Wurzeln des Terrorismus und Lösungsversuche im globalen ZusammenhangVon Hildegard Goss-Mayr Stilles GedenkenBevor wir uns der dramatischen Situation unserer Tage stellen, wollen wir in Stille aller Opfer des Terrorismus gedenken: vom World Trade Center über Bali, Moskau, Israel, die Philippinen, Beslan, … wie auch der Opfer der militärischen Repression in Tschetschenien, Afghanistan, Palästina, dem Irak …. Keine fertigen AntwortenNiemand hat für dieses so komplexe, umfassende Problem eine fertige Antwort. Es wäre vermessen, dies vorzugeben. Doch in jeder Epoche müssen wir uns als Christen, sowie als verantwortliche Bürger, den Herausforderungen der Zeit stellen und uns nach Spuren des Wirkens des Geistes Gottes in dieser geschichtlichen Stunde befragen, die Wege aus der Krise weisen. In diesem Sinne möchte ich heute Abend lediglich versuchen, a) einige Wurzeln des Terrorismus zu benennen, b) einige Lösungsvorschläge aus der Perspektive des Evangeliums und humaner Weltgestaltung aufzuzeigen, c) und die Frage nach unserer eigenen Verantwortung zu stellen. Sicher wird es dazu unterschiedliche Meinungen geben, und vieles wird offen bleiben. “Der Wolf von Gubbio”Als biblischen Ausgangspunkt möchte ich die Erzählung “Der Wolf von Gubbio” von Franz von Assisi setzen, der, das ist meine Überzeugung, unter jene Christen zählt, die in der westlichen Welt die Botschaft Jesu am tiefsten erfasst haben. Sie öffnet uns in gleicher Weise ein Tor zur Analyse der Situation wie zu konkreten Lösungsversuchen.
Merkmale, die aus dieser Geschichte abzuleiten sindTerrorismus In unseren Tagen ist das Untier der TERRORISMUS. Ich persönlich, wie die gewaltfreie Bewegung, in deren Rahmen ich arbeite, bin der Überzeugung, dass Töten mit politischer Zielsetzung immer verwerflich ist, in besonderer Weise jedoch dann, wenn es sich nicht gegen eine unterdrückerische Regierung, eine Besatzungsmacht, wirtschaftliche Ausbeutung usf. richtet, sondern gegen unschuldige Kinder, Frauen, Zivilisten. Regionale Begrenzung - globaler Zusammenhang Angst und Gegengewalt Dasselbe gilt für die Situation des Terrorismus und daraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen: Die Menschen leben in Angst, etwa in den Siedlungen in Israel oder in den USA Die Angst wird jedoch politisch ausgenützt, hochgezüchtet wie z.B. in den USA durch Falschmeldungen von Bedrohung, nicht zuletzt, um politische Maßnahmen durchsetzen zu können: Geld für Aufrüstung, Überwachungsmechanismen, die sogar Bürgerrechte einschränken, Demokratieabbau (Russland), Mauerbau auf dem Gebiet des Gegners (Israel/Palästina), Verstärkung der Polizeiapparate (EU - der gläserne Mensch). Zielsetzung ist, laut US-Präsident, die Ausrottung des Untiers. Wie in der Parabel von Gubbio sind die Maßnahmen gegenüber dem Untier Terrorismus vorwiegend Abschirmung und militärische Interventionen, d.h. Gegengewalt. Die dramatischen Erfahrungen der letzten Jahre lassen uns jedoch eindeutig erkennen, dass
Wie in Gubbio erweist sich die gewaltsame Konfliktaustragung als erfolglos. Schritt aus der Spirale der Gewalt: den Andern ansehen, seine Bedürfnisse erkennenFranz verurteilt eindeutig das Verhalten des Untiers: Du hättest einen schrecklichen Tod verdient, weil du menschliches Leben zerstörst. Doch er tut den entscheidenden Schritt, um die Spirale der Gewalt zu durchbrechen: er stellt sich dem Untier - das Unrecht wird nicht vertuscht - jedoch nicht mit Macht der Waffen , sondern im Geist Jesu mit der Kraft der Gewaltfreiheit, indem er eine friedliche, politische Lösung anstrebt. Um das zu erreichen, stellt er als erstes die Frage nach den URSACHEN, nach den WURZELN der Gewalt, des Terrorismus, d.h. nach den unerfüllten Grundbedürfnissen der gegnerischen Seite. Das Untier ist hungrig: es hat essentielle Bedürfnisse, die erkannt und in Gerechtigkeit wahrgenommen werden müssen. Wir müssen also die Frage nach den Wurzeln des heutigen Terrorismus stellen. Wurzeln des heutigen TerrorismusSie sind vielfältig. Ich möchte nur einige wesentliche Punkte erwähnen: Armut Kriege werden um Grundstoffe geführt. Ein Beispiel ist die Demokratische Republik Kongo: Dort wurde Ende der 90er Jahre vier Jahre Krieg geführt, mit drei Millionen Toten. Sieben afrikanische Staaten wurden in den Krieg verwickelt, ethnische Gruppen gegeneinander ausgespielt. Es ging um den Zugang zu Gold, Edelsteinen, Coltan und anderen Edelmetallen für internationale Unternehmen. Tausende Kinder wurden zu mörderischen Soldaten gemacht. Die Verelendung der Bevölkerung stieg unermesslich. In solchen Situationen liegt der Nährboden für Terrorismus! Missachtung der nationalen Würde, vor allem im islamisch-arabischen Bereich
Dies sind lediglich zwei Beispiele wie in Völkern, deren Würde mit Füßen getreten wird, Freiheitskämpfer, potentielle Selbstmordattentäter, Terroristen geboren werden. Strömungen von religiösem Fanatismus und Fundamentalismus in Islam, Christentum, Hinduismus, Judaismus, Buddhismus … Diese Minderheiten drohen - vor allem in den säkularisierten Gebieten der Welt- ein falsches Bild der Religionen und deren friedenschaffenden Möglichkeiten und Taten zu geben. Verbrecherische Geldgier (Lösegelder), Hass, Lust am Quälen, Ausübung von Rache sind als weitere, diabolische Ursachen des Terrorismus zu nennen. Sie werden nicht selten von schwer verletzten, traumatisierten Menschen verübt. LösungsversucheFranziskus zähmt das Untier, indem er es in seiner Wesensart anerkennt und seine Grundbedürfnisse sichert. Er trocknet so den Nährboden seiner Gewalt aus und führt ein Zusammenwirken von dem befriedeten Untier und der befreiten Bevölkerung herbei. Wir können an diesem Beispiel auch Hinweise für die Zielrichtung auf eine Minderung bzw. Bewältigung des Terrorismus erkennen: Das Umdenken der extremistischen Führungselite ist eine andere Frage. Bei Wegfall der Unterstützung können sie jedoch ihre Pläne nicht weiter durchführen, sie sind entmachtet. Sie von ihrer Ideologie, Machtbesessenheit oder dem religiösem Fanatismus abzubringen, ist eine Frage der Einsicht, der Umkehr - oder auch des Pragmatismus. Es liegt nicht in unseren Händen. Uns obliegt es nur, Zeugnis zu geben und nicht zu vergessen, dass Terroristen oft verletzte Personen sind, die, wie jeder Mensch, in sich die Möglichkeit zur Umkehr tragen. Armutsbekämpfung ist in diesem Zusammenhang von höchster Bedeutung. Wir müssen uns mit aller Entschiedenheit für gerechte Nord/Süd-Handelsbeziehungen einsetzen. Das verlangt ein gerechteres Teilen der Güter der Erde: z.B. Verminderung der Agrarsubventionen in der EU, stabile Preise für Produkte aus den Entwicklungsländern und Exportmöglichkeiten für diese, wie z.B. für Baumwolle aus Ostafrika; tatkräftige Unterstützung des fairen Handels. Im Millenniumjahr wurde versprochen, bis 20015 Trinkwasser für alle Menschen zu sichern und die Zahl der Hungernden der Welt zu halbieren. Die Finanzierung hiefür fehlt jedoch bis heute! Alle fünf Sekunden stirbt laut UN-Bericht ein Mensch an Folgen des Hungers! Um die Situation im Süden der Welt zu verbessern, setzen sich christliche Kirchen für eine Kontrolle der internationalen Wirtschafts- und Handelsinstitutionen und deren Abkommen durch die UNO ein (WTO, Weltbank, Gats). All das sind Aufbrüche, die in die richtige Richtung gehen. Sie treffen jedoch nicht entschieden genug die Strukturen, die Armut und Unrecht begründen. Eine große Arbeit der Meinungsbildung und Ausübung von moralisch-politischem Druck ist zu leisten. Jede/r von uns trägt dabei Mitverantwortung. Achtung der nationalen Würde und friedliche Konfliktlösung vor allem dort, wo muslimische Bevölkerung betroffen ist. Einige Beispiele seien angeführt: a) Philippinen/Mindanao: Die Philippinen bestehen aus 2000 Inseln, die sich in drei regionale Gruppen teilen: der Norden mit der Hauptstadt Manila, die Vesayas (mittlere Gruppe) und der Süden mit der Hauptinsel Mindanao. Die Philippinen waren Teil eines muslimischen Reiches bis zur Eroberung und Christianisierung durch Spanien. Die muslimische Minderheit in Mindanao (drei Millionen) gab den Befreiungskampf nie auf und leistete friedlichen wie auch bewaffneten Widerstand. Neben anderen Lösungsversuchen hatte Ninoy Aquino, der unter dem Regime von Fernando Marcos 1984 ermordete Oppositionsführer, einen Friedensplan erarbeitet, den seine Witwe, Präsidentin Cory Aquino, der muslimischen Widerstandsbewegung persönlich vorlegte. Doch verhinderten militärische Interventionen die Durchsetzung der Lösungsvorschläge. In den letzten Jahren mehrten sich terroristische Überfälle auf Touristen und 2003 kam es praktisch zu einer Kriegssituation in Mindanao. Es gab viele Opfer und Hunderttausende Binnenflüchtlinge, vor allem Frauen und Kinder. In dieser auswegslosen Situation entwickelte sich in den Philippinen seit 2001 eine nationale Föderalismusbewegung mit dem Ziel, eine föderale Verwaltung zu errichten. Eine konstitutionelle Konvention zu dieser Frage ist für Herbst 2004 vorgesehen. Die Bewegung findet beachtliches Interesse der Präsidentin und des Senats. In Mindanao wird im Rahmen eines föderalen Systems von Muslimen wie auch von Christen die Errichtung eines selbstverwalteten Bangsamoro-Staates erhofft. In diesem Zusammenhang besuchte vom 11.-18. September 2004 eine hochkarätige, 8-köpfige Delegation die Schweiz, um deren föderale Strukturen zu studieren. So erarbeiteten sich Vertreter von Muslim-Organisationen, dem Friedensbüro der Regierung, der nationalen föderalistischen Bewegung und der Kirche Grundkenntnisse des Föderalismus. Vor allem aber - und das war eine wesentliche Erfahrung - lernten die Delegierten sich kennen und bauten persönliche, achtungsvolle Kontakte untereinander auf. Der Prozess soll bis 2010 abgeschlossen sein. Es besteht begründete Zuversicht, dass so Terrorismus und Blutvergießen in Mindanao beendet werden können. b) Israel/Palästina: Obgleich gerade in dieser Region die Spirale der Gewalt unaufhörlich eskaliert und Terrorismus/Befreiungskampf/Repression immer neue Nahrung erhalten, und obgleich die Friedensbewegung auf beiden Seiten wenig Erfolge sieht, sollen deren unermüdliche, seit Dekaden durchgeführten Bemühungen hervorgehoben werden. Sie helfen, die Grundlagen für eine friedliche Konfliktlösung in Gerechtigkeit, für gegenseitiges Verständnis und Achtung, für Demokratie und Menschenrechte zu legen. Israelische und palästinensische Frauenbewegungen spielen dabei eine hervorragend kreative Rolle. Mehrere dieser Bewegungen sind dem Internationalen Versöhnungsbund angeschlossen. Nicht zu vergessen ist auch der Friedensplan, der 2003 in Genf vorgelegt wurde, ausgearbeitet von einem israelischen Abgeordneten der Arbeiterpartei und einem ehemaligen palästinensischen Minister. Er fand breite internationale Unterstützung und schlug erstmals realistische Lösungen für das Problem der palästinensischen Flüchtlinge wie für die Verteilung des Wassers und die Stadt Jerusalem vor. Noch fehlt der politische Wille zur Durchsetzung. c) Frankreich: Kehrtwende der Muslime in Frankreich zu Vernunft und Anerkennung der laizistischen Republik. September 2004 In Frankreich leben 5 Millionen Muslime (8,5% der Bevölkerung). Die Mehrzahl stammt aus dem Mahgreb. Sie gehören unterschiedlichen Strömungen des Islam an, von demokratisch moderaten bis islamistischen. Es darf nicht übersehen werden, dass die deprimierenden Lebensbedingungen für Jugendliche der 2. Einwanderergeneration in den HLM (Gemeindebauten) der Vororte - sie sind entwurzelt, arbeitslos, chancenlos - bewirken, dass diese äußerst ansprechbar für Radikalisierung und Gewalt sind. Nach langen, heftigen Diskussionen wird von der Regierung das “Kopftuchgesetz” erlassen: es besagt, dass es verboten ist, religiöse Insignien an öffentlichen Schulen zu tragen z.B. Kipa, Kopftuch oder Ordenskleid. Es tritt mit Schulbeginn 2004 in Kraft. Kurz davor werden zwei französische Journalisten, Christian Chesnot und Georges Malbrunot, im Irak gekidnappt. Als Bedingung für die Freilassung wird die Aufhebung des Kopftuchgesetzes binnen 24 Stunden gefordert. Angesichts dieser Erpressung nehmen die muslimischen Führer Frankreichs zum ersten Mal gemeinsam Stellung. Sie weigern sich, der Erpressung zuzustimmen. In den Moscheen rufen alle Imane zur Befolgung des Gesetzes auf. Zu Schulbeginn befolgen die allermeisten Mädchen das Gesetz und versorgen ihr “foulard” in der Schultasche. Eine hochrangige Delegation des Französischen Rates für muslimischen Kult reist nach Bagdad und verhandelt mit dem Komitee der muslimischen Oulemas (Sunniten), um die Freilassung der Journalisten zu erwirken: 25 europäische muslimische Institutionen schließen sich dem Appell an. Es ist eine eindeutige Absage an den Terrorismus als Instrument der muslimischen Religion. Es handelt sich hier um ein ebenso abruptes wie tiefes Umdenken der französischen Muslime. Man kann sagen, es ist die Geburtsstunde des “französischen Islam”. Bisher hatte der Islamische Rat immer die Frage offen gelassen, ob sie im Zweifelsfall der Scharia oder der Republik Vorrang geben. Nun haben sie ohne Zögern eine klare Wahl getroffen: nicht als französische Muslime sondern als muslimische Franzosen. Sie lassen sich nicht ihr Verhalten von außen durch irgendwelche djihad-Verfechter oder islamistische Armeen diktieren. Im Gegenteil: sie suchen sich davon abzugrenzen. Eine bedeutungsvolle Rolle bei diesem - vielleicht für ganz Europa wichtigen Vorgang - spielt die Tatsache, dass Frankreich den Irak-Krieg nicht unterstützte. Eine Herausforderung bleibt jedoch aufrecht:
Dies gilt in gleicher Weise für Österreich und alle EU-Staaten. Auch für uns heißt es: den Islam wirklich kennen zu lernen, Freundschaft aufzubauen; die liberalen Muslime zu unterstützen, Aufstiegsmöglichkeiten für Einwanderer sowie humane gesetzliche Grundlagen zu schaffen. Nur auf diesem Weg kann man Gewalt vorbeugen, sie abfangen. Es geht also, wie in der Geschichte von Gubbio, um Anerkennung und Durchsetzung von größerer Gerechtigkeit. Zeugen der LiebeZum Abschluss möchte ich an jene Christen erinnern, meist Ordensleute, die unseren islamischen Schwestern und Brüdern auf der tiefsten Ebene menschlicher Existenz begegnen, indem sie ihr Leben einsetzen, um in deren Mitte jene Liebe zu bezeugen, die Jesus uns vorgelebt und aufgetragen hat. Durch ihre liebende Gegenwart bis zum Tod helfen sie, Vorurteile, Hass und Gewalt in Herzen und Strukturen auch der “Terroristen” und Fanatiker zu überwinden. Ich schließe mit dem Zeugnis aus dem Testament des Priors der Trappistenmönche von Thibirine, Algerien, die 1996 von der islamistischen GIA ermordet wurden:
Wir danken Hildegard Goss-Mayr, dass sie uns ihr Vortragsmanuskript freundlicherweise für die Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat. ——- Dr. Hildegard Goss-Mayr ist eine der profiliertesten Persönlichkeiten der christlichen Friedensbewegung. Seit den 50er Jahren setzt sie sich sowohl in zahlreichen Publikationen als auch in ihrer praktischen Friedensarbeit für eine Kultur der Gewaltfreiheit ein. Stationen Ihrer Arbeit waren u.a. Brasilien, Mexiko, Mosambik, Angola, Libanon, Israel, Philippinen, Rumänien und Rwanda. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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