PRO ASYL zieht Bilanz: schlimmes Jahr für FlüchtlingeVon Karl Kopp Das Jahr 2004 war ein schlimmes Jahr für den Flüchtlingsschutz. Dieses Fazit zieht rückblickend die bundesweite Arbeitsgemeinschaft PRO ASYL. Deutschland und die europäischen Nachbarstaaten haben ihre Versuche, sich der Flüchtlinge auf Kosten anderer Staaten zu entledigen, fortgesetzt. Die Asylpolitik der Europäischen Union strebt nicht den Schutz von Flüchtlingen, sondern den Schutz Europas vor Flüchtlingen an. Ausdruck dieser Politik der Abwehr und Abschottung: Die Zahl der Toten an den Außengrenzen steigt, die Asylzahlen in Europa und in Deutschland befinden sich im freien Fall.
Die EU der 25 hat nicht nur zugelassen, dass einzelne Mitgliedsstaaten, wie Italien, gegen elementare Völkerrechtsstandards verstoßen, sondern auch aktiv den kollektiven Ausstieg aus dem Völkerrecht forciert. PRO ASYL kritisiert, dass Deutschland beim europäischen Überbietungswettbewerb der Flüchtlingsabschreckungsstrategien eine Vorreiterrolle einnimmt. Bundesinnenminister Schily steht für einen rigiden Umgang mit Flüchtlingen im Inland und für den aktuellen Versuch, die EU durch die Auslagerung des Flüchtlingsschutzes weitgehend flüchtlingsfrei zu machen. Innerhalb Deutschlands stehen einigen Verbesserungen im Zusammenhang mit dem Zuwanderungsgesetz drastische Negativentwicklungen gegenüber. Besonders markant: Der Trend beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Menschen, denen bereits einmal der Flüchtlingsstatus gewährt wurde, mit Widerrufsverfahren in großem Stil zu überziehen. Ca. 17.000 abgeschlossene Widerrufsverfahren werden es am Ende des Jahres sein. Karl Kopp ist Europareferent von PRO ASYL e.V. und Vorstandsmitglied von ECRE (Europäischer Flüchtlingsrat) ——- Anhang: Ein schlaglichtartiger JahresüberblickJanuar: Bei der Vorstellung der Asyljahresstatistik 2003 macht Bundesinnenminister Otto Schily Mitte Januar klar, wie er den niedrigsten Stand der Asylbewerberzugangszahlen seit 1984 politisch zu nutzen gedenkt: “Diese positive Entwicklung wird die laufenden Verhandlungen zum Zuwanderungsgesetz sicherlich erleichtern.” PRO ASYL wirft dem Bundesinnenminister aus Anlass der drastisch zurück gegangenen Anerkennungsquoten vor, mit einer “Quantitätsoffensive” die auf Standard-Textbausteinen basiert eine Zukunft ohne Flüchtlinge zu planen. Februar: Am 02. Februar holen Beamte des Bundesgrenzschutzes (BGS) aus einem Frankfurter Krankenhaus eine im Flughafen-Asylverfahren abgelehnte psychisch kranke Tunesierin ab und schieben sie trotz zuvor ärztlich attestierter Suizidgefahr ab. Einen Arzt hat der BGS gleich mitgebracht. Der Fall ist typisch: Abschiebungen unter Einschaltung willfähriger Ärzte, die ihr ärztliches Ethos auf die Feststellung der Flugreisetauglichkeit beschränken, häufen sich. März: Pogromartige Ausschreitungen im Kosovo zeigen, wie brisant die Situation dort weiterhin ist. Opfer werden auch hunderte Angehörige der Ashkali-Minderheit in Vucitrn, die aus ihrem Wohnviertel vertrieben werden und fordern, in EU-Staaten aufgenommen zu werden. Obwohl die Situation der Minderheiten bis zum Jahresende prekär ist, fehlt es zwei Innenministerkonferenzen im Juli und November an der Bereitschaft, daraus die notwendige Konsequenz - die Gewährung eines Bleiberechts - zu ziehen. April: Am 29. April 2004 einigen sich die europäischen Innenminister politisch auf die sogenannte Verfahrensrichtlinie. Sollte diese Richtlinie in dieser Form angenommen werden, würde dies eine weitgehende Auslagerung des Flüchtlingsschutzes in Herkunftsregion oder Transitstaaten ermöglichen. Die EU wäre umgeben von einem Ring angeblich sicherer Drittstaaten. Mit der Richtlinie können Asylsuchende beispielsweise künftig europaweit von Grenzbeamten ohne Einzelfallprüfung in neue sichere Drittstaaten zurück gewiesen werden. Diese heißen dann u. a.: Russland, Weißrussland, Ukraine, Rumänien, Bulgarien, Serbien, Kroatien, Mazedonien, Albanien und Türkei - Staaten, in denen Menschenrechtsverletzungen noch immer an der Tagesordnung und Flüchtlingsrechtsstandards nicht vorhanden sind. Mai: Die EU wird mit der Aufnahme neuer Mitglieder größer. Flüchtlinge scheitern immer häufiger an den östlichen Grenzen der Beitrittsstaaten. Die Asylsysteme in diesen Staaten sind bereits überfordert. Die Regelung über die sicheren Drittstaaten wird ersetzt durch die Dublin II-Verordnung. Deutschland schiebt verstärkt unter Missachtung der humanitären Regelungen dieser Verordnung Flüchtlinge in die Vertragsstaaten ab. In mehreren der neuen EU-Staaten werden Asylsuchende während des Verfahrens regelmäßig inhaftiert. Juni: Das EU-Parlament wird gewählt. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass ein stärkeres Parlament mehr als bisher Rechenschaft fordert über die flüchtlingspolitischen Maßnahmen der Union und höhere Standards für den Flüchtlingsschutz durchsetzt. PRO ASYL appelliert an die neuen Abgeordneten, die Schaffung neuer sicherer Drittstaaten abzulehnen. Juli: Die Innenministerkonferenz Anfang Juli geht wieder einmal an allen Realitäten vorbei. Obwohl die Lage im Irak chaotisch ist, begrüßt sie die Aktivitäten des Bundesinnenministers, der das Bundesamt zur Einleitung einer Vielzahl von Widerrufsverfahren gegen anerkannte Flüchtlinge aus dem Irak animiert hat. Beifall für völkerrechtswidriges Verhalten. Ebenfalls Juli: Nervenkrieg vor Sizilien um die Aufnahme von 37 Schiffbrüchigen, die das deutsche Schiff Cap Anamur aufgenommen hat. Bundesinnenminister Otto Schily versucht, die Crewmitglieder auf eine Stufe mit Schleppern und Schleusern zu stellen. August: Während europäische Innenminister neue Lager in Afrika planen, weist die Flüchtlingsorganisation U.S. Committee for Refugees darauf hin, dass von knapp 12 Millionen Flüchtlingen und Asylsuchenden weltweit 7,35 Millionen bereits länger als zehn Jahre unter katastrophalen Bedingungen in Lagern leben - ohne Perspektive. Laut UNHCR ist die Zahl der Asylanträge in den Industriestaaten im ersten Halbjahr 2004 auf den niedrigsten Stand seit 1987 gefallen. In den 20 EU-Staaten, für die Daten vorliegen, sank die Zahl gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 16 Prozent. Während die “alten” EU-Staaten einen deutlichen Rückgang verzeichneten, stieg die Zahl in den sechs erfassten neuen EU-Staaten um 31 Prozent. September: Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg sowie die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen bringen beträchtliche Erfolge für rechtsextreme Parteien. Diese haben ihren Wahlkampf mit explizit ausländer- und flüchtlingsfeindlichen Parolen gestaltet. Oktober: Kontinuierlich werden aus Italien mit einer Luftbrücke an den Küsten gestrandete Menschen nach Libyen abgeschoben - ohne Prüfung ihres Einzelschicksals und ihrer Fluchtgründe, ohne Rechtsschutz, ohne Dokumentation. Anlässlich der deutsch-italienischen Konsultationen in Rom lassen die Vertreter der deutschen Regierung den Völkerrechtsbruch der Massenabschiebungen ohne Asylprüfung ungerügt. PRO ASYL appelliert an das Europaparlament und die EU-Kommission den Rat zu drängen, den Tabubruch Italiens zu sanktionieren. November: Die Innenministerkonferenz in Lübeck kann sich wieder einmal nicht zu den notwendigen Beschlüssen durchringen und nimmt damit in Kauf, dass Zehntausende weiterhin auf Dauer lediglich mit einer Duldung leben. Bezüglich afghanischer Staatsangehöriger wird ein vertraulicher Beschluss gefasst, der die Betroffenen verunsichert: Bestimmte Ausnahmen von der Rückkehrverpflichtung sollen dann gelten, wenn gleichzeitig mit Abschiebungen begonnen wird. Dezember: Die Jahresendabschiebungs-Rallye ist im Gang. Vor In-Kraft-Treten des Zuwanderungsgesetzes sollen offenbar auch potenzielle Härtefälle außer Landes geschafft werden. Kranke werden abgeschoben mit Begleitärzten. Familienmitglieder werden bei der Abschiebung getrennt. Es trifft auch Familien, die seit zehn Jahren und länger in Deutschland leben. Quelle: PRO ASYL vom 29.12.2004. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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