Die betrogenen Mütter Amerikas
Von Robert Fisk - ZNet 19.11.2005
Sie reden von Patriotismus, aber Patriotismus allein genügt nicht.
Es kommen einem Gedanken an Vietnam.
Ich sitze in einer Kneipe an New Yorks 44ster Straße, unschlüssig, wie ich den Beiden begegnen soll - Sue Niederer und Celeste Zappala. Ich habe Angst, man könnte ihre Story leicht ins Seichte interpretieren, Angst, die Veteranentags-Botschaft der beiden Frauen könnte verloren gehen, sobald der Marsch vorbei ist. Bei der diesjährigen New Yorker Parade zum Veteranentag hatte man sie und ihre kleine Gruppe ‘Veteranen gegen den Krieg’ ans Ende des Zuges verbannt und gedemütigt. Die Frauen tragen die Erinnerung an ihre Jungs mit sich, die in den Irakkrieg zogen und junge Frauen zurückließen, Jungs, die in Särgen heimkehrten.
Als ich später mit den Beiden zusammensitze, fällt mir ein, wie ich bei Khan Dari (amerikanisches) Blut über die Straße spritzen sah, wie ich die 82nd Airborne im Zentrum von Falludscha Gehirnmasse von der Straße waschen sah, und ich erinnere mich an eine Leiche unter einer Abdeckplane, die ich im Norden Bagdads sah. Ja, ich habe die amerikanischen Leichen gesehen. Hier nun die amerikanischen Mütter.
Sue verlor ihren Sohn Seth am 3. Februar 2004. Er war nahe Iskanderiya, südlich von Bagdad, auf der Suche nach “improvisierten Explosivvorrichtungen” (die berüchtigten IED [Improvised Explosive Devices]). IEDs sind jene Straßenrandbomben, die bereits Hunderten von Amerikanern das Leben gekostet haben. Plötzlich ging neben Seth eine versteckte Bombe hoch.
Datumszahlen sind für Sue sehr wichtig. Immer wieder ruft sie sie sich in Erinnerung - als würde dadurch alles besser. Vielleicht ergibt die Immoralität von Seths Tod ja doch irgendeinen Sinn? Ich habe das starke Empfinden - vielleicht überinterpretiere ich an dieser Stelle -, dass Sue glaubt, ihren Sohn durch die Erinnerung an die zeitlichen Daten wieder ins Leben zurückzurufen, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Seths Hochzeit war am 26. August 2003, 5 Tage später der Abmarsch in den Irak. Seine junge Frau heißt Kelly. Sie hatte kaum Zeit, ihren Mann kennen zu lernen. Am 1. Januar 2004 bekam Seth Urlaub - bis zum 17. Januar. Drei Wochen später war er tot.
Sues Stimme wird lauter - Zorn, Empörung, Courage - so laut, dass sie den Lärm dieses New Yorker Imbisses übertönt und die lauten Stimmen zweier Veteranen, die am unteren Ende unseres Tisches sitzen und sich gegenseitig hochnehmen. “Ich weiß noch genau, was mein Sohn sagte, als es nach zwei Wochen Urlaub wieder zurückging: ‘Ich weiß nicht, wer mein Feind ist. Es ist ein sinnloser, unnützer Krieg, ein Religionskrieg. Wir werden ihn nie gewinnen.’ Er wurde nicht getötet, er wurde ermordet - von der amerikanischen Regierung. Er war da draußen und suchte nach IEDs. Er fand so ein Ding, stoppte seinen Konvoi - und flog in die Luft. Für mich war das ein Selbstmordkommando”.
Ich kenne Iskanderiya, den Ort, an dem Seth starb - eine abgelegene Sunnitenstadt südlich von Bagdad: “throat-cutting country”. Neben Kanälen und Palmenhainen unterhalten hier die Aufständischen ihre eigenen bemannten Checkpoints. Vietnam kommt mir in den Sinn. Die Stimmen am Tisch sind jetzt gedämpfter. Die Bedienung bringt uns Pizza, Pepsi, Rotwein. In der Mitte des Tisches ein amerikanisches Fähnchen. Hier sitzen Ex-Soldaten und Mütter und reden von Patriotismus. Inzwischen scheinen sie sich jedoch mit Schwester Edith Cavell einig: Patriotismus allein genügt nicht.
Celeste Zappala hatte einen Sohn namens Sherwood. Er starb am 26. April letzten Jahres. Er starb eines ebenso tragischen wie sinnlosen Todes. Sherwood sollte eine Gruppe Militärinspekteure begleiten, die nach Präsident Bushs ominösen Massenvernichtungswaffen suchten. Als sie eine Bagdader Parfümfabrik durchsuchten, ging diese hoch.
“Er stieg aus der Fahrerkabine seines Trucks, um den Verletzten zu helfen, als plötzlich, wie aus heiterem Himmel, Trümmerstücke herunterfielen und ihn trafen”, so Celeste. “Als sie zu ihrer Mission aufbrachen, hieß es, sie würden einen Kleinlaster benutzen, ausgestattet mit Ausrüstungsgeräten, die es erlauben, Bomben fern zu zünden, bevor man das Ziel erreicht. Ausgerechnet an diesem Tag war der Laster kaputt, und der britische Offizier sagte, sie sollten ohne ihn (den Speziallaster) zu ihrer Mission aufbrechen. Nie werde ich vergessen, dass mein Sohn nur einen Monat nach jenem Pressevideo mit George W. Bush starb, auf dem zu sehen ist, wie Bush sich über die Suche nach Massenvernichtungswaffen lustig macht, er tut so, als suche er sie unter seinem Tisch. Bush hat sich über die Tatsache lustig gemacht, dass er jene Waffen nicht finden konnte - aber mein Sohn starb, während er nach ihnen suchte, dabei haben sie doch gar nicht existiert”.
Ihr Sohn Sherwood und seine 28jährige Ehefrau Deborah haben einen kleinen Sohn. “Wir sagen ihm, dein Vater war ein Held”, so Celeste. “Für uns ist er das, er war ein nobler Mensch”. 1997 ging Sherwood zur Nationalgarde. Wie viele amerikanische Soldaten im Irak wollte er auf diese Weise seine College-Schulden loswerden. “Er sagte uns, ich gehe los und mache meinen Job, ich werde alle meine Männer wieder heil nach Hause bringen. Es waren 15 - alle aus Pennsylvania - und er hat Wort gehalten. Alle sind heil heimgekommen - nur Sherwood nicht”.
Am anderen Ende unseres Tisches sitzt Alex Ryabov. Beim Einmarsch in den Irak 2003 war er Teil der eigentlichen Invasionstruppen - Teil der R Battery, 5th Battalion, 10th Marines. Ryabov sagt, er sei von Anfang an gegen diesen Krieg gewesen. An Massenvernichtungswaffen habe er nie geglaubt.
“Als ich im Irak war, sah ich, was unser Artilleriefeuer bei den Leuten anrichtete. Ich musste vorangehen, um zu sehen, wie die Artillerie wirkt, dabei sah ich, dass ganze irakische Städte in Flammen standen. Am Straßenrand lagen tote Iraker - ich konnte nicht erkennen, ob es sich um Frauen oder Männer handelte”.
Es wundert nicht, dass die kleine Gruppe aus Ex-Soldaten und Müttern am Schluss der New Yorker Veteranentags-Parade marschieren musste, und wen sollte es wundern, dass diese Gruppe ‘Military Families Speak Out’ und ‘Iraq Veterans Against War’ vertritt und sich mit den etwas älteren Männern von ‘Vietnam Veterans Against the War’ zusammentut? Dies sind nicht die Männer und Frauen, die George Bush gebrauchen kann, um die Anschuldigungen von Kongressmitgliedern, er hätte vor dem Irakkrieg Geheimdienstakten frisiert, als unwahr zurückzuweisen. Es sind auch nicht die Männer und Frauen, die Bush gebrauchen kann, wenn er neuen jungen, enthusiastischen Soldaten erklärt, Amerika werde den “Krieg gegen den Terror” schon “gewinnen”. Warum ist mir klar.
“Mein Mann Greg war ein hundertprozentiger Republikaner, selbst noch, als mein Sohn getötet wurde”, sagt Sue. “Aber dann sah er Michael Moores ‘Fahrenheit 9/11’. Als wir aus dem Film kamen, entschuldigte sich mein Mann bei mir. Ich sagte: “Wofür entschuldigst du dich?” Er sagte: “Es tut mir leid - alles, was du je über den Krieg gesagt hast, ist wahr. Ich werde dich bei allem, was du tust, hundertprozentig unterstützen.”
Ich verabschiede mich von dieser kleinen Gruppe tapferer amerikanischer Männer und Frauen. Die Ex-Soldaten unter ihnen sind arbeitslos. Sie haben keine Zukunft - außer ihrem Enthusiasmus für die Antiirakkriegs-Kampagne. Als sie gehen, bleibt ein trauriges, goldumfranstes amerikanisches Fähnchen auf dem leeren Tisch zurück. Die Gruppe verschwindet in den Abgasnebeln und dem Lärm des New Yorker Times Square. Derweil erscheint auf einem gigantischen TV-Bildschirm Vizepräsident Dick Cheney - jener Mann, der noch lange nach der Irakinvasion log, es habe eine Verbindung zwischen Saddam und dem 11. September gegeben. Man sieht, wie Cheney auf dem Friedhof von Arlington feierlich sein Haupt beugt. Er ehrt die Gefallenen - ja natürlich. Ich frage mich nur, wird Cheney je begreifen, wie sehr er diese Männer und Frauen auf der 44sten Straße betrogen hat?
Anmerkung d. Übersetzerin:
Quelle:
ZNet Deutschland
vom 21.11.2005. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel:
The Betrayed Mothers Of America
Weblinks: