewesen. Und die Führer der heutigen Welt sprechen redselig vom Frieden. Jedes Mal, wenn wir unsere Bomben in Nordvietnam fallen lassen, spricht Präsident Johnson redselig vom Frieden. Worum geht es? Sie sprechen vom Frieden als einem fernen Ziel, einem Zweck, dem wir nachjagen, aber eines Tages werden wir einsehen müssen, dass der Frieden nicht bloß ein fernes Ziel ist, das wir suchen, sondern dass er ein Mittel ist, durch das wir zu jenem Ziel gelangen. Wir müssen friedliche Zwecke mit friedlichen Mitteln verfolgen. All das will heißen, dass Mittel und Zwecke übereinstimmen müssen, weil das Ziel in den Mitteln bereits vor-vorhanden ist, und destruktive Mittel können keine konstruktiven Ziele herbeiführen.

Und nun lasst euch sagen, dass das nächste, um das wir uns bemühen müssen, wenn wir Frieden auf Erden für alle Menschen guten Willens haben wollen, die gewaltlose Übereinkunft über die Heiligkeit alles menschlichen Lebens ist. Jeder Mensch ist jemand, denn er ist ein Kind Gottes. Und wenn wir sagen "Du sollst nicht töten", sagen wir damit wirklich, dass das Menschenleben zu heilig ist, als dass es einem auf den Schlachtfeldern der Welt genommen werden dürfte. Der Mensch ist mehr als eine winzige Laune wirbelnder Elektronen oder ein Rauchfetzen von einem grenzenlosen schwelenden Feuer. Der Mensch ist ein Kind Gottes, nach seinem Bild erschaffen, und muss daher als solches geachtet werden. Bevor die Menschen überall das nicht einsehen, bevor die Völker überall das nicht einsehen, werden wir Kriege austragen. Eines Tages sollte uns jemand daran erinnern, dass, obwohl es politische und ideologische Unterschiede zwischen uns geben mag, die Vietnamesen unsere Brüder sind, die Russen unsere Brüder sind, die Chinesen unsere Brüder sind; und eines Tages müssen wir uns gemeinsam an den Tisch der Brüderlichkeit setzen. Aber in Christo gibt es weder Juden noch Heiden. In Christo gibt es weder Männer noch Frauen. In Christo gibt es weder Kommunisten noch Kapitalisten. In Christo gibt es weder irgendwie Gebundene noch Freie. Wir sind alle eins in Jesus Christus. Und wenn wir wahrhaft an die Heiligkeit der menschlichen Persönlichkeit glauben, dann werden wir keine Menschen ausbeuten, dann werden wir keine Menschen mit den eisernen Tritten der Unterdrückung zertrampeln, dann werden wir niemanden töten.

Es gibt im griechischen Neuen Testament drei Wörter für "Liebe"; das eine ist das Wort eros. Eros ist eine Art ästhetischer, romantischer Liebe. Plato redete in seinen Gesprächen viel davon, von der Sehnsucht der Seele nach dem Reich des Göttlichen. Und es ist etwas Schönes um eros, kann es immer sein, auch in seinen romanhaften Äußerungen. Einige der schönsten Liebesgeschichten der Welt handeln davon. Dann spricht die griechische Sprache von philia, was ein weiteres Wort für Liebe ist, und philia ist eine Art intimer Liebe zwischen befreundeten Menschen. Das ist die Art von Liebe, die man für Menschen empfindet, mit denen man gut auskommt; und die, welche man auf dieser Ebene liebt, liebt man, weil man wiedergeliebt wird. Dann hat die griechische Sprache noch ein Wort für Liebe, und das ist das Wort agape. Agape ist mehr als romantische Liebe, es ist mehr als Freundschaft. Agape ist verstehendes, schöpferisches, erlösendes Wohlwollen gegenüber allen Menschen. Agape ist überströmende Liebe, die nichts für sich selber will. Theologen würden sagen, es sei die Liebe Gottes, die im Menschenherzen wirke. Wenn man sich zur Liebe auf dieser Ebene erhebt, dann liebt man alle Menschen, nicht weil man sie gern hat, nicht weil ihre Art einem gefällt, sondern man liebt sie, weil Gott sie liebt.

Das ist es, was Jesus meinte, als er sagte: "Liebet eure Feinde." Und ich bin glücklich, dass er nicht sagte: "Habt eure Feinde gern", denn es gibt einige Leute, die gern zu haben mir recht schwer fiele. Gernhaben ist eine herzliche Gefühlsregung, und ich kann einen nicht gern haben, der mein Heim bombardiert. Ich kann einen nicht gern haben, der mich ausbeutet. Ich kann einen nicht gern haben, der mich mit Ungerechtigkeit zertrampelt. Ich kann sie nicht gern haben. Ich kann einen nicht gern haben, der mich tagein, tagaus umzubringen droht. Aber Jesus erinnert uns daran, dass Liebe mehr ist als Gernhaben. Liebe ist verstehendes, schöpferisches, erlösendes Wohlwollen gegenüber allen Menschen. Und ich glaube, an diesem Punkt stehen wir als Volk in unserem Kampf um Rassengerechtigkeit. Wir können niemals aufgeben. Wir müssen leidenschaftlich und unnachgiebig für die staatsbürgerliche Vollberechtigung arbeiten. Wir dürfen nie in unserer Entschlossenheit nachlassen, jeden Überrest von Rassentrennung und Diskriminierung in unserem Land zu beseitigen, aber wir sollen während des ganzen Vorgangs nie auf unser Vorrecht zu lieben verzichten. Ich habe zuviel Hass gesehen, als dass ich selber hassen möchte, und ich habe Hass in den Gesichtern zu vieler Sheriffs, zu vieler weißer Stadträte und zu vieler Ku-Klux-Klan-Leute im Süden gesehen, als dass ich selber hassen möchte; und jedes Mal, wenn ich ihn sehe, sage ich mir, Hass ist eine zu große Last, als dass man sie tragen könnte.

Irgendwie müssen wir imstande sein, vor unsere erbittertsten Gegner hinzutreten und zu sagen: "Wir werden eure Fähigkeit, uns Leid zuzufügen, durch unsere Fähigkeit, Leid zu ertragen, wettmachen. Wir werden eurer physischen Kraft mit Seelenkraft begegnen. Tut uns an, was ihr wollt, wir wollen euch trotzdem lieben. Wir können nicht mit gutem Gewissen euren ungerechten Gesetzen gehorchen und dem ungerechten System treu bleiben, denn Nichtzusammenarbeit mit dem Bösen ist genauso eine moralische Pflicht wie Zusammenarbeit mit dem Guten, also werft uns ins Gefängnis, und wir wollen euch trotzdem lieben. Bombardiert unsere Häuser und bedroht unsere Kinder, und wir wollen euch, so schwer es auch ist, trotzdem lieben. Schickt eure vermummten Gewaltverbrecher zu mitternächtlicher Stunde in unsere Gemeinden, schleppt uns hinaus in eine abgelegene Straße und lasst uns halb totgeschlagen liegen, und wir wollen euch trotzdem liehen. Schickt eure Propagandaagenten im Land herum und erweckt den Anschein, als wären wir kulturell und auch sonst nicht tauglich für die Integration, und wir wollen euch trotzdem lieben. Aber seid versichert, dass wir euch durch unsere Leidensfähigkeit aufreiben werden, und eines Tages werden wir unsere Freiheit erobern. Wir werden sie nicht nur für uns selbst erobern, wir werden so sehr an euer Herz und Gewissen appellieren, dass wir euch in dem Prozess gewinnen, und unser Sieg wird ein doppelter Sieg sein." Wenn Friede auf Erden sein soll, müssen wir an die grundlegende Moral des Alls glauben und daran, dass alles Sein von moralischen Grundlagen abhängt. Etwas muss uns das in Erinnerung rufen, wenn wir wiederum in der Weihnachtszeit stehen und gleichzeitig an die Osterzeit denken, da beides irgendwie Hand in Hand geht. Christus kam, um uns den Weg zu zeigen. Die Menschen lieben die Finsternis mehr als das Licht, und dort am Karfreitag am Kreuz war es noch dunkel, aber dann kam Ostern, und Ostern ist eine ewige Mahnung an die Tatsache, dass die Erde, auf der die Wahrheit unterdrückt wurde, sich wieder erheben wird. Ostern gibt Carlyle recht, wenn er sagt: "Keine Lüge kann ewig leben." Und so ist das unser Glaube, in dem wir fortfahren, auf Frieden zu hoffen: lasst uns dessen bewusst sein, dass wir bei diesem Vorgehen kosmische Gesellschaft haben.

Im Jahre 1963, an einem schwülen Augustnachmittag, standen wir in Washington D.C. und sprachen zum Volk über mancherlei. Gegen Ende jenes Nachmittags versuchte ich dem Volk von einem Traum zu erzählen, den ich gehabt hatte, und ich muss euch heute gestehen, dass ich, bald nachdem ich von dem Traum gesprochen hatte, zu sehen anfing, wie er sich in einen Alptraum verwandelte. Ich erinnere mich an das erste Mal, dass ich sah, wie der Traum sich in einen Alptraum verwandelte, nur ein paar Wochen nachdem ich davon gesprochen hatte. Es war damals, als vier schöne junge, harmlose, unschuldige schwarze Mädchen in einer Kirche in Birmingham/Alabama ermordet wurden. Ich sah, wie der Traum sich in einen Alptraum verwandelte, wenn ich durch die Schwarzenviertel des Landes ging und meine schwarzen Brüder und Schwestern auf einer einsamen Insel der Armut inmitten eines riesigen Ozeans materieller Prosperität zugrunde gehen sah und wie der Staat nichts tat, um das Armutsproblem der Schwarzen anzupacken. Ich sah, wie der Traum sich in einen Alptraum verwandelte, wenn ich zuschaute, wie meine schwarzen Brüder und Schwestern inmitten von Zorn und verständlicher Aufgebrachtheit, inmitten ihrer Verletztheit, inmitten ihrer Enttäuschung sich fehlgeleiteten Krawallen zuwandten, um zu versuchen, dieses Problem zu lösen. Ich sah, wie der Traum sich in einen Alptraum verwandelte, wenn ich zuschaute, wie der Krieg in Vietnam sich ausweitete, wie die so genannten militärischen Berater, 16.000 Mann stark, zu kämpfenden Soldaten wurden, bis es schließlich die mehr als 500.000 Amerikanerjungen waren, die heute auf asiatischem Boden kämpfen. Jawohl, ich bin selbst das Opfer aufgeschobener Träume und zerschlagener Hoffnungen, aber trotzdem sage ich jetzt zum Schluss, dass ich immer noch einen Traum habe, denn, wisst ihr, man kann im Leben nicht aufgeben. Wenn man die Hoffnung verliert, verliert man irgendwie die Vitalität, die das Leben in Bewegung hält, man verliert den Mut zu sein, die Eigenschaft, die einem hilft, trotz allem weiterzumachen. Und so habe ich heute noch immer einen Traum.

Ich träume davon, dass eines Tages die Menschen sich erheben und einsehen werden, dass sie geschaffen sind, um als Brüder miteinander zu leben. Ich träume auch an diesem Morgen noch davon, dass eines Tages jeder Schwarze in diesem Lande, jeder Farbige in der Welt auf Grund seines Charakters anstatt seiner Hautfarbe beurteilt werden und dass jeder Mensch die Würde und den Wert der menschlichen Persönlichkeit achten wird. Ich träume auch heute noch davon, dass eines Tages die untätigen Industrien von Appalachia wieder belebt und die leeren Mägen von Mississippi gefüllt sein werden und dass Brüderlichkeit mehr sein wird als ein paar Worte am Ende eines Gebets, vielmehr das vordringlichste Geschäft in der Agenda jedes Gesetzgebers. Ich träume auch heute noch davon, dass eines Tages das Recht offenbart werden wird wie Wasser, und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom. Ich träume auch heute noch davon, dass in all unseren Parlamentsgebäuden und Rathäusern Männer gewählt und dort einziehen werden, die Gerechtigkeit und Gnade üben und demütig sind vor ihrem Gott. Ich träume auch heute noch davon, dass eines Tages der Krieg ein Ende nehmen wird, dass die Männer ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen, dass kein Volk wider das andere ein Schwert aufheben und nicht mehr kriegen lernen wird. Ich träume auch heute noch davon, dass eines Tages das Lamm und der Löwe sich miteinander niederlegen werden und ein jeglicher unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen wird ohne Scheu. Ich träume auch heute noch davon, dass eines Tages alle Täler erhöht und alle Berge und Hügel erniedrigt werden, und was ungleich ist, eben, und was höckerig ist, schlicht, und dass die Herrlichkeit des Herrn offenbart werden und alles Fleisch miteinander es sehen wird. Ich träume noch immer davon, dass wir mit diesem Glauben imstande sein werden, den Rat der Hoffnungslosigkeit zu vertagen und neues Licht in die Dunkelkammern des Pessimismus zu bringen. Mit diesem Glauben wird es uns gelingen, den Tag schneller herbeizuführen, an dem Frieden auf Erden ist. Es wird ein ruhmvoller Tag sein, die Morgensterne werden miteinander, singen und alle Kinder Gottes vor Freude jauchzen.

Quellenvermerk: (c) Gütersloher Verlagshaus GmbH, Gütersloh. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieser Rede. Erstmals wurde diese Predigt 1968 in Kings letztes Buch: "Trumpet of Conscience (dtsch. Ausgabe: "Aufruf zum zivilen Ungehorsam") aufgenommen. Sie wurde unter dem Titel "Friede auf Erden" wieder veröffentlicht in: Martin Luther King: Schöpferischer Widerstand. Hrsg. Von Heinrich W. Grosse. 1. Aufl. der Taschenbuchausgabe. - Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Mohn. 1985.

Veröffentlicht am

25. Dezember 2010

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