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Ende von “Klein-Utopia”

Vor 25 Jahren räumte und zerstörte die Polizei die “Republik Freies Wendland” im Gorlebener Wald

Von Reimar Paul

Die Polizei kam im Morgengrauen. Am 4. Juni 1980 räumten rund 10 000 Beamte die von Atomkraftgegnern im Gorlebener Wald errichtete “Republik Freies Wendland”. Die Staatsmacht führte ein Bürgerkriegsmanöver durch: mit Panzern, Bulldozern sowie ständig startenden, landenden und im Tiefflug über die Hütten donnernden Hubschraubern. Viele Polizisten und Grenzschützer hatten sich vermummt und ihre Gesichter geschwärzt. Sie zerrten die auf dem Boden sitzenden Demonstranten aus der Menge und luden sie auf der anderen Seite der Absperrungen wieder ab. Wer Widerstand leistete, erhielt Tritte oder Knüppelschläge. Die Bulldozer walzten die Hütten platt.

33 Tage zuvor, am 3. Mai, hatten Tausende Umweltschützer die Tiefbohrstelle 1004 über dem Gorlebener Salzstock besetzt, ein Hüttendorf errichtet und zur “Republik Freies Wendland” erklärt. Die Aktion sollte die weitere Erkundung des Salzstocks stoppen, in dem Atomwirtschaft und Politik ein Endlager bauen wollten - und immer noch wollen.

Auf dem sandigen Boden errichteten die Besetzer Dutzende Häuser aus Baumstämmen, Stroh und sogar aus Glas. Ein Küchengebäude entstand, ein großes Rundhaus für Versammlungen, eine Batterie von Latrinen, ein Schweinestall und ein Passhäuschen mit Schlagbaum, wo “Wendenpässe” für die Bewohner ausgestellt wurden und über dem die grün-gelbe Wendlandfahne flatterte.

“Ein Gewirr von Hütten”

Ein aus Berlin angereister Reporter bewunderte das “fast unüberschaubare Gewirr von Hütten, sehr schönen großen Rundhäusern mit Dachterrassen bis hin zu Erdhäusern und Indianerzelten”. Das “Nordrhein-Westfalen-Haus” war eine Reihenhausanlage aus fünfeckigen, wabenförmig zusammenhängenden Hütten mit kleinen Innenhöfen. Viele hundert aufeinandergeschichtete, leere Flaschen isolierten das Frauenhaus gegen Hitze und Kälte. Das “Haus der Architekten” bestand aus Glasfenstern und -türen. “Hackys Loch” war eine mehrere Meter tiefe Erdhöhle.

Das “Fritz-Teufel-Haus” musste für die Anschuldigung der Lüneburger Bezirksregierung herhalten, die “Republik Freies Wendland” sei ein Refugium für Terroristen. Auch die beiden hohen Türme im Dorf boten Anlass zur Stimmungsmache. “Dort oben haben sie Wachs für die Bullen”, zitierte Bild einen fiktiven Besetzer.

In den ersten Tagen brachte ein Bauer Wasser in einem großen Tank ins Hüttendorf. Später wurde eine Bohrung niedergebracht, das Wasser gelangte mittels einer Handpumpe ins Dorf. Fortan konnten so auch die von einer Baumschule gespendeten Büsche und Kiefersetzlinge, die wegen der Trockenheit und des Sandbodens einzugehen drohten, begossen werden. Es gab sogar Sonnenduschen und ein Schwitzbad in der “Republik Freies Wendland” - das Wasser in den Tanks wurde durch einfache Solarzellen erwärmt.

An den Wochenenden wurden die 500 bis 700 ständigen Platzbesetzer von Tausenden Besuchern förmlich überrollt. Das Dorf wurde zur touristischen Attraktion für Familienausflüge und Kaffeefahrten. Viele Gäste unterstützten die Atomgegner und ihre Protestaktion, brachten Lebensmittel und Werkzeug vorbei. “Eines Abends tauchen unverhofft ein paar Damen im Abendkleid und Herren im Smoking auf und überreichen etwas verlegen Platten mit Häppchen, die von einer Geschäftseinweihung übriggeblieben sind”, schrieb eine Zeitung.

Auch Zivilpolizisten nisteten sich auf dem Platz ein; sie wurden enttarnt und nach Hause geschickt. Dann beunruhigte eine Serie von Brandanschlägen die Dorfbewohner: In einer Nacht legten Unbekannte im Infozelt Feuer. Sie zerstörten auch eine Kamera, stahlen Stempel für die Wendenpässe und Broschüren. Da man weitere Anschläge befürchtete und zudem akute Waldbrandgefahr bestand, wurden Brand- und Nachtwachen eingerichtet.

Kein Tag verging ohne Kulturprogramm. Umsonst und draußen oder im Freundschaftshaus spielten Rockbands, Folkgruppen, Theaterkollektive. Einmal gab es ein Puppentheaterstück über die Bauernkriege. Am neunten Tag der Besetzung errichteten Göttinger Theologiestudenten eine Holzkirche; zum ersten Gottesdienst kamen 100 Leute. Die Hannoversche Landeskirche erließ ein Predigtverbot für einen Pfarrer aus Gartow.

Am 18. Mai strahlte “Radio Freies Wendland” seine erste Sendung aus, Hunderte Dorfbewohner versammelten sich zur Live-Übertragung am Lautsprecherwagen. Es gab mehrere Sendungen mit Liedern, Berichten aus dem Dorf und Interviews; auch die Räumung wurde direkt übertragen. Viele Polizisten hörten mit: “?Radio Freies Wendland? tönt unentwegt aus dem kleinen Transistorradio, das ein Kollege mitführt. So erfahren wir auch das, was wir nicht sehen können”, zitierte die taz einen Polizisten.

Kontroverse Diskussionen

Während sich viele im Dorf auf die Gestaltung eines alternativen Lebens konzentrierten, gab es im “Sprecherrat” heftige Kontroversen zwischen den Atomkraftgegnern aus dem Landkreis und denen aus den Städten. Soll die “Republik Freies Wendland” bei einer Räumung verteidigt werden? Wenigstens symbolisch, durch Jauchebeschuss, durch Barrikaden? Nachdem man sich nicht einigen konnte, ob Barrikaden noch gewaltfreie Widerstandsmittel sind, schritten ihre Befürworter zur Tat. Sie hoben auf den Zufahrtswegen Gruben aus und trugen starke Äste zusammen. Nach einer Intervention des Bürgermeisters, der mit der Besetzung sympathisierte, dem Sperren der Gemeindewege aber nicht zustimmte, wurde beschlossen, die Hindernisse wieder abzubauen.

Das Verhältnis der Dorfbewohner, so haben es viele Beteiligte erlebt und beschrieben, war trotz der Spannungen und Konflikte von Vertrauen und Nähe geprägt. Eine Lehrerin: “Ich hab mich über jeden gefreut, der neu angekommen ist. Das waren ja alles Leute, die was Ähnliches wollten wie du selbst, ich hätte jedem um den Hals fallen können”. Lilo Wollny (Jahrgang 1926): “Auf dem Platz, als ich die Leute gesehen hab, hatte ich andauernd das Gefühl, ich muss die irgendwie in den Arm nehmen, und ich hab das auch gemacht”. Marianne von Aleman (Jahrgang 1930): “Was sich hier herausgebildet hat, das Zusammengehörigkeitsgefühl, das ist ein unwahrscheinliches Erlebnis für uns”.

Es gab in der “Republik Freies Wendland” eine weitgehende Identifizierung von Erbauern und Erbautem - und auch deswegen bei der Räumung viele Tränen. “Was da in Klein-Utopia einstürzte, ist die Architektur einer Welt ohne Hiroshima”, urteilte die Zeit. Und der - inzwischen verstorbene - Gewerkschafter und Umweltschützer Heinz Brandt schrieb: “Das Antiatomdorf war nicht allein gegen die tödliche Atomenergie gerichtet, sondern Symbol neuer Lebensweise überhaupt”.

Quelle: junge Welt vom 04.06.2005. Wir veröffentlichen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

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Veröffentlicht am

08. Juni 2005

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