Erster Todestag von Dorothee Sölle am 27. April 2004: “Als lebten wir in einer befreiten Welt… “Am 27. April 2003 starb Dorothee Sölle während einer Tagung in Bad Boll zum Thema "Gott und das Glück". Sie war die bekannteste zeitgenössische Theologin. Ihre Theologie entstand mitten in den politischen Auseinandersetzungen um Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Sie war in der Lage, die gesellschaftliche und politische Situation sehr nüchtern zu analysieren, voller Leidenschaft von ihren Visionen zu sprechen, von einer Welt mit menschlichem Antlitz und von einem Gott, der uns Menschen braucht. In zahlreichen Vorträgen und Büchern trat sie leidenschaftlich dafür ein, die Liebe zu Gott nicht von der Liebe zur Welt zu trennen, Gott unter den Leidenden zu suchen, Mystik und Widerstand als untrennbar zusammen zu denken. Dorothee Sölles streitbares, kämpferisches, unerschrockenes und mutiges gesellschaftspolitisches Wirken war geprägt von der tiefen Überzeugung, dass eine gleichberechtigte, solidarische Weltgemeinschaft möglich ist. Sie hat uns mit ihren vielen Texten ein reichhaltiges Vermächtnis hinterlassen. Anlässlich ihres ersten Todestages am 27. April 2004 erinnern wir an sie mit einem Kapitel aus ihrem Buch "Mystik und Widerstand": "Das Gefängnis, in dem wir eingeschlafen sind: Globalisierung plus Individualisierung".
Als lebten wir in einer befreiten Welt"Man sollte, soweit es nur irgend möglich ist, Theodor W. Adorno Das Gefängnis, in dem wir eingeschlafen sind: Globalisierung plus IndividualisierungIch knüpfe noch einmal an den Gedanken Rumis vom "Gefängnis" an, in dem der Mensch ohne Gottgedenken eingeschlafen ist, und versuche, unser Gefängnis der Ersten Welt am Ende des Jahrtausends zu beschreiben. Es scheint mir durch zwei Tendenzen bestimmt, die sich als "Globalisierung" und "Individualisierung" perfekt ergänzen. Wir leben seit 1989 in einer vereinheitlicht globalisierten Wirtschaftsordnung der Technokratie, die eine absolute Verfügung über Raum, Zeit und Schöpfung beansprucht und herstellt. Die Maschine, getrieben von dem Zwang, mehr zu produzieren, läuft, von technologischen Erfolgen unvorstellbaren Ausmaßes bestätigt. Sie ist auf ein "Mehr" an Schnelligkeit, Produktivität, Verbrauch und Gewinn für etwa zwanzig Prozent der Menschheit hin programmiert. Dieses Programm ist effektiver und gewalttätiger als alle historisch vergleichbaren Großreiche mit ihren babylonischen Türmen. Innerhalb der Großmaschine sind Menschen nicht nur, wie Marx es gesehen hat, "entfremdet" von dem, was sie werden könnten, sondern zugleich süchtig und abhängig wie nie zuvor. Eine der spirituellen Schwierigkeiten in unserer Lage ist der innere Zusammenhang von Globalisierung und Individualisierung. Je globaler die Weltwirtschaft sich organisiert, je desinteressierter sie sich allen sozialen oder ökologischen Eingebundenheiten gegenüber gibt, desto mehr benötigt sie als Ansprechpartner das Individuum ohne jede Beziehung, den homo oeconomicus, jenes geschäfts- und genussfähige Einzelwesen, das - von Gott ganz zu schweigen - auch an den Tretminen, sein Autohersteller produziert oder am Wasser das seine Enkelkinder benutzen werden, keine Interesse zeigt. Während der alte nationale Staat als die Instanz des Rechtes und des Schutzes der Schwächeren "verschlankt", abgebaut und entmachtet wird, wird das Individuum als das grenzenlos konsum- und verbrauchsfähige Lebewesen aufgebaut. Kaufen, Auswählen, Präsentieren und Genießen haben indessen längst ihre eigenen Formen religiöser Inszenierung, des "Kultmarketing", gefunden. Die Religion des Konsumismus braucht die älteren und schwächeren Gestalten des Opiums des Volkes nicht mehr. Es gibt überall bessere Opiate zu kaufen. Innerhalb dieser Großmaschine wohnend, empfinde ich das Neue Testament und viele andere Stücke religiöser Menschheitstradition nicht als mythologisch verschlüsselt, sondern geradezu als aufklärend und erhellend. Das Neue Testament beschreibt die normale Befindlichkeit der Menschen unter dem römischen Imperium als ein Im-Tode-Sein. "Wir wissen, dass wir aus dem Tod ins Leben gekommen sind", heißt es im ersten Johannesbrief (1 Joh 3,14). Tod wird hier die Normalität der Unterwerfung unter die alles beherrschende Gewalt genannt. Entfremdung, Sünde und Sucht sind verschiedene Namen des sich als Leben verkleidenden spirituellen Todes, von dem wir "umfangen" sind. Im gleichen Sinn spricht Paulus davon, dass wir "Feinde Gottes" waren (Röm 5,10). Auch dieser Ausdruck enthält nichts, was wir als mythologische Projektion zurückweisen müssten. Die religiöse Tradition hilft vielmehr, unsere Rolle an der Spitze der Weltgesellschaft richtig zu benennen: Wir sind Feinde der Erde, Feinde von mehr als zwei Dritteln aller Menschen, Feind dem Himmel über uns und Feindin auch uns selber. Hildegard von Bingen spricht über den "Gestank" des Todes, der über unserer Erde liege. Wer sich ihm subjektiv entziehen zu können glaubt, hat sich schon mit der Großmaschine arrangiert. Er oder sie benutzt sie bewusstlos, profitiert von ihren "guten Seiten" und erfährt dabei den gestreckten Tod, den die Maschine für die Seele eingeplant hat. Dieses Zusammenspiel von Weltherrschaft der Konzerne in der Globalisierung und einer neuartig inszenierten Individualisierung ohne Rest, ohne Bindung an die Geschwistergeschöpfe, erscheint hoffnungslos, ein Weiterrasen auf den apokalyptischen Untergang hin, und wird von vielen Nachdenklichen als unaufhaltsames Fatum angenommen. Können wir denn noch so leben, "wie man in einer befreiten Welt glaubt, leben zu sollen"? Das hieße doch zu insistieren auf einer anderen Vision vom gemeinsamen Leben, aus der das Widerstehen sich speist. Sind solche Visionen nicht längst aufgekauft und zu einer unschädlichen Privatangelegenheit gemacht? Gibt es überhaupt noch Formen des Widerstands, lohnt es sich noch zu protestieren oder den zivilen Ungehorsam in neuen Formen einzuüben und zu praktizieren? Und ist nicht gerade die Spiritualität der Mystik, aus der Widerstand wachsen könnte, längst Teil des Marktes geworden, vor dem sie zu schützen versprach? Ich kämpfe mit meiner eigenen Weltangst und dem Gefühl, dass die Religion in einen geistlosen Materialismus hinein stirbt. Es ist kein Zufall, dass ich Hilfe suche gerade bei denen, die "die dunkle Nacht" der Geschichte und der Gottesfinsternis kannten. Wenn wir nur "die Herren dieser Welt" anstarren und die Masse der unschädlich gemachten Einzelnen, dann sehen wir noch nicht mit den Augen des anderen Blickes. Die Weltangst umfängt uns dann und sperrt uns in das besteingerichtete Gefängnis, das es je gab. Das Neue Testament bietet eine andere Perspektive. Sein soziologisches Modell sind weder die Massen noch die einzelne Seele, sondern die Gruppen, die sich gemeinsam auf einen neuen Weg machen. Innerhalb der Geschichte christlicher Mystik beriefen sich die aufrührerisch-mystischen Bewegungen immer wieder auf die Urgemeinde und ihre Lage im antiken Imperium. Sie sprachen damit eine Zeit an, in der nicht eine geordnete patriarchale Hierarchie entschied, was Gottes und was des Kaisers sei, sondern die Gruppen selber sich auf Gottes Recht gegen das des Kaisers beriefen. Ihr Verständnis von Religion war nicht das - in Rom wie in Washington als harmlos geltende - Praktizieren religiöser Rituale. Die liberale neuzeitliche Vorstellung, dass Religion Privatsache sei, ist ahnungslos gegenüber der mystischen Glut, die andere Verwirklichung, andere Lebensrealität immer gebraucht und gesucht hat. Die Urgemeinde verweigerte sich bestimmten gesellschaftlichen Angeboten und Zwängen des Imperiums. Sie vermied Besuche von Theatern, öffentlichen Bädern oder Zirkusvorführungen. Christen versuchten das - wegen der Abschreckung erwünschte - Zuschauen bei der öffentlichen Vollstreckung von Todesurteilen zu vermeiden. Alle Veranstaltungen, die mit Militär, Eidesleistung oder Weihrauch für den Kaiser verbunden waren, hielten sie für Teufelszeug. So vermieden sie das, was in der römischen Kultur als circenses galt, unterhaltsame Spiele zur Ablenkung der Massen von den realen Problemen. Abstinenz, Distanz, Dissens, Widerspruch und Widerstand gingen in ihrer Minderheitskultur ineinander über. Genau an diesen Formen des Nein zur herrschenden Kultur orientierten sich auch die späteren Dissidenten. Ernst Troeltsch hat sie in einen Gegensatz zum Typus "Kirche" oder dem Typus "Sekte" gebracht. In seinem Verständnis der sozialreformerischen Gruppen ging es um eine soziologische Einbettung der Mystik; er sah in diesem dritten möglichen Typus der "Gruppe" den radikalreformatorischen Protestantismus mit den mystischen Strömungen zusammen (vgl. McGinn, 1994, 389 f.). Vorausgesetzt ist in diesem Denken, dass Mystik auch dort, wo sie sich extrem individualistisch gibt, der Gemeinschaft fähig macht. Sie muss und will heraus aus der Privatisierung der Freude, des Glücks, des Einsseins mit Gott. Der Tanz der Gottesliebe kann nicht allein getanzt werden. Er bringt Menschen zusammen. Die Gemeinschaftlichkeit Gottes, von der Ruysbroeck spricht, bringt Menschen heraus aus der als harmlos angesehenen "rein religiösen" Betätigung. Das Verständnis von menschlicher Würde, von Freiheit, von Gottfähigkeit oder von den Funken lässt sich nicht auf einen religiösen Spezialraum einschränken, in dem es erlaubt ist, der Gottheit zu dienen oder sie zu genießen, nicht aber, sie mit den achtzig Prozent der Überflüssigen zu teilen. Die Hoffnungsträger im Szenario der "global players" auf der einen und der isoliert-amüsierten Individuen auf der andern Seite sind Gruppen, die auf Freiwilligkeit, Kritikfähigkeit und eigene Initiative setzen. Diese Nichtregierungsorganisationen, zu denen ich auch die lebendigen Teile der christlichen Kirchen rechne, sind politisch gesprochen die Trägerinnen von Widerstand. Spirituell gesprochen verkörpern sie ein anderes Subjekt als das im Gefängnis des Konsumismus eingeschlafene. Was trägt sie? Was hält sie wach? Warum geben sie nicht auf? Ich denke, es sind Elemente von Mystik, die sich nicht auslöschen lassen. Gott ist das Nichts, das alles werden will, sagt Jacob Böhme. Meine Angst sagt mir, dass sich dieses Nichts in der globalisierten Welt immer weniger wahrnehmen lässt, sein Glanz ist immer versteckter, das stille Geschrei wird immer mehr übertönt. Aber das Nichts, das alles werden will, produziert seine eigene Unbeirrbarkeit, ja seinen eigenen mystischen Trotz. Böhme denkt das Göttliche als eine Bewegung, etwas Fließendes, Wachsendes, Treibendes, als einen Prozess. Wenn wir den Prozess mitvollziehen, werden wir ein Teil der Gottesbewegung und verbunden mit allen anderen. Wenn wir an der Bewegung des Nichts teilhaben, so bedeutet das, dass auch wir mit unserm Nichts leben, uns unserm Nichts stellen oder, wie die Mystik es immer wieder gesagt hat, "zunichte werden". Ohne diese Entkleidung des Glaubens, der nackt und bloß wird, können wir nicht an dem Prozess teilnehmen. Ego, Besitz und Gewalt gehören in den Bereich wider-ständischer Entkleidung, wovon dieser dritte Teil des Buches handelt. Ichlos, besitzlos, gewaltlos zu werden, es sind die Namen des Nichts das auch unter uns Alles werden will. Vor unseren Augen entstehen widerständige Gruppen, oft winzig, manchmal ratlos, meist unorganisiert. Um diese neuen Hoffnungsträger auszumachen, zu verstehen und zu stärken, und sich vor der eigenen Weltangst zu schützen, ist es gut, das Element eines mystischen Trotzes in ihnen wahrzunehmen. Das vernetzte und sich verbindende Subjekt, das in den Widerstand hineinwächst, ist nicht zerstörbar. Es bleibt Mitglied, "member" (vgl. 6.4), auch wenn es das nicht immer weiß. Das Nichts, das alles werden will, bewegt sich auch bei und in uns. Quellenvermerk: Aus: Sölle, Dorothee: Mystik und Widerstand. Du stilles Geschrei. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 1997. Wir veröffentlichen diesen Text mit freundlicher Genehmigung des Hoffmann und Campe Verlags. Copyright © 2004 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg.
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