Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Anmerkungen zum “Krieg gegen den Terror” und zur Strategie der gewaltfreien Aktion

Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft der Anthroposophischen Gesellschaft hat vom 16.-19. Mai 2004 ein Dutzend internationale Experten zum Erfahrungsaustausch über die Praxis der Friedensarbeit in Spannungsgebieten der Welt ans Goetheanum nach Dornach bei Basel eingeladen. Theodor Ebert (67) hat von 1970 - 2002 an der Freien Universität Berlin Friedens- und Konfliktforschung gelehrt. Er begründet, warum er eine freiwillige Selbstbindung an die Strategie und Taktik der gewaltfreien Aktion für vorteilhaft hält in der Auseinandersetzung mit Ungerechtigkeit, Terror und Gewalt.

Von Theodor Ebert

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Zur Einführung: Beobachtungen Goethes während der Campagne in Frankreich 1792

Mit einem Entwurf meines Vortrags bin ich von Berlin nach Dornach geflogen. Als ich ihn hier korrigierte und ergänzte, habe ich mich während der letzten Tage immer wieder mal gefragt: Täuscht nicht der Eindruck des Friedens, den - im schönen Monat Mai - das Goetheanum und die stattlichen Häuser und blühenden Gärten von Dornach und Arlesheim und die ganze Schweiz drum herum und das angrenzende Deutschland und Frankreich in mir und auch in den Zuhörern hervorrufen? Ist dies nicht doch eine Kultur, die ihre Privilegien - wenn auch mittlerweile diskret - mit militärischen Mitteln abschirmt gegen die Bedürftigen dieser Erde. Und als dann heute früh pünktlich um 6.30 Uhr neben dem Vogelzwitschern auch der Klang der Glocken von Arlesheim und Dornach in mein Zimmer drang, fragte ich mich noch einmal: Was bestimmt eigentlich unsere Welt, die Schönheit und Fruchtbarkeit der Natur und der gute Wille der Menschen - oder lauern doch überall Gewalt und Verderben, die unversehens ausbrechen und auch die hiesige Idylle stören oder gar zerstören können?

Ich habe darauf keine eindeutige Antwort und ich vermute: Ihnen geht es ähnlich wie mir. Wir tauschen hier unsere Erfahrungen aus, und dies gelingt am besten, wenn wir uns nicht in Begriffsgebäuden verschanzen, sondern ungeschützt “auspacken”. Ich will darum auch keinen systematischen Vortrag über die Theorie und Praxis der gewaltfreien Aktion halten, wie man ihn vielleicht von einem Hochschullehrer erwartet. Ich habe mich um Systematik und Beweisführung im Rahmen meiner Lehrtätigkeit schon bemüht und ich habe auch viele Aufsätze und Bücher geschrieben. Doch nun lebe ich im Ruhestand und kann aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in die Konfliktgebiete der Erde reisen und vor Ort die Tauglichkeit der Modelle überprüfen. Ich spreche hier nicht ex cathedra, ich will nur ein wenig aus dem Labor des Lebens, manchmal auch nur von Beobachtungen am Rande des Weges berichten. Die systematischen Berichte von den Konfliktfeldern überlasse ich jüngeren Kollegen.

Zur Vorbereitung auf das Gespräch mit Ekkehart Krippendorff, das übermorgen, unmittelbar im Anschluss an unsere Tagung stattfinden und Goethes Vorstellungen vom Frieden erörtern wird, habe ich erneut Goethes Kriegsbericht “Campagne in Frankreich 1792” gelesen. Die meisten von Ihnen werden an diesem Gespräch über Goethe nicht mehr teilnehmen können. Darum ist es wohl zulässig, dass ich an dieser Stelle ein paar Worte zum genius loci, zu Goethes ganz elementaren Friedensvorstellungen sage, denn unser Generalthema ist ja - ganz pathetisch formuliert - das “Ringen um den Frieden”. Goethe vermittelt uns seine Vorstellung vom Frieden konkret, indem er von den Eindrücken berichtet, die er während dieses Kriegszuges der alliierten Monarchien gegen die französische Revolutionsregierung sammelt. Goethe ergreift nicht die Partei der Monarchisten oder der Revolutionäre; er hält zu den kleinen Leuten, die mit ihren Familien in Frieden leben wollen. Diese sind im damaligen Kriegstheater zufällig Franzosen, aber die Betroffenen hätten auch Angehörige anderer Nationalitäten sein können. Zum Frieden der kleinen Leute gehören für Goethe - und er schreibt dies im Blick auf die vom Regen aufgeweichte Champagne - ein Dach überm Kopf, eine warme Stube, möglichst ein Bett, wenigstens trockenes Stroh, gesundes Essen und Trinken, ärztliche Versorgung für die Kranken und zuletzt auch noch etwas Bildung und Kunst. Der Autor des “Götz von Berlichingen” und der “Iphigenie” tut, wie er es nennt, ein “neckisches Gelübde”: Er wolle sich über Missbehagen und Langeweile im deutschen Theater nie wieder beklagen, “wo man doch immer Gott danken könne, unter Dach zu sein, was auch auf der Bühne vorgeht.”

Das Stillen solch elementarer Bedürfnisse macht zuvorderst den Frieden aus. Das werden alle Referenten dieser Tagung bestätigen, die sich mit Friedensverhandlungen und Waffenstillständen in den Krisengebieten dieser Erde befassen, sei dies an der Elfenbeinküste, in Nepal, in der indischen Provinz Gujarat, auf Sri Lanka oder auf der Westbank und dem Gazastreifen. Goethe meint, dass in Frankreich die Befriedigung der Grundbedürfnisse des Menschen vor dem Krieg, ohne den Krieg, der über diese Menschen hereingebrochen ist, einigermaßen gewährleistet war. Er beobachtet, wie der Krieg - auf der eigenen Seite, also bei den alliierten Monarchisten - die Sitten verdirbt und die elementaren Lebensgrundlagen von Mensch und Tier gefährdet. Wäre er Kriegsbeobachter - embedded journalist - im französischen Heer gewesen, hätte er wahrscheinlich dort Ähnliches bemerkt. Als später Weimar von den Truppen Napoleons besetzt wurde, haben Goethe und Christiane Vulpius schlechte Erfahrungen gemacht.

Doch auch die Vorkriegszeit war aus Goethes Sicht keine Idylle. Über ein Streben nach mehr sozialer Gerechtigkeit, nach mehr politischer Partizipation aller Stände, nach mehr Bildung und Kultur hätte Goethe gewiss mit sich reden lassen. Doch die Waffengewalt hielt er für kein geeignetes Mittel, eine Besserung der Verhältnisse herbeizuführen - ob nun im Sinne der Revolution oder der Restauration.

Goethe macht dies anschaulich an Hand von Momentaufnahmen des kläglichen Rückzugs der alliierten Truppen nach der Kanonade von Valmy. Wie ich schon sagte: Goethe ergreift nicht Partei für eine Seite der Kriegführenden, obwohl man dies von einem Gefolgsmann des Herzogs von Weimar wohl erwarten dürfte. Herzog Carl August befehligt im preußischen Heer als Generalmajor das 6. Kürassierregiment. Mit seiner Art der Berichterstattung ergreift Goethe Partei für die Kriegsopfer, Menschen und auch Tiere. Es gibt erschütternde Schilderungen von Pferden, deren Knochen krachen, wenn im Schlamm die Wagen über sie hinwegrollen und die sich in ihren heraushängenden Gedärmen verfangen.

Das muss 1822, als dieser Teil seiner Lebenserinnerungen erschien, eine zumindest ernüchternde Lektüre gewesen sein. Sie stand im Widerspruch zu dem offiziellen nationalistischen Heldengetöse der Freiheitskriege gegen Napoleon. Und an diesem Heldengetöse waren einige Dichter beteiligt, die in deutschen Schulbüchern noch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hoch im Kurs standen. Goethe war skeptisch gegenüber solch vaterländischen Gesängen. In seinem Kriegsbericht schlägt er ganz andere Töne an. Dabei war diese Campagne in Frankreich im Herbst 1792 - inklusive der Kanonade von Valmy - noch ein relativ harmloses Unternehmen, wenn man es mit den späteren Feldzügen und insbesondere den Kriegserfahrungen des 20. Jahrhunderts vergleicht.

Rücksicht auf die elementaren Interessen der Betroffenen

Doch sein Bericht ist lehrreich, weil er mit der poetischen Methode deutlich macht, worauf eine Friedensstrategie zuallererst zu achten hat. Goethe stand die uns heute geläufige Strategie der gewaltfreien Aktion eines Gandhi oder Martin Luther King nicht zur Verfügung; doch Goethes damalige Friedensauffassung und diese Strategie passen zusammen, weil die gewaltfreie Aktion so angelegt wird, dass die elementaren Lebensbedingungen der Beteiligten - und zwar aller Beteiligten und Betroffenen - sich im Laufe der Konfliktaustragung nicht unerträglich verschlechtern. Gandhi hat zwar immer wieder betont, dass Menschen, die seine gewaltfreien Methoden im Widerstand gegen Unrecht und Gewalt anwenden, mit Leiden, ja sogar mit Gefängnis und Tod rechnen müssen, aber wenn man die Auswirkungen dieser Strategie auf die Beteiligten untersucht, dann sind die Unterschiede zu Kriegshandlungen doch auffallend. Es gab in den Kampagnen Gandhis und Martin Luther Kings ein Miteinander oder ein Nebeneinander von Widerstand und Familienleben und Broterwerb. Weiße Rassisten haben zwar Bombenanschläge verübt, aber die Zerstörung von Obdach und Lebensmitteln blieb die Ausnahme und spielte im Gegensatz zu den Zerstörungen moderner Kriege eine geringe Rolle. Gandhi musste sich allerdings - und dies wird leicht übersehen - in Indien auch mit sehr populären Terroristen auseinandersetzen. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er deren Taten verabscheut und verurteilt.

Sohn oder Tochter Gandhis oder Martin Luther Kings zu sein, war nicht einfach, aber die Kampftätigkeit der Eltern hat nicht ausgeschlossen, dass die Kinder eine ordentliche Schulbildung erhalten haben. Dies galt auch für die Familien der vielen Mitstreiter dieser beiden wichtigsten Strategen der gewaltfreien Aktion. In den Familien dieser Friedenskämpfer herrschte eine ganz andere Stimmung als in den Familien von Selbstmordattentätern oder Soldaten, die als Väter unter Umständen jahrelang von ihren Kindern getrennt sind. Mein Vater hasste das Militär, den Barras, wie er es abfällig nannte, aber er konnte sich Hitlers Feldzügen 1939 nicht entziehen. Ich habe ihn von meinem zweiten Lebensjahr an sechs Jahr lang nur während seiner kurzen Fronturlaube gesehen. Meine Kindheit war einseitig dominiert von den Erziehungsvorstellungen der Mutter und der anderen Frauen in ihrer Umgebung. Sie haben es gut gemeint und sich selbstlos eingesetzt. Die nachhaltige Prägung durch dieses Schutz gewährende Frauenregiment ist mir erst sehr spät deutlich geworden an den Konflikten zwischen diesen Frauen und den Schwiegertöchtern, welche die im Krieg entwickelte Maxime “Right or wrong my family” und den damit verbundenen Besitzanspruch weder verstehen, noch akzeptieren konnten.

Ich will gewaltfreie Kampagnen nicht idealisieren. Das Leben exponierter Leiter solcher Kampagnen ist auch nicht sonderlich familienfreundlich. Doch wenn man von dem strapaziösen Leben der extrem prominenten Figuren Gandhi und King einmal absieht, kann man schon sagen, dass Gandhi etwas Richtiges traf, als er sagte: “Es gibt keinen Weg zum Frieden; Frieden ist der Weg.” Das heißt, die Mittel müssen mit dem Ziel harmonieren. In den Mitteln, die einer anwendet, muss zum Ausdruck kommen, was er anstrebt. Wenn man Frieden schaffen will, dann muss er im familiären Alltag dieser Friedensschaffenden auch vorkommen. Es darf nicht so sein wie in Brechts Gedicht “An die Nachgeborenen”, dass diejenigen, welche den Boden bereiten wollten, für Freundlichkeit, selbst nicht freundlich sein konnten. Brecht erwartet Nachsicht. Es wäre all denen, die meinen, sich mit sozusagen “unfreundlichen” Mitteln empören oder verteidigen zu müssen, zur Vorsicht zu raten, statt auf Nachsicht zu hoffen. Denn “unfreundliche Mittel” ist die euphemistische Formulierung für Terror und Gewalt, Spitzelwesen und Folter.

Zur Kritik der “unfreundlichen Mittel”

Dass man mit Gewalt keinen Frieden schaffen kann, ist eigentlich so simpel, dass man sich immer wieder wundert, wie intelligente Männer diese Erfahrung ignorieren können. Der amerikanische Präsident George W. Bush meinte, er könne im Irak durch den kurzen Einsatz himmelhoch überlegener militärischer Gewalt einen Diktator beseitigen und Demokratie verbreiten. Und nun blickt die Welt entsetzt auf die Fotos der Bombenanschläge im Irak und auf die entsetzlichen Fotos amerikanischer Folterer. Und man sage nicht, dass Deutsche davor gefeit wären. Was in uns steckt, wird doch daran deutlich, dass ein deutscher Professor an der Münchener Hochschule der Bundeswehr das Foltern von Terroristen rechtfertigt. Der Präsident der Hochschule und der Verteidigungsminister haben ihm sofort widersprochen und ihn einbestellt. Richtig! Doch wenn deutsche Soldaten in Kriegssituationen kämen, welche den Einsätzen amerikanischer Truppen vergleichbar wären, müssten wir mit dem Schlimmsten rechnen.

Man sage nicht, es geht bei militärischen Einsätzen oder gar bei der Folter nicht um den Regelfall, sondern um äußerste Situationen, um die ultima ratio, das letzte Mittel. Wer militärische Gewalt überhaupt einsetzen will und sei es im alleräußersten Fall, der muss sie einüben und sich dafür optimal ausrüsten. Dies bedeutet in der Konsequenz den vollen Aufwand für das militärische Mittel. Wer das Militär als letztes Mittel will, hat keine freie Kapazität mehr für die Entwicklung und den Einsatz anderer Methoden. Das Militärische frisst den gewaltfreien Methoden das Futter weg. Dies gilt im intellektuellen wie im materiellen Sinne. Vergleichen Sie mal den Aufwand für die deutsche Bundeswehr mit dem Aufwand für den Zivilen Friedensdienst, der vergleichsweise sehr bescheiden ausgestattet ist!

Man kann durch den Einsatz von Militär zum so genannten peace enforcement - also zum militärischen Erzwingen von Waffenruhe - in der Regel nur die latente Gewalt deckeln, also Bürgerkriegsparteien zwingen, die Waffen ruhen zu lassen. Praktisch bedeutet dies, dass die Waffen versteckt werden. An der feindseligen Grundeinstellung der Bürgerkriegsparteien vermögen die ausländischen Truppen des peace enforcement kaum etwas zu ändern. Das konnte man jüngst im Kosovo beobachten, wo am 17. März 2004 die Nachricht bzw. das bloße Gerücht, dass albanische Kinder von Serben in eine tödliche Flussströmung getrieben worden seien, Pogrome gegen die im Kosovo verbliebenen Serben auslösten. Daran waren albanische Rundfunkjournalisten beteiligt, welche diesen Pogromen hätten entgegenwirken können.

Die irreführende Rede vom “Krieg gegen den Terror”

In Afghanistan hat die NATO offiziell Krieg gegen Terroristen geführt. Nach zwei Jahren sieht man, dass es zwar in Kabul demokratische Ansätze und mehr Rechte für die Frauen und mehr Schulbildung gibt, dass aber Afghanistan als Ganzes wieder zum größten Produzenten von Rohopium geworden ist, und dass die Sieger über die Taliban sich außerstande sehen, gegen die Warlords, die vom Drogenhandel profitieren, vorzugehen. Und der Terror der Al Qaida ist, wie sich an mehreren Stellen der Welt gezeigt hat, durch den militärischen Sieg über die Taliban keineswegs besiegt worden. Mein Fazit ist: Mit militärischen oder auch nur mit polizeilichen Mitteln wird man den Terror nicht überwinden können.

Man muss die Ursachen des Terrors beseitigen. Das ist eine riesige und eine langfristige Aufgabe. Kurzfristig wird man sich darum bemühen müssen, den Terroristen und ihren Sympathisanten die Folgen ihrer Anschläge vor Augen zu führen und sie von der Sinnlosigkeit ihrer Taten zu überzeugen. Es gilt, die religiöse Überhöhung der Selbstmordattentate an ihrer religiösen Wurzel zu treffen und die Befürworter von Terroranschlägen mit den Schicksalen der einzelnen Menschen, die getötet und verletzt wurden, zu konfrontieren. Es genügt nicht Zahlen zu nennen; es müssen den potentiellen Attentätern Lebensläufe von Getöteten vor Augen geführt werden. Dafür müssen Medien und Institutionen gefunden werden.

Es gibt Erfahrungen auf diesem Feld. Der Antisemitismus als Massenphänomen wurde in Deutschland nicht zuletzt dadurch überwunden, dass der nachwachsenden Generation der Deutschen zum Beispiel an Hand des Tagebuches von Anne Frank deutlich wurde, welch ein Irrsinn die Verfolgung von Menschen war, deren Fühlen und Wollen wir gut verstehen und teilen können. Terroristen und ihre Anhänger wissen in der Regel wenig oder nichts über ihre Opfer als Individuen. Solche Kenntnisse könnten eine hemmende Wirkung haben. Solche Informationen wirken aber nicht isoliert; sie müssen mit konstruktiven Angeboten der Konfliktbearbeitung verbunden werden. Ich warne davor, eine automatische Verbindung zwischen der Tötungshemmung und der Information über das zu tötende Individuum herzustellen. Bei Anschlägen auf bestimmte Personen verfügen die Attentäter über Informationen zur Person ihres Gegners, auch wenn diese sehr klischeehaft sein können und sich von der Sicht nächster Angehöriger unterscheiden. Auch die Opfer der Hexenprozesse und der stalinistischen Säuberungen waren ihren Anklägern und Richtern als Individuen häufig bekannt.

Keine Vergeltungsschläge!

Die Tötungshemmung wird überwunden, indem man den Getöteten unterstellt, dass sie in ihrer Person eine tödliche Bedrohung der sich verteidigenden Gemeinschaft darstellen. Dieser Unterstellung muss dadurch begegnet werden, dass man als angeblich Bedrohender das Gegenteil dessen tut, das einem unterstellt wird. Die wichtigste Voraussetzung für einen Erfolg versprechenden Kampf gegen den Terror ist es, Vergeltungsschläge zu vermeiden. Diese verleiten die Gegenseite zu einer erneuten Eskalation des Terrors. Am Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern lässt sich dies beobachten.

Ich kritisiere Vergeltungsschläge gegen Terroristen und ihre Sympathisanten, weil ich sie für keine Erfolg versprechende Maßnahme der Terrorbekämpfung halte. Die Wirksamkeit meiner Argumentation leidet allerdings daran, dass es bei der Vergeltung gar nicht primär um eine Maßnahme der Terrorbekämpfung geht. Wie das Wort “Vergeltung” - oder noch etwas undurchsichtiger die Forderung nach “Gerechtigkeit” - deutlich macht, geht es gar nicht in erster Linie um die Verhinderung neuer Terrorakte, sondern um Rache für Erlittenes. Dieses Bedürfnis nach Rache ist ein starkes Motiv, aber es ist ein schlechter Ratgeber im Kampf gegen den Terror.

Wenn wir das Bedürfnis nach Rache als Motiv versuchsweise eliminieren, dann lautet die Frage: Kann man auf Vergeltungsschläge verzichten bzw. diese vermeiden, ohne das Gemeinwesen, das von Terroristen bedroht wird, existenziell zu gefährden? Wenn man diese Frage vernünftig beantworten will, dann muss man - unter Ausschalten des Rachebedürfnisses - nüchtern kalkulieren, was Terroristen können oder wollen. Wenn man die Auswirkungen der bisher bekannten Terroranschläge betrachtet, dann sind sie rein materiell und statistisch gesehen - also im Blick auf die Gesamtzahl und die Güter des betreffenden Volkes - und dies gilt selbst für Israel - geringfügig, zumindest wenn man diese Verluste mit denjenigen von Kriegen oder auch nur den Kosten der Terrorbekämpfung vergleicht. Schon aus diesem statistischen Grund halte ich den Begriff “Krieg gegen den Terror” für abwegig, auch wenn diese Wortwahl in anderer Weise funktional ist. Die Terroristen fühlen sich durch diese Wortwahl in ihren Wahnvorstellungen, eine bedeutende “Krieg führende” globale Organisation zu sein, bestätigt. Und auf der anderen Seite wird mit gezielten Warnungen vor Terroranschlägen der Al Qaida auch Politik getrieben. Oder ist es nicht offensichtlich, wie George W. Bush seine Wiederwahl mit solchen Terrorwarnungen zu befördern sucht? Und ich fürchte, er wird damit Erfolg haben.

Den Terroristen wird neuerdings unterstellt, dass sie sich auf den Einsatz von Massenvernichtungsmitteln vorbereiten. Dass sie dies bereits tun oder demnächst tun werden, ist nicht auszuschließen. Es ist sinnvoll, Terroristen den Zugang zu Massenvernichtungsmitteln zu erschweren. Am besten geschieht dies sicher dadurch, dass man sie nicht mehr herstellt. Allein durch militärische und polizeiliche Antiterrormaßnahmen lässt sich der Einsatz von Massenvernichtungsmittel durch Terroristen nicht ausschließen. Bei der Abwehr muss man beim Denken der Terroristen ansetzen. Diese müssen ihre Mittel vor sich selbst und ihren Anhängern rechtfertigen. Darum sind Vergeltungsschläge gegen Terroristen so verhängnisvoll. Je drastischer diese Vergeltungsschläge ausfallen, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Terroristen die Vernichtungsrate ihrer Anschläge eskalieren. Nach der gezielten Tötung von Anführern der Hamas, muss man in Israel jetzt damit rechnen, dass die extremistischen Organisationen der Palästinenser zum Einsatz von Massenvernichtungsmitteln übergehen. Hochindustrialisierte Gesellschaften sind außerordentlich verletzlich. Der Terrorismus ist als Gefahr nicht zu unterschätzen. Doch beim Antiterrorkampf ist darauf zu achten, das wechselseitige Hochschaukeln von Terror und Vergeltung zu vermeiden.

Man darf zwar nicht damit rechnen, dass infolge von Nichtvergeltung und konstruktiven Maßnahmen für mehr soziale Gerechtigkeit die Terroranschläge sofort aufhören werden, aber ich denke, dass - so schmerzlich die Anschläge für Einzelne auch sind - wir als betroffene Gesellschaft die wahrscheinliche Zahl von weiteren Selbstmordattentaten und sonstigen Anschlägen aushalten und auf dem Wege der Nichtvergeltung bleiben und die Friedens- und Versöhnungsbemühungen fortsetzen können. Man muss, so schwer dies auch sein mag, Gelassenheit bewahren und darf sich nicht vom eingeschlagenen Weg abbringen lassen. Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter. Die Terroristen bomben, die konstruktiven Maßnahmen für mehr soziale Gerechtigkeit werden fortgesetzt.

Ich halte die Strategie der amerikanischen und der israelischen Regierung für verkehrt. Ob die Vergeltung sich nach einem bestimmten Rechts- oder Religionsverständnis rechtfertigen lässt, interessiert mich dabei nicht. Martin Luther King hat seinen Landsleuten wiederholt gesagt: “Gewalt ist nicht nur unmoralisch, sie ist unpraktisch.” Die gewaltsame Vergeltung, die in aller Regel als Verteidigung bezeichnet wird, führt nicht zu den erwarteten Resultaten. Der Terror geht weiter, ja er steigert sich.

Einwirken auf das Umfeld der Terroristen

Dies heißt natürlich nicht, dass man Terroristen gewähren lassen soll. Bei den Anschlägen handelt es sich um Verbrechen, denen jede Legitimität abgesprochen werden muss. In dieser Hinsicht ist Gandhis Umgang mit dem Terror indischer Nationalisten vorbildlich. Man kann rechtsstaatliche Mittel einsetzen, um das Tun der Terroristen und ihrer Sympathisanten zu kontrollieren. Was man unter “rechtsstaatlichen Mitteln” zu verstehen hat, will ich jetzt nicht im Detail erörtern. Die Gefahr, dass der Rechtsstaat unter der Terrorbekämpfung leidet, ist beträchtlich. Doch auf diese Probleme haben bereits andere hingewiesen. Wichtiger als Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen scheint mir zu sein, dass man durch konstruktive Maßnahmen auf das Umfeld der Terroristen einwirkt. Zu diesem Umfeld gehören im weitesten Sinne alle diejenigen, aus denen die Terroristen ihre Anhängerschaft rekrutieren. Das ist keine abschätzige Charakterisierung. Zum Umfeld der Terroristen gehören alle diejenigen, auf welche die Terroristen noch hören. Da kann es sich um liebe Verwandte und geschätzte Kollegen handeln. Man hat nach dem Anschlag auf das World Trade Center vor den so genannten “Schläfern” gewarnt. Für diese, falls es sie überhaupt in großer Zahl geben sollte, was ich bezweifle, ist bzw. wäre charakteristisch, dass sie mit anderen Menschen äußerlich angepasst zusammenleben. Dies bedeutet aber auch, dass diese Schläfer vom Verhalten ihrer Umwelt beeinflusst werden, auch wenn sie daneben in ihren Gedanken und im Kontaktbereich der Verschwörer in einer fundamentalistisch ausgerichteten Parallelwelt leben.

Ich kenne keine “Schläfer”, aber wie viele von Ihnen habe ich doch immer wieder mit Menschen zu tun gehabt, die zu Terroristen hätten werden können. Unser Verhalten hat sie beeinflusst, ohne dass die potenziellen Terroristen oder wir dies bewusst registriert hätten.

Ich greife jetzt eine Erfahrung heraus, an der sich solcher Einfluss besonders gut zeigen oder doch mit einer gewissen Plausibilität vermuten lässt; ich meine die partnerschaftlichen Beziehungen zwischen der Evangelischen Kirche Berlins und Evangelisch-Lutherischen Kirche in Südafrika. Diese Partnerschaft hat ihren Ursprung in dem Umstand, dass in Südafrika Berliner Missionare viele Gemeinden gegründet haben und dass dies im Rückblick von diesen Gemeinden nicht als kolonialistische, sondern als eine konstruktive, ja emanzipatorische Maßnahme betrachtet wird, an die man sich gerne erinnert.

Zum Beispiel Südafrika

Unter der Anleitung des Friedensnobelpreisträgers Albert Luthuli hatte der Widerstand gegen die Apartheid in Südafrika einen deutlich gewaltfreien Charakter. Doch es hat auch Anschläge gegeben. Nelson Mandela war an einigen Anschlägen, die ich dem Bereich des agitatorischen Terrors - so der terminus technicus - zuordnen würde, beteiligt. Der African National Congress hat in Namibia eine Guerillatruppe aufgebaut. Es wäre also durchaus vorstellbar gewesen, dass es auch in Südafrika in größerem Umfang zu terroristischen Anschlägen kommt. Die Unterdrückung der nichtweißen Bevölkerung Südafrikas hätte genügend Anlässe geboten, solche Anschläge zu rechtfertigen.

Es ist immer schwer zu beweisen, warum etwas nicht geschehen ist. Nach meinem Eindruck, der sich auf eine jahrzehntelange Beschäftigung mit dem Apartheid-Regime stützt, hat an der Nichtverbreitung eines schwarzen Terrorismus und an dem versöhnlichen Übergang vom Apartheidstaat zur gegenwärtigen demokratischen Verfassung Südafrikas mitgewirkt, dass es ziemlich intensive kirchliche Partnerschaftsbeziehungen gab, von Kirche zu Kirche, von Kirchenkreis zu Kirchenkreis und von Gemeinde zu Gemeinde und eben auch von Mensch zu Mensch. Man kannte sich. Meine Frau Ruth gehört seit zwei Jahrzehnten zur Partnerschaftsgruppe des Kirchenkreises Spandau für den Kirchenkreis Kapstadt. Wir besuchten uns wechselseitig. Man kannte Einzelschicksale. Eine südafrikanische “farbige” Lehrerin arbeitete zwei Jahre in unserer Kirchengemeinde. Persephone Smith ist heute Leiterin einer Schule in der Kap-Provinz. Sie hat in Berlin Weiße anders kennen gelernt als in Südafrika. Und wenn Spandauer ihre Partnerkirche in Kapstadt und in den umliegenden Städten besuchten und in den Häusern der Schwarzen bzw. Farbigen übernachteten, lernten sie deren Lebensumstände und die Schattierungen der Apartheid, diese menschenverachtende, rassistische Diskriminierung mit scheinbar biblischer Begründung, kennen.

Es gibt keine monokausale Begründung für das Ausbleiben eines weit verbreiteten Terrorismus in Südafrika, aber ich meine, dass die Partnerschaftsarbeit der Kirchen wesentlich, wenn nicht sogar ausschlaggebend dazu beigetragen hat, dass es in Südafrika nur selten zu terroristischen Anschlägen gekommen ist und dass es nach dem Ende der Apartheid Bischof Tutu und anderen möglich war, in der Wahrheitskommission das Unrecht aufzuarbeiten und den Schuldigen zu vergeben. Der Fall Südafrika verdient es studiert zu werden.

Die Lage in Israel ist anders, aber es gibt auch bei den Israelis und Palästinensern Gruppen, die sich um Partnerschaft bemühen. Hier auf dieser Tagung hat mir ein Student der Sozialpädagogik aus Dornach berichtet, wie er mit einer israelischen Friedensgruppe und mit Unterstützung von Palästinensern auf der Westbank Ölbäume gepflanzt hat, um gegen die israelische Landnahme zu protestieren.

Ich war nur zwei Mal in Israel und in den besetzten Gebieten und kann nicht einschätzen, welche praktische Bedeutung diese Bemühungen um partnerschaftliche Zusammenarbeit langfristig haben, aber es ist gut, dass es sie überhaupt gibt.

Ich will jungen Deutschen keine Vorschriften machen, aber ich denke, dass angesichts des Zusammenhangs zwischen der Gründung des Staates Israel und der Vernichtung der europäischen Juden durch die deutschen Nazis es leicht missverstanden werden kann, wenn sich Deutsche an regierungskritischen, gewaltfreien, direkten Aktionen in Israel und den besetzten Gebieten beteiligen. Wir haben an anderen Stellen genug zu tun.

Wir sollten uns in Deutschland mehr Mühe geben, die muslimischen Einwanderer zu verstehen. Wir sollten nicht nur neben ihnen leben, sondern uns auch auf sie einlassen, auch in den persönlichen Beziehungen. Ich finde es gut, dass unser früherer Bundeskanzler Helmut Kohl jetzt eine türkische Schwiegertochter hat; ich habe auch eine, auch wenn diese nun bereits seit einem Jahrzehnt Deutsche ist, als Germanistin über den Poeten Erich Fried promoviert hat und - anders als ich - im Rundfunk als Journalistin ein lupenreines Hochdeutsch spricht.

Europa und seine Muslime

Das Verhältnis der Deutschen zu den türkischen Einwanderern ist problematisch. Es ist schon möglich, dass es auch in Deutschland zu Anschlägen wie in New York und Madrid kommen wird. Ich habe davor keine Angst, aber wenn es passieren sollte, dann wird dies nur ein Grund mehr sein, unsere Integrationsbemühungen fortzusetzen und zu verstärken. Ich bin unglücklich über das Kopftuchverbot für Lehrerinnen an den Schulen Baden-Württembergs und Hessens. Wenn eine solche kopftuchtragende Kollegin wirklich eine penetrante Muslimin - und nicht nur ein Phantom - sein sollte, dann müsste ein Lehrerkollegium doch in der Lage sein, diese Kollegin auf andere Gedanken zu bringen!

An meinem Institut an der Freien Universität gibt es keine kopftuchtragenden Muslima, obwohl ich mehreren Politologinnen türkischer Herkunft in meinen Kursen begegnet bin. Was gelegentlich vorkommt, sind deutsche Dozenten, die auch bei sehr konservativen, ja zum Rechtsextremismus tendierenden Institutionen auftreten oder in deren Organen veröffentlichen. Das bekommen dann einige aufmerksame Linke heraus, zitieren in Flugblättern die schärfsten Sprüche, wenn sie solche überhaupt finden und nicht alles auf Hörensagen und Vermutungen beruht, und rufen dann dazu auf, diesen Dozenten vom Institut zu entfernen, zumindest aber seine Lehrveranstaltungen zu boykottieren.

Empathie anstelle von Boykott

Das war dann die Gelegenheit, bei der ich in einem meiner Kurse zur gewaltfreien Konfliktbearbeitung mit den Studenten das passende Vorgehen besprochen habe. Der Boykott ist zwar ein geradezu klassisches gewaltloses Kampfmittel, aber in diesem Falle schien es mir nicht von vornherein das richtige Mittel zu sein. Zunächst ging es darum, nicht einfach den Flugblättern oder Gerüchten zu glauben, sondern die Fakten zu eruieren und auch die Version des Beschuldigten zu hören und dann nach Möglichkeit ein Streitgespräch, das von uns zu moderieren wäre, zustande zu bringen. Das war für Politologiestudenten im Grundstudium eine schwierige Übung. Die Hauptschwierigkeit bestand für die in meinen Kursen generell links eingestellten Studenten darin, den gewissermaßen Verdächtigen, der einem vielleicht von vornherein unsympathisch war, als Mensch zu akzeptieren, sich mit ihm in der Kantine an den Tisch zu setzen und sich nach seinen Lebensumständen zu erkundigen. Das Kantinengespräch habe ich dann übernommen. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, dass der des Rechtsextremismus Verdächtige, der für meinen Geschmack zu viele deutschnationale Töne anschlug und bei einer der NPD nahe stehenden Kulturstiftung einen Vortrag gehalten hatte, mit einer evangelischen Religionslehrerin verheiratet war. So etwas kann man ja nicht ahnen. Das passte eigentlich gar nicht ins Bild. Unter den evangelischen Religionslehrerinnen Berlins kannte ich mich als Mitglied der Leitung der Berliner Kirche einigermaßen aus. Ich hielt es also nicht mehr für ganz ausgeschlossen, dass ich mich auch mit dem Ehemann verständigen könnte.

Es ist zu dem öffentlichen Streitgespräch mit dem Kollegen gekommen und der Affäre wurde viel von ihrer Schärfe genommen. Der Kollege hat das Institut freiwillig verlassen, weil er von unverdächtiger Seite ein attraktives Angebot erhielt, und ich hoffe, dass er seine Kollegen als streitbar, aber nicht unfair in Erinnerung behalten hat. Ich will den Fall jetzt nicht en detail rekonstruieren. Mir kam es an dieser Stelle nur darauf an, mit einem Beispiel zu belegen, dass man extremistischen Bedrohungen am besten dadurch begegnet, dass man einen Zugang zum Umfeld der gefährlichen Personen sucht und auf diese durch mitmenschliche Kontakte peu à peu argumentativ einwirkt. Ein solches Verfahren ist nicht spektakulär und manchmal auch frustrierend, weil diese Zeitgenossen auch einige wenig sympathische Züge aufweisen, aber mir scheint dieses Verfahren im Großen wie im Kleinen wirksam zu sein.

Das deutsche Wunder lässt sich erklären

Es hat uns alle wie ein Wunder angemutet, dass die Wende in der DDR ohne Gewaltanwendung vonstatten ging. Es war eine Revolution ohne einen einzigen Toten. Das war eine große Leistung. Darauf bin ich als Deutscher schon ein bisschen stolz, gerade weil uns Lenin mal verspottet hat wegen unseres Hangs, beim Stürmen eines Bahnhofs zuvor eine Bahnsteigkarte zu kaufen.

Eine Erklärung für den gewaltfreien Charakter dieser deutschen Revolution ist sicher, dass es zwischen der DDR und der BRD eine Fülle von Kontakten auf allen Ebenen gab und dass man miteinander umzugehen, auch miteinander Geschäfte zu machen wusste. Als es mit der Herrschaft der SED zu Ende ging, konnten ihre leitenden Funktionäre mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass sie im Falle eines Machtverzichts mit keinen extremen Racheakten zu rechnen hatten. Das Kirchenasyl für Erich und Margot Honecker war symbolischer Ausdruck dieser Haltung. Dass meine Kirche dies fertig brachte und dass sich Honecker ihr anvertraute, auch dies erfüllte mich ein wenig mit Stolz. Dies nur als kleine Anmerkung zu dem in Deutschland eine Zeitlang erörterten Thema: “Ich bin stolz ein Deutscher zu sein.” Ich kann mir vorstellen, dass Bischof Tutu Verständnis hätte für diese Art von National- und Kirchenstolz.

Zentral für die Strategie der gewaltfreien Aktion ist, dass man dem politischen Gegner durch alles, was man sagt oder tut, signalisiert: Von uns hast du persönlich nichts zu befürchten. Wir kritisieren bestimmte Missstände oder auch das Herrschaftssystem als solches. In dem von uns angestrebten System wird es aber auch für dich einen Platz geben, auf dem du menschenwürdig existieren kannst. J. Nehru hat dies einmal mitten im antikolonialen Befreiungskampf deutlich formuliert: “Die Engländer in Indien wissen, dass wir keine gewaltsamen Mittel anwenden - und dass wir dabei bleiben werden.” Dieser Nachsatz war wichtig. Er bekräftigte die Selbstbindung an gewaltfreie Mittel und an das Prinzip der Nichtvergeltung.

Mit einer solchen einseitigen Selbstbindung lässt sich die Atmosphäre in einem Konfliktfeld verändern. In der Friedensforschung hat man diese Strategie untersucht unter dem Stichwort “Unilateralismus”. Es gibt auch Übergangsstrategien, die man unter dem Stichwort “Gradualismus” zusammengefasst hat. Dabei geht es darum, mit einseitigen Erklärungen und Maßnahmen (des Entgegenkommens und der Zugeständnisse) Vertrauen zu bilden, um dann weiterzugehen.

Ich habe mich mit dem Unilateralismus und dem Gradualismus und seinen jeweiligen Problemen in den 70er Jahren intensiv befasst. Wer sich dafür interessiert, findet die entsprechenden Aufsätze in einem von Ekkehart Krippendorf herausgegebenen Reader “Friedensforschung” und in meinem zweibändigen Werk “Soziale Verteidigung”.

“Gewaltfrei” heißt Ausscheiden konterproduktiver Methoden

Menschen meinen immer wieder, es sei ein Zeichen von Schwäche, wenn sie sich nicht auch die Gewaltanwendung als Option offen halten. Meines Erachtens ist es genau umgekehrt. Wir sprechen im deutschen Sprachraum von gewaltfreien Aktionen - und übersetzen damit das englische “nonviolent” -, weil wir zum Ausdruck bringen wollen, dass wir uns von der Gewalt als einem konterproduktiven Mittel frei machen wollen, also nicht auf Gewalt “verzichten”, sondern etwas Schädliches aus dem Arsenal der Mittel “ausscheiden”.

Ich würde diese Selbstbindung an die gewaltfreie Aktion jetzt gerne ausführlich begründen. Diese Selbstbindung bildet das Fundament der ganzen Strategie. Dafür fehlt mir jetzt aber die Zeit. Am Otto-Suhr-Institut begleitete das Verhaltenstraining immer eine Vorlesung zur Strategie der gewaltfreien Aktion. Substanzieller Teil dieser Vorlesung war die Darlegung der zehn Gründe für die Selbstbindung an ausschließlich gewaltfreie Mittel. Sie finden diese im ersten Band meines jüngsten Buches über den Pazifismus.

Im Alltag wie in der großen Politik geht es um eine Grundsatzentscheidung für gewaltfreie Methoden und ihre Einübung. Das ist nicht allein eine Frage der richtigen Einsicht und gütigen Gesinnung, sondern eine Frage der praktischen, konsequenten Anstrengungen. Zu letzteren muss ich jetzt noch einiges sagen.

Einzelne haben in der Vergangenheit eine solche Entscheidung für gewaltfreies Verhalten getroffen. Sie haben erstens den Kriegsdienst verweigert, sie haben sich zweitens über gewaltfreie Aktionsmethoden informiert, sie haben sich drittens in Trainingskursen auf gewaltfreie Einsätze vorbereitet und sie wurden viertens zu abrufbaren Mitgliedern entsprechender Organisationen. Die Zahl derjenigen, die alle vier Verhaltensmerkmale aufweisen, ist sehr gering. Wahrscheinlich nimmt die Zahl derjenigen, die zwei und mehr der genannten Merkmale aufweisen in Zehnerpotenzen ab. Unter einer Million deutscher Kriegsdienstverweigerer sind vielleicht 100.000, die über die Methoden und die Strategie der gewaltfreien Aktion einigermaßen Bescheid wissen und unter diesen sind dann vielleicht 10.000 oder auch nur 2000, die auch schon mal an einem Training in gewaltfreier Aktion teilgenommen haben und unter diesen lassen sich dann ein paar Dutzend oder vielleicht auch ein paar Hundert finden, die ad hoc zum Einsatz in einem zivilen Friedensdienst fähig und bereit wären.

Auf dem Wege zur Zivilgesellschaft

Was sich in den vergangenen drei, vier Jahrzehnten in Europa auf dem Gebiet der gewaltfreien Aktion getan hat, ist im Vergleich zu früheren Zeiten eine ganze Menge, aber das Potenzial ist noch überhaupt nicht ausgeschöpft. Richtig wäre, wenn es von klein auf eine Einübung in die gewaltfreie Konfliktbearbeitung geben würde. Mit den Kindern wird tatsächlich einiges unternommen; es gibt eine erkennbare Tendenz, gewaltfreies Verhalten zu vermitteln. Die Zahl der Kinder, die von ihren Eltern ohne Schläge erzogen wurden, hat beträchtlich zugenommen. Körperliche Strafen wurden in den Schulen abgeschafft und es gibt auch Anleitungen für die Schüler, ihre Konflikte ohne Brachialgewalt zu bearbeiten. Im Blick auf die Kindererziehung ist die gewaltfreie Konfliktbearbeitung die geltende Norm. Ich sehe darin einen kulturellen Fortschritt in Richtung Zivilgesellschaft.

Fatal ist, dass den Erwachsenen kein umfassendes Konzept der gewaltfreien Konfliktaustragung vermittelt wird, sondern diesen im Blick auf wichtige Politikfelder - also der inneren Sicherheit und der Außenpolitik - immer wieder suggeriert wird, in gewissen Fällen sei die Androhung oder gar der Einsatz bewaffneter Gewalt nun mal unvermeidlich. Und dies wird hingenommen, statt die Forderung zu erheben: Wir wollen eine Ausbildung in gewaltfreier Konfliktbearbeitung, eine entsprechende Grundfinanzierung und Organisation und dann wollen wir sehen, ob man mit gewaltfreien Methoden nicht bessere Ergebnisse erzielen kann.

Konzepte einer Politik mit gewaltfreien Mitteln

Es gibt ziemlich weit ausgearbeitete Konzepte für den gewaltfreien Widerstand gegen Besatzungsregime und Putschisten. Sie werden in der Literatur zusammengefasst unter dem Stichwort “Soziale Verteidigung”, und es gibt auch Konzepte für den gewaltfreien Widerstand gegen etablierte Diktaturen. Mein amerikanischer Kollege Gene Sharp hat sich gerade darum bemüht. Diese Konzepte müssen an die jeweiligen Herausforderungen angepasst werden. Die praktischen Möglichkeiten lassen sich am besten von einheimischen Aktivisten vor Ort erkennen und nicht von auswärtigen Friedens- und Konfliktforschern. Diese können die Situation in bestimmten Ländern studieren und sich dann mit den einheimischen Widerstandskräften beraten. Man kann auch von auswärtigen Erfahrungen lernen. Martin Luther King hat Gandhis Methoden und Kampagnen studiert und Hildegard Goss-Mayr war auf den Philippinen vor dem Aufstand gegen den Diktator Marcos bei den Kirchen als Konfliktberaterin tätig. Solch internationaler Erfahrungsaustausch wäre sicherlich förderungswürdig. Leider geschieht auf diesem Gebiete wenig.

Ich habe einige Jahre geglaubt, dass die Grünen es ernst meinen mit ihrer programmatischen Erklärung, Politik mit gewaltfreien Mitteln treiben zu wollen. Es gab und gibt Leute bei den Grünen, welche dieses Ziel immer noch verfolgen, zum Beispiel der Politologe Roland Vogt, aber ich denke, dass die Mehrheit in der Partei noch nicht begriffen hat, was man unter Politik mit gewaltfreien Mitteln zu verstehen hätte. An der theoretischen Konzeption war nicht intensiv genug gearbeitet worden, als man in der Opposition noch Zeit und Gelegenheit dazu gehabt hätte. Jetzt im Alltag des Regierungsgeschäfts sehe ich dazu keine Chance.

Dies wird sich wahrscheinlich auch künftig in der Opposition nicht mehr ändern, wenn von außen keine Impulse kommen. Als ich von 1990 bis 1996 zum zweiten Mal Mitglied der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg war, hatte ich gehofft, dass unser Vorschlag, einen Zivilen Friedensdienst als Alternative zum Militärdienst aufzubauen, ein solcher Impuls von außen sein könnte. Der pazifistische Dachverband “Bund für Soziale Verteidigung” hat in dieser Angelegenheit mit uns zusammengearbeitet und diesen Impuls zu verstärken gesucht.

Der Impuls war nicht kräftig genug. Was wir heute als Zivilen Friedensdienst im Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit haben, ist ein personell und sektoral begrenzter, schwacher Abglanz des ursprünglichen Konzepts. Dass aus diesem Konzept nichts Bedeutendes wurde, lag meines Erachtens vor allem daran, dass es von der Elterngeneration ausgedacht worden war, aber die angesprochenen Nachgeborenen - um beim Begriff B. Brechts zu bleiben - keine Lust hatten, sich für dieses Experiment zu engagieren. Sie hofften auf die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht oder sie sahen, dass der Zivile Ersatzdienst immer kürzer wird. Es schien sich also für den Einzelnen nicht zu rentieren, sich für eine Alternative stark zu machen. Doch was wäre gewesen, wenn ein paar hundert oder gar mehrere tausend Kriegsdienstverweigerer und potentielle Zivildienstleistende gesagt hätten: Wir wollen diese Grundausbildung in gewaltfreier Konfliktbearbeitung und wir sind im Anschluss daran, im In- und Ausland auch zu entsprechenden Einsätzen bereit; wenn ihr, die Regierung, uns diese Ausbildung nicht anbietet und die Mittel für den Aufbau eines Zivilen Friedensdienstes nicht gewährt, dann werden wir den zivilen Ersatzdienst verweigern. - Das wäre dann eine neue konstruktive, gewissermaßen staatstragende Form der Totalverweigerung gewesen, die bisher eher als anarchistische Variante der Kriegsdienstverweigerung bekannt war.

Die Forderung nach einem Zivilen Friedensdienst im großen Maßstab

Wenn die Regierung vor der Wahl gestanden hätte, Hunderte oder gar Tausende von solchen Ersatzdienstverweigerern vor Gericht zu stellen und einzusperren, wäre sie wahrscheinlich auf diese Forderung nach einer Grundausbildung in gewaltfreier Konfliktaustragung eingegangen und hätte eine entsprechende Organisation aufzubauen gesucht.

Über die Gründe, warum es dazu nicht gekommen ist, lohnt es sich nachzudenken. Meines Erachtens war der Hauptgrund, dass die meisten Kriegsdienstverweigerer annahmen: Wenn du dich an die geltenden Regeln hältst, ist es für dich am bequemsten. Eine unmittelbare Gefahr, in einen Krieg zu geraten, sahen sie nicht. Das Entsetzen des Zweiten Weltkriegs kannten sie nur aus Dokumentationen im Fernsehen. Die lebendige, persönliche Erinnerung an den Krieg war also kein Motiv, dieses anstrengende Experiment des Aufbaus eines gewaltfreien Netzwerkes von Friedensbrigaden zu machen.

Für mich als 25jährigen war die Erinnerung an den Krieg und die massenhafte Vernichtung von Menschenleben das bestimmende Motiv gewesen, nach einer Alternative zu suchen. In einem System der wechselseitigen atomaren Abschreckung wollte ich nicht leben und Kinder zeugen. Gandhis Strategie der gewaltfreien Aktion und das Konzept des gewaltfreien Widerstands als Mittel der Verteidigungspolitik bot eine neue Perspektive. Meine Freunde und ich im Verband der Kriegsdienstverweigerer und im Versöhnungsbund wollten die mutual assured destruction durch eine gewaltfreie Alternative aufheben. Das war unser Beitrag zur historischen Dialektik.

Nach der glücklichen, gnädigen Wende von 1989 entfiel dieses Motiv für die Generation unserer Kinder. Die Deutsche Friedensgesellschaft / Vereinigte Kriegsdienstgegner gab die Parole aus “BRD ohne Armee”. Das war mir zu euphorisch. Die Beharrungstendenz erwies sich als übermächtig, und bald zeigten sich neue Einsatzfelder out of area. Die Bürgerkriege in Jugoslawien bedeuteten einen verheerenden Rückschlag für den europäischen Pazifismus, zumal einige Atompazifisten, welche den Krieg mit Massenvernichtungsmitteln abgelehnt hatten, sich nun für das peace enforcement auf dem Balkan aussprachen. Ich hatte das Gefühl, dass wir als Pazifisten wieder von vorne anfangen und ein stringentes Konzept für die Bearbeitung aller Konflikte mit gewaltfreien Mitteln erarbeiten müssen.

Training in gewaltfreier Konfliktbearbeitung

Ich habe in den 90er Jahren an der Freien Universität Trainingskurse in gewaltfreier Konfliktbearbeitung für Politologen angeboten. Ein Motiv für die Beteiligung an diesen Kursen war, dass die Studenten es lernen wollten, sich im Alltag gegenüber Gewalttätern zu behaupten oder bedrohten Frauen oder Ausländern in Berlin und Brandenburg zu helfen. Es ging um die Vorbereitung auf couragiertes Eingreifen in innenpolitischen Konflikten. Angela Mickley und später Christian Büttner haben mit mir jeweils einen vierstündigen, zweisemestrigen Kurs “Grundausbildung in gewaltfreier Konfliktbearbeitung” angeboten und wir haben unsere Trainingsprogramme in Werkstattbüchern dokumentiert.

Es hat vergleichbare Bemühungen, die Zivilcourage einzuüben, an mehreren Orten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz gegeben. Ich denke, dass diese Bemühungen auch etwas genutzt haben. Einige Trainer haben ihren Übungen einen theoretischen Hintergrund gegeben. Sie haben darauf hingewiesen, dass es hier darum geht, an einer Gesellschaft zu arbeiten, die alle innen- und außenpolitischen Konflikte mit gewaltfreien Mitteln zu bearbeiten sucht. Doch dies ist zurzeit in Europa kein großes Thema. Leider. Jetzt hätten wir Gelegenheit, für die Zukunft vorzusorgen, denn ich bin überhaupt nicht sicher, dass wir in den nächsten Jahren keine größeren Probleme haben werden als vierteljährliche Krankenkassengebühren, Dosenpfand oder, um Gewichtigeres zu nennen, den Mangel an Lehrstellen und die Rentenversicherung.

Charakteristisch für den aktuellen Stand der Theorie und Praxis der gewaltfreien Konfliktaustragung ist, dass wir auf vielen Konfliktfeldern eine Fülle von Erfahrungen mit der gewaltfreien Aktion als Alternative zu Resignation oder gewalttätiger Empörung gesammelt haben, dass aber ein Gesamtkonzept weitgehend fehlt. Es gibt wenige Forscher, die einen Überblick über die Methoden der gewaltfreien Aktion und die verschiedenen Felder ihres Einsatzes haben. Hier ist besonders der Amerikaner Gene Sharp zu rühmen, dessen enzyklopädisches Werk “The Politics of Nonviolent Action” nach wie vor das Grundlagenwerk ist.

Wir wissen mittlerweile relativ viel über den Einsatz gewaltfreier Protestmethoden durch Bürgerinitiativen und soziale Bewegungen in Demokratien. Es gibt auch zahlreiche Studien über Widerstand gegen Diktaturen. Im Falle des Nationalsozialismus stehen sie in der Regel unter dem Vorbehalt, dass dieser letzten Endes nicht durch unbewaffneten Widerstand überwunden worden sei, sondern durch den militärischen Sieg der Alliierten. Auch im Blick auf das Ende der kommunistischen Diktaturen gibt es eine gewisse Tendenz, die Vorbereitung auf die Wende durch gewaltfreie Aktionen kleiner Gruppen nicht ernst zu nehmen, sondern die Wende als eine Art historisches Wunder unter dem Label “Wahnsinn” in seiner Bedeutung für die allgemeine Strategie des gewaltfreien Widerstands gegen Diktaturen zu ignorieren.

Es gibt ja nach wie vor auf der Welt eine ganze Reihe von Diktaturen und Militärregimen, die ohne Waffengewalt überwunden werden müssten. Und es gibt einige Demokratien, die bei näherem Zusehen, diese Bezeichnung nicht verdienen. Es gibt also Bedarf für gewaltfreie Strategien, aber ihre Untersuchung wird kaum gefördert. Hie und da mal ein Promotionsstipendium, aber dies ist fast eine quantité négligeable. Das Merkwürdige ist nur, dass selbst solche kleinen Untersuchungen einzelner eine unverhältnismäßig große praktische Bedeutung erlangen können. Ich habe dies ja an meiner eigenen Dissertation “Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum Bürgerkrieg” gemerkt. Tausende von Kriegsdienstverweigerern haben sie zur Vorbereitung auf ihre schriftlichen Begründungen oder die Prüfungsverhandlungen gelesen. Walter Ulbricht hat sie auf seine Weise im “Neuen Deutschland” gleich zum Machwerk einer westdeutschen Zentrale der Konterrevolution hochgejubelt. Auf dem Gebiet der gewaltfreien Aktion kann man mit geringen Forschungsmitteln sehr viel bewirken.

Ungenutztes friedenspolitisches Potenzial

Die amerikanische Regierung hat viele Milliarden für den Krieg gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein ausgegeben, nachdem ihre Vorgänger zunächst viele Milliarden investiert hatten, um Saddam gegenüber dem Iran stark zu machen. Da fragt man sich doch: Warum wird nicht untersucht, ob und wie man solche Diktaturen mit gewaltfreien Mitteln überwinden könnte? Das geschieht meines Erachtens auch darum nicht, weil gewaltfreie Methoden nicht einfach Instrumente sind, die man simpel an Stelle von militärischen einsetzen könnte. Sie wirken dann, wenn diejenigen, welche sie anwenden, sie mit einer bestimmten konstruktiven Grundhaltung verwenden und zu entsprechenden Leistungen - auch materieller Art - bereit sind. Die gewaltfreie Aktion ist nicht einfach billiger als ein Krieg. Die mit solchen Einsätzen einhergehenden Hilfsprogramme kosten auch Geld und dieses muss wahrscheinlich im geförderten Lande ausgegeben werden. Und dies ist natürlich etwas anderes als das Auffüllen von Bomben- und Raketenarsenalen, das vollständig der eigenen Rüstungsindustrie zugute kommt.

Als ich 2001 auf den Spuren Martin Luther Kings durch die USA reiste, haben die amerikanischen Friedensorganisationen sich samt und sonders gegen den wirtschaftlichen Boykott des Irak ausgesprochen. Dieser treffe in erster Linie die irakische Bevölkerung, nicht die herrschende politische Klasse. Das fand ich interessant, weil man doch hätte meinen können: Der Boykott ist eine nichtmilitärische Maßnahme und findet darum die Unterstützung der Friedensorganisationen. Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Man muss untersuchen, wie sich bestimmte Maßnahmen auswirken.

Schwerwiegende Fehler im Rahmen gewaltloser Kampagnen

Es gibt hier einen erheblichen Forschungsbedarf. Man kann auch im Rahmen von gewaltfreien Kampagnen schwerwiegende Fehler machen. Man kann nicht so einfach sagen: Greife zu gewaltfreie Methoden und dann geht alles wie von selbst! Zum Beispiel war es im Mai 1989 ein schwerer Fehler, dass die Studenten in Peking vom Platz des Himmlischen Friedens nicht abgezogen sind, sondern es auf die Konfrontation mit den Panzern haben ankommen lassen. Es war eben eine andere Situation als in Prag 1968. Der Volksaufstand des 17. Juni 1953 und insbesondere die nicht durchsetzbare Forderung nach freien Wahlen haben das Ulbricht-Regime nach dem Einsatz der sowjetischen Panzer eher gestärkt als geschwächt.

Solche Fragen der Dosierung und der Auswahl gewaltfreier Widerstandsmaßnahmen sind schwer zu beantworten. Es lohnt sich, eine große Zahl von gewaltfreien Kampagnen zu studieren, um realistische Einschätzungen vornehmen zu lernen.

Ich sage dies auch deswegen, weil ich in pazifistischen Kreisen immer wieder auf eine gewisse Tendenz stoße, das Schwergewicht auf die spirituelle Seite der gewaltfreien Aktion zu legen. Die gütige Grundhaltung des gewaltfreien Akteurs ist wichtig. Wer den Gegner hasst und ihm auf die gewaltfreie Tour mit List und Tücke eine reinwürgen will, wird keinen Erfolg haben. Das Wohlergehen auch des politischen Gegners im Auge zu haben, gehört zu den Grundmustern der gewaltfreien Strategie. Doch es heißt auch in der Bibel zu Recht: Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben. Zu dieser Klugheit gehören Kenntnisse und Erfahrungen. Dadurch entwickelt man mit der Zeit ein gewisses Fingerspitzengefühl für die richtigen Entscheidungen auf dem Gebiet der Strategie und Taktik der gewaltfreien Aktion.

Dafür lohnt es die Kampagnen Gandhis und Kings en detail zu studieren. Dies habe ich mit den Politologiestudenten immer wieder getan und dies kann ich jedem von Ihnen empfehlen. Lesen Sie Gandhis Autobiographie “Meine Experimente mit der Wahrheit” oder die wenigen knappen Bücher, die Martin Luther King geschrieben hat, angefangen mit seinem Bericht über den Busboykott von Montgomery im Jahre 1956! Man kann auch zu Biographien Gandhis und Kings greifen. Es gibt mehrere gute in deutscher Sprache. Ansonsten empfiehlt sich eine Fachzeitschrift wie “Gewaltfreie Aktion. Vierteljahreshefte für Frieden und Gerechtigkeit”, weil sich darin Fallstudien, aktuelle Berichte und strategische Konzepte finden lassen.

Der spirituelle Faktor der gewaltfreien Strategie

Ich habe in meinem Referat darauf abgehoben, die gewaltfreie Aktion als Instrument einer darauf fußenden Strategie der Konfliktbearbeitung zu verstehen. Dies ist ein einseitiges Verfahren. Ich hätte auch nach den spirituellen Grundlagen der gewaltfreien Aktion fragen können. Das ist auch sinnvoll. Was motiviert einen Menschen, sich für einen anderen einzusetzen oder die eigene Würde zu behaupten und dies durchzuhalten, wenn schweres Leid angedroht wird? Was nutzen einem Menschen in solcher Lage all die angelesenen Kenntnisse über gewaltfreien Widerstand? Wenn er in nackter Todesangst das Wasser nicht mehr halten kann, dann nutzt ihm doch das ganze Wissen um Strategie und Taktik der gewaltfreien Aktion gar nichts!

Das ist wahr. In solche Situationen kann man geraten. Und dann weiß keiner im Voraus, wie er sich verhalten wird. Das war die Situation Jesu im Garten Gethsemane. Woher sollen wir wissen, wie wir uns in vergleichbarer Situation verhalten würden - wenn die Gefangennahme unmittelbar bevorsteht oder wenn man dann eingesperrt und verhört wird - ob mit oder ohne Folter? Das Vorausbedenken solcher Situationen gehört mit zur Strategie der gewaltfreien Aktion. Ich bin in eine solche Situation noch nie geraten; ich habe sie gelegentlich bedacht und ich habe mit Menschen gesprochen, die im Gefängnis gesessen haben und gefoltert wurden. Ein eindrucksvolles literarisches, gar nicht heroisches, doch sehr humanes Zeugnis ist der autobiographische Roman Eginald Schlattners “Rote Handschuhe”, der in Rumänien von der Securitate gefoltert und dadurch zum Verrat an seinen Schriftstellerkollegen und sogar an seinem leiblichen Bruder gebracht worden ist. Doch auch nach diesen Gesprächen sage ich: Es ist ganz wichtig, dass man die gewaltfreie Aktion als ein Instrument sieht, das klug einzusetzen ist und das man studieren kann. Die meisten, die sich an gewaltfreien Kampagnen beteiligen, werden nicht in die Extremsituation eines Jesus im Garten Gethsemane oder eines Petrus und Paulus in Rom oder eines Eginald Schlattner kommen, sondern werden in Bezugsgruppen von Freunden gut geplante, gewaltfreie Aktionen durchführen, bei denen die Risiken - auch die zu erwartenden Sanktionen - kalkulierbar sind. Und es ist die Aufgabe der Strategie der gewaltfreien Aktion, die Kampagnen und die einzelnen taktischen Züge so anzulegen, dass das Risiko beschränkt bleibt. Man darf nicht sagen: Je mehr Leiden der gewaltfreien Akteure, desto mehr Erfolg! Ich bin sehr skeptisch gegenüber der Märtyrergeschichte meiner Kirche im Stile von “Das Blut der Märtyrer ist der Samen der Kirche”. Glücklicherweise hat sich das Urchristentum mit sehr viel sanfteren Methoden ausgebreitet, nicht zuletzt durch konstruktive Hilfeleistungen - und sei es auch nur die Bereitschaft zur Beerdigung angeschwemmter, unbekannter Wasserleichen.

Mir wäre es viel lieber, Martin Luther King wäre infolge gewisser Vorsichtsmaßnahmen nicht erschossen worden und würde heute in der amerikanischen Politik noch ein kräftiges Wörtchen mitreden. Ich finde es gut, dass wir in den gewaltfreien Bewegungen der Bundesrepublik ohne solch exponierte Führungsfiguren wie Gandhi und King ausgekommen sind. Dass auf Rudi Dutschke geschossen wurde, war schon schlimm genug. Wenn Menschen durch die Medien zu sehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden, ist dies eine schwere psychische Belastung. Für den gemeinsamen Tod Petra Kellys und Gert Bastians, mit denen ich im Bund für Soziale Verteidigung eng zusammengearbeitet habe, gibt es bestimmt mehrere Ursachen, aber ein Grund war sicher, dass die Wechselbäder zwischen Hochjubeln und Fallenlassen von uns Menschen so schwer auszuhalten sind. Auch Martin Luther King war zeitweilig sehr deprimiert, und der weise Gandhi hat ganz eigene Methoden entwickelt, sein seelisches Gleichgewicht wieder herzustellen - durch Fasten und Schweigen und auch durch den Rückzug vor der Öffentlichkeit in seinen Ashram.

Im Rückblick

Ich habe diesen Vortrag begonnen mit dem Hinweis auf Goethes Friedensverständnis und sein Interesse am Leben der Bauern und der Bürger in der Champagne. Als ich 24-jährig damit anfing, mich intensiv mit gewaltfreien Aktionen zu befassen und Gandhis Kampagnen zu studieren, war meine Phantasie sehr darauf fixiert, in den Kategorien heroischer Lebensläufe zu denken. Das passt wahrscheinlich auch zu diesem Alter. So großartig ist es dann in meinem Leben nicht zugegangen. Gott sei Dank! Ich war an vielen gewaltfreien Kampagnen von Bürgerinitiativen und Sozialen Bewegungen mehr oder weniger intensiv beteiligt und ich bin dabei, dies autobiographisch ad usum delphini zu überliefern. Doch rückblickend und im Vergleich zum Leben meiner Freunde wird mir deutlich, wie wichtig es ist, den Einsatz für gewaltfreie Aktionen mit einem einigermaßen normalen Familienleben zu verbinden. Das Wichtigste ist die Ausdauer, das Durchhalten, auch wenn man dann über längere Zeit nur kleine Brötchen bäckt.

Als junger Mensch neigt man dazu, sich die gewaltfreie Aktion als ein großes Medienereignis, als Massenbewegung vorzustellen. Das kommt vor, aber das ist nicht die Regel; es ist, wie Max Weber den Beruf zur Politik beschrieben, ein zähes Bohren von harten Brettern. Was ich im Rückblick als die größte Belohnung empfinde, ist - abgesehen von den sicher wichtigen kleinen politischen Erfolgen - der Umstand, dass ich in diesen Initiativen und Bewegungen viele feine Menschen kennen und auch in der Sache einiges dazu gelernt habe. Jetzt hoffe ich, dass mir noch die Zeit gegeben ist, es in einer ansprechenden Form aufzuschreiben, denn für die mündliche Vermittlung ist es nun mal zu viel Stoff. Dies ist mir auch während dieses Vortrags, den ich als Stückwerk und wenig systematische Abfolge von Schlaglichtern empfinde, wieder überdeutlich geworden. Ich bitte um Verzeihung und danke für Ihr geduldiges Zuhören.

Veröffentlicht am

23. Dezember 2004

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