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Totalitäre Techniken

Im Gespräch: Der Linguist und Essayist Noam Chomsky über die Demokratisierung im Irak und die Liebe zu Amerika

Noam Chomsky gilt als einer der renommiertesten Sprachwissenschaftler der Gegenwart. Weltweit bekannt wurde er durch seine radikale Kritik der US-Außenpolitik und der Präventivkriegsdoktrin, wie sie von der Bush-Regierung vertreten wird.

FREITAG: Derzeit vergeht kein Tag ohne Anschläge im Irak. Sie haben den Angriffskrieg der USA auf dieses arabische Land immer vehement kritisiert und sich auch nicht dadurch umstimmen lassen, dass inzwischen immerhin allgemeine Wahlen möglich waren.

NOAM CHOMSKY: Ja, weil Bushs Invasion nichts mit den Demokratisierungen im Irak und der sonstigen arabischen Welt zu tun hatte. Die ersten freien Wahlen in der Region fanden bereits 1999 in Katar statt, und der größte Demokratisierungsimpuls kam von dem Fernsehsender al Jazeera. Im Übrigen hat die Bush-Regierung nach meinem Eindruck auf unterschiedliche Weise versucht, die Wahlen am 30. Januar im Irak zu verhindern. Sie ließ die Verfassung ändern und installierte ein Delegiertensystem, das sie kontrollieren konnte. Dagegen richtete sich massenhafter Widerstand - womit ich nicht die Attentäter mit ihren Bomben meine -, sondern den passiven, gewaltfreien Widerstand unter der Symbolfigur des Großayatollah al-Sistani, der Amerikanern und Briten keine andere Wahl ließ, als das Votum am 30. Januar zuzulassen. Die Besatzungsmächte torpedieren eine Demokratisierung im Irak, indem sie erklären, es werde auch weiterhin kein verbindliches Datum für ihren Abzug geben.

Wie sollte sich die Linke in Europa, speziell in Deutschland, zu dieser Politik verhalten?

Europa kann eine unabhängige Kraft in der internationalen Politik werden …

… aber gerade das wird ja von den Kritikern eines Euro-Imperialismus befürchtet.

Warum? Seinen eigenen Weg zu gehen, muss nicht heißen, gegen die USA anzukämpfen, sondern das zu tun, was in europäischem Interesse als richtig empfunden wird, etwa im Nahen Osten. Wenn sich der israelisch-arabische Konflikt erneut zuspitzen sollte, täte die EU mit einer eigenständigen Nahostpolitik gut daran, die USA zu ignorieren und dort die Probleme zu lösen, die lösbar sind.

Mit anderen Worten, Sie denken an eine “good cop - bad cop Inszenierung”, die uns Europa und die USA bieten sollten?

Das zu tun, würde bedeuten, Opfer einer Ideologie zu sein, die Staaten als Einheiten sieht und die Menschen mit ihren Betroffenheiten ignoriert. Europa und die USA sind doch keine in sich widerspruchsfreien Einheiten. Die Menschen hier wie dort haben so ziemlich die gleichen Interessen und sind auf die gleiche Weise den herrschenden Klassen ihrer jeweiligen Staaten aus- und entgegengesetzt. Wir sollten uns daher nicht von einer Propaganda verführen lassen, die sich darin gefällt, die Chimäre von der nationalen Einheit zu beschwören.

In den USA wird Ihnen nicht zuletzt wegen Ihrer Irak-Position Anti-Amerikanismus vorgeworfen. Lieben Sie Amerika?

Was für eine Frage? Das liegt doch auf der Hand. Aber was ist Amerika? Wenn Sie mit Amerika die Staatsgewalt meinen, dann sage ich: Nein. Ich mag Staatsgewalt auch nirgendwo sonst. Im Grunde handelt es sich bei dieser Unterscheidung in pro- und anti-amerikanisch um ein Konzept aus dem Fundus totalitärer Herrschaftstechniken. Auch Dissidenten in der alten Sowjetunion wurden gern als “anti-sowjetisch” verdammt. Stellen Sie sich vor, jemand in Italien kritisiert Berlusconi, käme dann jemand auf die Idee, ihn als “anti-italienisch” zu bezeichnen?

Noch nicht.

Ja, noch nicht. Der Vorwurf des Anti-Amerikanismus verrät ein lächerliches Gebaren. Deshalb muss die Antwort auf die Frage: “Pro- oder anti-amerikanisch?” die Dekonstruktion der Frage selbst sein.

Das Gespräch führte Markus Euskirchen

Die Schüsselressorts in der derzeitigen Regierung des Irak

  • Premierminister: Ibrahim Jaafari (Vereinigte Koalition der irak. Schiiten)
  • Stellv. Premierminister: Rowsh Nuri Shaways (Allianz der Kurdenparteien)
  • Stellv. Premierminister: Ahmad Jalabi (Vereinigte Koalition der irak. Schiiten)
  • Stellv. Premierminister: unbesetzt, der sunnitischen Allianz “Iraker” vorbehalten
  • Innenminister: Bayan Jabr (Turkmenische Irakische Front)
  • Außenminister: Hoshiar Zibari (Allianz der Kurdenparteien)
  • Minister für Erdölwirtschaft noch unbesetzt
  • Verteidigungsminister: noch unbesetzt
  • Finanzminister: Ali Allawi (Neffe von Ahmad Jalabi/Vereinigte Koalition … )
  • Planungsminister: Barham Saleh (Allianz der Kurdenparteien)
  • Frauenministerin: Azhar Sheikhli (unabhängig)
  • Justizminister: Abdelhussein Shandal (Vereinigte Koalition … )

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 23 vom 10.06.2005. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

14. Juni 2005

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