Der Mutlosigkeit Paroli bietenVon Howard Zinn - Erschienen auf TomDispatch* / ZNet vom 24. Mai 2005 24.05.2005
Nach 42 Jahren wieder einmal nach Spelman eingeladen zu werden - das ehrt mich zutiefst. Mein Dank gilt der Fakultät, den Trustees, die für meine Einladung stimmten und vor allem Universitätspräsidentin Dr. Beverly Tatum; zudem empfinde ich es als besonderes Privileg, dass auch Diahann Carroll und Virginia Davis Floyd hier sind. Aber im Grunde ist es doch euer Tag - ihr Studierenden, die ihr heute euer Studium abschließt - ein glücklicher Tag für euch und eure Familien. Ich weiß, Sie alle hegen eigene Hoffnungen für Ihre Zukunft. Daher ist es vielleicht etwas vermessen, Ihnen von meinen Hoffnungen für Sie zu erzählen - es sind die gleichen Hoffnungen wie für meine Enkel. Zuerst einmal hoffe ich, dass der derzeitige Zustand der Welt Ihnen nicht allzu viel von Ihrem Mut nimmt. Unsere Nation befindet sich im Krieg - ein weiterer Krieg, in einer Reihe von Kriegen - , da kann einen leicht der Mut verlassen, und unsere Regierung scheint entschlossen, ihr Imperium weiter auszudehnen - selbst um den Preis Zehntausender Toter. In Amerika gibt es überfüllte Klassen, es gib Armut, Obdachlosigkeit und Menschen ohne Krankenversicherung. Was fängt unsere Regierung mit ihrem Haushalt von mehreren Billionen Dollar an? Sie setzt den Reichtum für Kriege ein. Eine Milliarde Menschen in Afrika, Asien, Lateinamerika, dem Nahen und Mittleren Osten benötigen sauberes Wasser und Medikamente gegen Krankheiten wie Malaria, Tuberkulose oder Aids. Aber unsere Regierung, die schon jetzt über Tausende von Atomwaffen verfügt, experimentiert lieber mit noch tödlicheren Nuklearwaffen. Stimmt - das alles kann einem schon den Schneid abkaufen. Lassen Sie mich erzählen, weshalb sie trotz allem, was ich beschrieben habe, nicht den Mut verlieren dürfen. Erinnern wir uns - vor 50 Jahren war die Rassentrennung im Süden der Vereinigten Staaten noch so tiefverwurzelt wie damals die Apartheid in Südafrika. Unsere nationale Regierung sah weg, wenn Schwarze verprügelt oder getötet wurden, wenn man ihnen das Wahlrecht vorenthielt. Das war selbst unter liberalen Präsidenten wie Kennedy oder Johnson noch so. Also beschlossen die Schwarzen im Süden der Vereinigten Staaten, selbst zu handeln. Sie veranstalteten Sit-ins, Boykotte, sie demonstrierten und standen Posten. Dafür wurden sie verprügelt und eingesperrt, einige sogar getötet, aber ihr Ruf nach Freiheit erscholl im ganzen Land, auf der ganzen Welt. Und Präsident und Kongress taten, was sie bislang versäumt hatten, sie setzten den 14. und 15. Zusatz unserer Verfassung endlich durch. Viele glaubten, ‘Der Süden’ werde sich niemals ändern - aber er tat es. Der Süden änderte sein Gesicht, weil ganz normale Leute sich organisierten und das Risiko auf sich nahmen, das System herauszufordern. Sie gaben einfach nicht auf. Das ist es, was der Demokratie Leben einhaucht. Ich möchte Sie auch an den Vietnamkrieg erinnern. Damals fanden viele junge Amerikaner den Tod oder kamen behindert zurück. Unsere Regierung ließ vietnamesische Dörfer bombardieren, Schulen und Hospitäler, sie tötete Massen von Vietnamesen - normale Vietnamesen. Den Krieg stoppen zu wollen, schien damals hoffnungslos. Aber wie bei der Bewegung im Süden, gab es auch hier wieder Leute, die zu protestieren anfingen. Der Funke sprang über. Bald hatten wir eine nationale Bewegung. Heimkehrende Soldaten kritisierten den Krieg, die jungen Leute weigerten sich, Soldat zu werden. Also musste der Krieg enden. Die Geschichte (des Südens und des Vietnamkriegs) lehrt uns eine Lektion: Verzweifle nicht - wenn du im Recht bist und durchhältst, wirst du Veränderung bewirken. Die Regierung mag versuchen, die Leute zu täuschen - auch Presse und Fernsehen - aber die Wahrheit wird einen Weg finden. Die Wahrheit ist mächtiger als hundert Lügen. Ich weiß, für Sie stehen jetzt viele praktische Entscheidungen an - einen Job finden, heiraten, Kinder. Vielleicht werden Sie eines Tages reich und erfolgreich sein - in der Definition dieser Gesellschaft (Wohlstand, Position, Prestige). Für ein gutes Leben reicht das aber nicht aus. Erinnern wir uns an Tolstois “Der Tod des Iwan Iljitsch”. Iwan liegt auf dem Sterbebett und grübelt. Er hat alles richtig gemacht. Er hat die Regeln befolgt, ist Richter geworden, hat ein paar Kinder gezeugt. Jeder betrachtet ihn als erfolgreichen Mann. Aber in seinen letzten Stunden denkt er darüber nach, weshalb er sich als Versager fühlt. Die Geschichte erinnert an Tolstois eigenes Leben. Tolstoi war ein gefeierter Novellist, als er beschloss: Halt, das ist zuwenig. Ich muss meine Stimme erheben - gegen die Art, wie mit der russischen Bauernschaft umgesprungen wird, gegen Krieg und Militarismus. Ich hoffe, was immer Sie in der Welt treiben werden, um ein gutes Leben zu haben (Lehrer, Sozialarbeiter, Geschäftsmann, Poetin, Juristin oder Wissenschaftlerin), Sie vergessen darüber nicht, Ihr Leben dafür einzusetzen, Ihren Kindern - und auch allen übrigen Kindern - eine bessere Welt zu schaffen. Ich hoffe, eure Generation wird ein Ende der Kriege fordern und endlich tun, was noch keine zuvor in der Geschichte wagte: die nationalen Grenzen beseitigen, die uns von den anderen Menschen auf diesem Planeten trennen. Vor kurzem sah ich auf dem Cover der New York Times ein Foto, das mir seither nicht mehr aus dem Kopf geht. Es zeigt ein paar ganz normale Amerikaner. Sie sitzen auf Stühlen und blicken von Arizona aus zur mexikanischen Grenze. In ihren Händen halten sie Gewehre und warten auf Mexikaner, die versuchen, über die Grenze in die USA zu gelangen. Ich war geschockt, denn ich erkannte: Das vergangene Jahrhundert war das erste sogenannte Jahrhundert der “Zivilisation”, und wir haben es genutzt, um Hunderte künstliche Entitäten zu schaffen; was wir als eine Welt bezeichnen, haben wir in Hunderte kleine Einheiten aufgesplittert, die wir “Nationen” nennen. Und jeden, der unsere Grenze überschreitet, sind wir bereit zu töten. Der Nationalismus - diese Hingabe an eine Flagge, eine Nationalhymne, eine Grenze, die so bösartig ist, dass sie zum Morden führt - , ist er nicht, neben Rassismus und religiösem Hass, eines der größten Übel unserer Zeit? Die (nationalistische) Denkungsart wird uns von Jugend auf eingeflößt, man indoktriniert uns damit und kultiviert sie. Denn sie nützt denen an der Macht - für die Machtlosen hingegen ist sie tödlich. In den USA wird uns von Kindesbeinen an beigebracht zu glauben, unsere Nation sei anders als die andern. Sie bilde die große Ausnahme in der Welt - eine durch und durch moralische Nation. Wir marschieren in andere Länder ein, um ihnen Zivilisation, Demokratie und Freiheit zu bringen. Wer sich mit der Geschichte auskennt, weiß, dass das nicht stimmt. Wenn Sie sich etwas mit unserer Geschichte auskennen, ist Ihnen klar, wir haben auf diesem Kontinent Indianer massakriert, wir sind in Mexiko einmarschiert, wir haben Bewaffnete nach Kuba und auf die Philippinen entsandt. Wir haben viele, viele Menschen auf dem Gewissen. Wir haben ihnen weder Freiheit noch Demokratie gebracht. Auch in Vietnam sind wir nicht einmarschiert, um ihnen Demokratie zu bringen, wir sind nicht in Panama einmarschiert, um den Drogenhandel zu stoppen, und in Afghanistan und den Irak sind wir nicht einmarschiert, um den Terrorismus zu stoppen. Unsere Ziele waren Ziele, wie sie alle Imperien in der Menschheitsgeschichte hatten - wir wollten höhere Profite für die Konzerne und mehr Macht für Politiker. Unsere Künstler und Poeten scheinen besser begriffen zu haben, was für eine Seuche der Nationalismus ist. Vor allem schwarze Dichter scheinen den vorgeblichen amerikanischen Tugenden “Freiheit” und “Demokratie” weniger auf den Leim zu gehen. Ihre Leute bekommen diese Tugenden schließlich wenig zu spüren. So widmete der große afro-amerikanische Poet Langston Hughes seinem Land folgende Verse: You really haven’t been a virgin for so long. You’ve slept with all the big powers Being one of the world’s big vampires, Ich bin Veteran des Zweiten Weltkriegs - eines Kriegs, der als “guter Krieg” gilt. Ich persönlich bin zu der Überzeugung gelangt, Kriege können die fundamentalen Probleme nicht lösen. Krieg führt nur zu noch mehr Kriegen. Der Krieg in den Köpfen der Soldaten veranlasst sie zum Töten und Foltern und vergiftet die Seele der Nation. Ich hoffe, eure Generation wird die Forderung erheben: Unsere Kinder sollen in einer Welt ohne Kriege aufwachsen. Wenn wir eine Welt wollen, in der die Menschen aller Länder sich als Brüder und Schwestern fühlen, und wenn wir die Kinder dieser Welt als unsere Kinder betrachten (Kinder sind die größten Opfer in jedem Krieg), werden wir den Krieg als Lösungsweg nicht akzeptieren. Von 1956 bis 1963, also insgesamt sieben Jahre, war ich in der Fakultät des Spelman College tätig. Es war eine herzerwärmende Zeit. Die Freunde, die wir damals fanden, sind es bis heute. Ich wohnte mit meiner Frau Roslyn und unseren beiden Kindern auf dem Campus. Wenn wir in die Stadt fuhren, wurden wir manchmal von Weißen gefragt: ‘Wie lebt es sich in der schwarzen Gemeinde?’ Was soll ich sagen? Wir fühlten uns in Downtown Atlanta wie Fremde, aber wenn wir auf den Campus zurückkehrten, kamen wir heim. Die Jahre in Spelman waren die aufregendsten meines Lebens - zumindest die lehrreichsten. Ich habe von meinen Studenten mehr gelernt als sie von mir. Es waren die Jahre einer großartigen Bewegung im Süden, die sich gegen die Rassentrennung stellte. Ich war dabei - in Atlanta, Albany, in Georgia, Selma, Alabama, in Hattiesburg, in Mississippi, in Greenwood, in Itta Bena und Jackson. Ich erhielt eine Lektion in Sachen Demokratie: Demokratie geht nicht von der Regierung aus, von den Leuten da oben, Demokratie kommt von den Leuten, von Leuten, die sich zusammentun und gemeinsam für Gerechtigkeit kämpfen. Ich habe auch etwas über “Rassen” gelernt, ich habe begriffen, was jeder intelligente Mensch früher oder später begreift: Die “Rasse” ist eine Erfindung, eine künstliche Angelegenheit. Natürlich spielt sie eine Rolle (wie Cornel West schreibt), aber nur, weil bestimmte Leute wollen, dass sie eine Rolle spielt. Genauso verhält es sich mit dem Nationalismus, auch er ist im Grunde eine künstliche Angelegenheit. Ich habe gelernt, was wirklich zählt - dass wir alle Menschen sind und einander wertschätzen - die sogenannte “Rasse” oder “Nationalität” ist unerheblich. Ich hatte das Glück, in einer Zeit am Spelman tätig zu sein, als eine wundersame Wandlung mit unseren Studierenden vor sich ging. Gerade waren sie noch still und höflich, dann fuhren sie in die Stadt und machten Sit-ins. Sie wurden verhaftet, und wenn sie herauskamen, waren sie plötzlich feurig und atmeten den Geist der Rebellion (lesen Sie dazu Harry Lesevers Undaunted by the Fight). Ich hatte damals in Spelman eine Studentin namens Marian Wright - heute Marian Wright Edelman. Sie war eine der Ersten, die sich in Atlanta an Sit-ins beteiligten. Eines Tages kam Marian zu unserem Haus auf dem Campusgelände, um uns eine Petition zu zeigen, die sie vorhatte, ans Schwarze Brett der Schlafräume zu heften. Die Überschrift zeigte, welche Verwandlung mit Spelman vor sich ging. Marian schrieb über die Petition: ‘Young Ladies, wer sich in der Lage sieht, Posten zu stehen, bitte unten eintragen’. Ich hoffe, Sie sind nicht damit zufrieden, erfolgreich zu sein - erfolgreich im Sinne der Gesellschaft. Ich hoffe, sie werden keine Regeln befolgen, die ungerecht sind. Ich hoffe, Sie werden den Mut, der in Ihnen steckt (davon bin ich überzeugt), auch ausleben. Es gibt und gab wunderbare Menschen - Weiße und Schwarze. Sie können Ihnen Vorbild sein. Ich denke dabei nicht an Afro-Amerikaner wie Condoleezza Rice, Colin Powell oder Clarence Thomas, die zu Servicepersonal der Reichen und Mächtigen wurden. Ich denke an W.E.B. DuBois, an Martin Luther King, Malcom X und Marian Wright Edelman, ich denke an James Baldwin und Josephine Baker. Und natürlich gab es auch viele gute Weiße, die sich gegen das Establishment stellten und sich für Frieden und Gerechtigkeit einsetzten. Eine meiner Studentinnen in Spelman, deren Freundschaft uns durch all die Jahre begleitete - so, wie die Freundschaft zu Marian Wright - stammt aus einer Pachtfarmer-Familie aus Eatonton/Georgia. Heute ist Alice Walker eine berühmte Autorin. Eines ihrer ersten Gedichte, das veröffentlicht wurde, geht so: It is true — Soweit müssen Sie gar nicht gehen. Aber Sie könnten mithelfen, die Barrieren niederzureißen - Rassenbarrieren und sicher auch nationalistische. Bitte tun Sie, was in Ihrer Macht steht - Sie müssen keine heroischen Taten vollbringen, aber tun Sie etwas. Damit verbünden Sie sich mit Millionen, die auch etwas tun. An irgendeinem Punkt in der Geschichte vereinen sich all die kleinen Taten und machen eine bessere Welt möglich. Zora Neale Hurston ist eine mitreißende afro-amerikanische Schriftstellerin. Sie hat nicht getan, was die Weißen von ihr erwarteten, sie tat auch nicht, was die Schwarzen von ihr erwarteten. Sie beharrte auf dem, was sie selbst wollte. Hurston sagt, ihre Mutter habe ihr folgenden Rat gegeben: ‘Spring hoch zur Sonne - vielleicht erreichst du sie nicht, aber wenigstens hebst du vom Boden ab’. Sie, die Sie hier schon auf Zehenspitzen, zum Absprung bereit, stehen - ich hoffe, Sie werden ein gutes Leben haben. Copyright 2005 Howard Zinn Howard Zinn ist Autor des internationalen Bestsellers: A People’s History of the United States; Aktuell bei Seven Stories Press erschienen: Voices of a People’s History of the United States von Howard Zinn u. Anthony Arnove. Auf Deutsch erhältlich von Howard Zinn: Amerika, der Terror und der Krieg, Marx in Soho, Künstler in Zeiten des Kriegs.
Quelle: ZNet Deutschland vom 25.05.2005. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: Against Discouragement Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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