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Die Hölle von Hebron

Von Am Johal und Devorah Brous - ZNet 07.09.2004

Fährt man auf der Route 60 - einer von 29 Siedler-Schnellstraßen in der Westbank - von Jerusalem in südlicher Richtung, ist die Sommerhitze einfach unerträglich. In einiger Entfernung sieht man die Terrassenhügel, die seit Jahrhunderten in der Landschaft stehen, um den Regen aufzufangen. Man erkennt die Pinien, die man in die Naturreservate gepflanzt hat, um ein Vordringen der Palästinenser auf das Gelände zu verhindern. Links und rechts der Straße ist der Ausbau der (jüdischen) Siedlungen nicht zu übersehen. Die Hügelgipfel entlang der gesamten Strecke nach Hebron sind von neuen Siedler-Wohnwagen buchstäblich gesäumt. Die israelischen Militärbasen, die wir passieren, sind ein Paradebeispiel für die materielle Infrastruktur, die es braucht, um die Besatzung aufrechtzuerhalten: Militärjeeps, Kalaschnikows, Stacheldrahtzäune, Checkpoints, Panzer und die verschiedenen Einheiten junger Soldaten.

Hebron ist über 3700 Jahre alt - eine der ältesten Palästinenserstädte. Für Juden ist es die zweitheiligste Stadt, gleich nach Jerusalem. In der Bibel wird Hebron in Zusammenhang mit Abraham erwähnt. In Hebron befindet sich die Höhle von Machpela bzw. das ‘Grab der Patriarchen/Matriarchinnen’, einschließlich der Ibrahims-Moschee bzw. Avraham-Avinu-Synagoge. Hier befindet sich die traditionelle Begräbnisstätte der Urahnen Abraham und Sara, Isaak und Rebecka, Jakob und Lea. Gemäß traditioneller jüdischer Lehre schuf König Herodes von Judäa die Höhle in der Zeit des Zweiten Tempels, also vor rund 2000 Jahren.

Die Spannungen gehen weit zurück. Während der Unruhen von 1929 - in den frühen Tagen des Konflikts - wurden in Hebron 67 Juden von Arabern massakriert. Das war zuzeiten der britischen Mandatsherrschaft. 1980 wurden 6 Juden, die in Hebron bauen wollten, in Beit Hadassah ermordet. Heute hat der Ort eine blühende ‘Jeshiva’ 1 mit über 250 Schülern.

In letzter Zeit geht es bei der Gewalt in Hebron schwerpunktmäßig um die Aufteilung der Höhle in einen Teil für Juden und einen für Muslime. Das ist seit 1994 so. Baruch Goldstein (ein nach Israel immigrierter amerikanisch-jüdischer Arzt) hatte in der Ibrahims-Moschee das Feuer auf Betende eröffnet und 29 Palästinenser getötet, bevor er selbst von der wütenden arabischen Menge gelyncht wurde.

Beim jüdischen Purim-Fest ist es seither nichts Außergewöhnliches, auf militante Juden zu stoßen, die sich als Goldstein verkleidet haben - mit falschem Bart, Arztkittel, Armeeuniform und Gewehr. In der nahen jüdischen Siedlung Kiryat Arba befindet sich eine Gedenktafel aus Marmor mit der Inschrift: ‘Für den heiligen Baruch Goldstein, der sein Leben gab für das jüdische Volk, die Tora und die israelische Nation’. Viele Juden und Palästinenser haben hier ihr Leben verloren - durch Terror, Staatsterrorismus oder Siedlergewalt.

1997 unterzeichnete der damalige israelische Premierminister Benjamin Netanjahu mit der Palästinenserbehörde das sogenannte ‘Hebron-Abkommen’. Nachdem 1998 ein jüdischer Siedler ermordet wurde, riegelte Israel Hebron ab.

Wir fahren nach Hebron hinein - und werden von Jeshiva-Studenten beschimpft, weil wir am Sabbat mit dem Auto fahren. Wir nähern uns der Hebroner Altstadt: Im Zentrum dieser Stadt von 120.000 palästinensischen Arabern leben kaum mehr als 500 jüdische Siedler. Was früher ein lebendiger arabischer Markt war, ist heute eine Ansammlung zugenagelter Geschäfte - daneben, von Stacheldraht umsäumt, die Wohnquartiere von rund 10 jüdischen Familien. Aufgesprüht der Davidstern, eine geballte Faust und die Worte “Tod den Arabern”.

Nahebei liegt die jüdische Siedlung Kiryat Arba. Hier leben mehr als 6.000 Menschen. An jeder Straßenecke der Shuhadah-Straße sieht man Gruppen israelischer Soldaten. Die Straße führt 5 Kilometer an der Altstadt-Peripherie entlang bzw. den heiligen Grabesstätten (Höhle). Seit 1984 leben 7 Familien in der jüdischen Siedlung Admot Yishai (Tel Rumeida) in Hebron. Auf einen Siedler kommen rund 12 Soldaten. Es existieren Pläne zur Expansion - inklusive eines Archäologieparks - um jüdischen Besitz zu ‘befreien’.

Willkommen in Hebron - Frontlinie im israelisch-palästinensischen Konflikt

Wir betreten das Heim von Idress Z.. Vor der Intifada war er der Metzger hier am Ort, nachts war er Securityguard. Uns fällt ein Schwarzweißfoto auf, das ihn - eine Zigarette in der Hand - vor über 30 Jahren zeigt. Damals war er für einige Jahre in Deutschland. Er sagt, er rauche seit 37 Jahren Farid-Zigaretten, und Palästina sei seit über 1000 Jahren die Heimat seiner Familie. An der Wand hängt eine Ehrenurkunde der ‘US Agency for International Development’ - als Anerkennung für sein Sicherheitsmanagement in der Shuhadah-Straße, für “seinen Beitrag zum Nahost-Friedensprozeß und seine hingebungsvolle Arbeit unter normalerweise schwierigen Bedingungen”. Daneben hängt eine weitere gerahmte Urkunde.

Idress Z.’s Familie hatte während der Unruhen 1929 mehreren Juden das Leben gerettet. Die Namen sind aufgelistet. Idress Z. sitzt uns in seinem Wohnzimmer im Kreise seiner Familie gegenüber. Nächste Woche heiratet seine Tochter. Wir, das ist eine Gruppe israelischer Menschenrechtler. Idress Z. sagt: “Ich fühle mich verpflichtet, meine Kinder ohne Haß großzuziehen - damit sie gute Menschen werden und weder Juden noch Muslime noch Christen hassen. Ich möchte, daß sie in der Lage sind, den Soldaten die Hand zu geben. Aber diese behandeln uns wie Tiere. Also, was sollen wir tun?”

Vor wenigen Wochen hatte (israelisches) Militär sein Haus morgens um 7 Uhr gestürmt. Die Kinder wurden alle in einen Raum gescheucht. Z. selbst hat man mit dem Tode bedroht, er wurde beschuldigt, etwas mit der Hamas tun zu haben. Die Soldaten sagten, sie würden ihn berühmt machen, sein Name werde auf Al-Dschasierah genannt. Z.’s unpolitischer Schwiegersohn wurde getötet, als er (bei einem Gefecht) zwischen die Fronten geriet. Sein Bild hing an einer Wand des Hauses. Jetzt schredderten die Soldaten es vor den Augen der Familie.

Als wir an diesem Abend auf das Dach der Familie steigen, beobachten uns vom Dach des Nachbarhauses (israelische) Soldaten. Man warnt uns, nicht zu nah an die Dachkante zu treten, wir könnten sonst von Sicherheitskräften auf der Straße, die in Altstadtnähe stehen, angeschossen werden. Wer im palästinensischen Teil Hebrons lebt, sieht sich ständiger Sonderbehandlung ausgesetzt.

Wenn es im Sommer zu heiß war im Haus, schlief Z. oft in einem Winkel des Dachs, geschützt durch eine Juteplastik-Plane. Jetzt zeigt er uns die Steine, die sein Dach bedecken - auch die Plastikplane, auf der er schlief. Jüdische Siedler von Tel Rumeida, oben auf dem Hügel, werfen Steine, um ihre palästinensischen Nachbarn zu schikanieren. Sie hoffen so, noch mehr Familien aus Hebron vertreiben zu können. Seit Beginn der Intifada haben Berichten zufolge schon rund 30% der palästinensischen Bevölkerung die Stadt verlassen.

Z. erzählt uns, daß er nicht einmal über die Straße kann, um sich auf dem Markt 1 Kilo Tomaten zu kaufen: Palästinenser dürfen den Markt nicht mehr betreten. Stattdessen muß er zweimal das Sammeltaxi benutzen - das kostet ihn 16 Schekel - und einen 7 Kilometer-Umweg um die Hauptschlagader der Stadt (Shuhadah-Straße) in Kauf nehmen, um auf einen anderen Gemüsemarkt zu kommen. “So wurden die Juden in Europa behandelt”, sagt er. Ständig gibt es Abriegelungen und Ausgangssperren. Es ist den Palästinensern buchstäblich verboten, über die Straße zu gehen, um in die Altstadt zu gelangen.

Wir trinken zusammen Kaffee mit Kardamon, und Z. erzählt uns von seinen Erlebnissen. Vor ein paar Jahren fand er einen kleinen dreijährigen jüdischen Jungen - er war verlorengegangen -, verzweifelt vor seinem Metzgerladen. Z. brachte ihn zu seinem Elternhaus, wo ihn die Mutter in Empfang nahm: Dann schlug sie Z. die Tür ins Gesicht. Es gab weitere Vorfällen, bei denen er von einer wütenden Meute mißhandelt wurde; einmal schlugen sie ihm Zähne aus, sie fielen ihm in die Hand. Zum Beweis für seine Geschichten holt Z. einen schwarzen Handkoffer vom Regal, darin die Belege: Fotos und Zeitungsausschnitte - einige arabisch, andere hebräisch, einige sogar auf Englisch.

Z. wurde im eigenen Haus mit Tränengas angegriffen. Seine Tochter, damals noch ein Kleinkind, war vor dem Gas geflohen und in einen Topf mit kochendem Essen gefallen. Sie erlitt Verbrennungen am ganzen Körper. Drei Jahre ging es immer hin und her - rein ins Krankenhaus, wo man ihre schweren Brandwunden behandelte, dann wieder heim. Die Israelische Armee (IDF) drang in sein Haus ein, brannte seine Küche nieder.

Idress Z. kann nicht akzeptieren - und das verwundert nicht -, daß er seinen Laden nahe der Altstadt nur alle 15 Tage für 2 Stunden öffnen darf oder daß seine Kinder aufgrund der Abriegelung nicht draußen spielen können, während die jüdischen Kinder auf der Straße spielen und radfahren. An diesem Abend liegt sein 11jähriger Sohn zusammengekauert auf der Couch und weint. Er zittert vor Angst. Drei jüdische Kinder von der anderen Straßenseite haben ihm eine Flasche auf den Kopf gehauen. Wir schleichen uns mit dem Jungen und der Familie während der Ausgangssperre aus dem Haus, huschen einen dunklen Häuserkorridor entlang, dann über einen Friedhof, bis zu jenem Ort, an dem uns ein Familienangehöriger mit dem Kleinbus erwartet. Er fährt den Jungen zum Röntgen ins Krankenhaus. Unterwegs müssen wir anhalten. Der Junge erbricht schon zum zweiten Mal. Der Vater entschuldigt sich bei uns: “Er hat wirklich Angst”.

Wir warten bei Z.’s Nachbarn auf die Rückkehr der Familie aus der Klinik. Das Haus ist außen und innen gespickt mit Kugellöchern. Der Nachbar hat vor 4 Jahren seinen Job als Schreiner verloren - durch die Intifada. Heute fängt er Vögel, steckt sie in Käfige und verkauft sie für 40 Schekel - oder was seine Kunden eben zahlen können. Seine Frau und weitere Angehörige schlafen zu viert in einem Raum. Über Wasserpfeife und Minztee erzählen sie uns, wie frustriert sie über die Situation hier sind. Die Wirtschaft Hebrons leidet, alle fühlen sich wie ihre Vögel, die sie im Käfig halten.

Am nächsten Morgen - Z. will gerade seine Brieftasche öffnen, um uns Zeitungsartikel über Hebron und Persönliches zu zeigen - klopfen plötzlich mehrere Militäroffiziere an der Tür. Sie wollen wissen, wer wir sind. Die Behörden fragen sich, was wir hier in Hebron wollen.

Später am Tag gehen wir zu Ruths Grab. Es wurde erst vor wenigen Jahren in Hebron entdeckt. Am Checkpoint sehen wir eine Schlange mit älteren Arabern und eine Gruppe Kinder, die hier feststecken. Sie warten auf die Erlaubnis, auf die andere Straßenseite zu dürfen. Die IDF-Soldaten ziehen den Shabak (israelischer Inlandsgeheimdienst) hinzu. Der soll entscheiden, ob sie die Erlaubnis zum Passieren erhalten. Heute erhalten sie die Erlaubnis nach etwa einer halben Stunde in der heißen Sonne des frühen Nachmittags. Wären sie abgewiesen worden, die Leute hätten sich auf den gefürchteten 7 Kilometer langen Nachhauseweg machen müssen.

Die Altstadt ist inzwischen für Palästinenser gesperrt. Wir treffen dort auf Mitglieder der Beobachtermission TIPH (‘Temporary International Presence in Hebron’) 2 . Den Menschenrechtsbeobachtern, das meiste davon Skandinavier, ist es verwehrt, ihre Menschenrechtsberichte über Hebron zu veröffentlichen. Dann kommen wir bei Ruths Grab an. Am Eingang ein Pulk Soldaten. Die engen Gänge, die zur Grabesstätte führen, bestehen aus Wellblech und Stacheldraht. An der Grabesstätte sehen wir keine Zivilpersonen. Die Stätte macht einen äußerst vernachlässigten Eindruck.

Ziel unserer Factfinding-Delegation - unter Leitung der Menschenrechtsorganisation Bustan - ist es, einige der Probleme Hebrons begreifen zu lernen, die Situation aus erster Hand zu erkunden und uns mit Mitgliedern der Gemeinden vor Ort zu treffen, um zu erkennen, was Juden, Araber und Internationale zur Verbesserung der Situation beitragen können. Die Militärpräsenz hier ist direkt greifbar.

Die (israelischen) Soldaten, die nach Hebron kommen, sind mit die besttrainiertesten der IDF. Ein komplizierter Ort zum leben. An einem der Sicherheitsposten, wo Soldaten stehen, hat jemand einige Zeilen eines französisch-jüdischen Lyrikers verewigt. So hat jeder seine eigene Art, mit dem Wahnsinn dieses Konflikts umzugehen.

Wir unterhalten uns mit einer jüdischen Siedlerin und den meisten ihrer zehn Kinder bzw. deren Freunden vor ihrem Haus. Sie sitzen auf der Treppe und diskutieren mit unserer Gruppe. Die Frau sagt: “Das hier ist ein jüdischer Staat und jüdisches Land. Araber können hier bleiben, wenn sie ein Schild aufstellen, dieser Ort gehört dem Volke Israel. Dies ist die Heimat der Juden. Die Juden haben das Recht, hier zu herrschen”. Und sie fährt fort: “Die können doch in jedes der anderen 22 arabischen Länder gehen, die sollen uns allein lassen”.

Man eskortiert uns durch (die jüdische Siedlung) Kiryat Arba. Beim Verlassen beschimpft uns ein russischer Immigrant. Ständig fragt man uns aus, bei wem wir gewesen seien. Auf unserer Rückfahrt nach Jerusalem werden wir dreimal von der IDF gestoppt. Was wir in Hebron gemacht hätten, wollen die Soldaten wissen. Dennoch dauert unser Rückweg nicht einmal eine Stunde. Die Palästinenser-Schlange nach Hebron hingegen windet sich lang. Sieht so aus, als würden diese Menschen noch mindestens 3 Stunden brauchen, um in die ‘Stadt der Hölle’ zurückkehren zu können.

Anmerkung d. Übersetzerin:

1 Zu Jeshivas bzw. Jeshivots siehe Uri Avnerys Artikel ‘Gott will es!’ auf unserer ZNet-Seite

2 Zur 10jährigen Tätigkeit der TIPH u. der Situation in Hebron siehe Dauerkonflikt in Nahost. Zwischen verfeindeten Völkern in Hebron. Zehn Jahre internationale Beobachtermission Tiph aus der Neuen Züricher Zeitung (NZZ) online

Quelle: ZNet Deutschland vom 18.09.2004. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: Hell in Hebron .

Veröffentlicht am

19. September 2004

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