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Das Urteil von Den Haag

Unmissverständliche Entscheidung: Vor zehn Jahren sprach sich das höchste Rechtsorgan der Vereinten Nationen klar gegen jede Anwendung von Kernwaffen aus

Von Wolfgang Kötter

In bestürzender Offenheit reden derzeit Politiker und Militärs der Nuklearmächte über atomare Einsatzpläne. Zu den Optionen, die namentlich in Washington und Paris erwogen werden, zählt der Gebrauch von Mini-Nukes und Bunkerknackern gegen Terroristen und "Schurkenstaaten". Alle Optionen lägen auf dem Tisch, antwortet Präsident Bush auf die Frage, ob er einen Nuklearschlag gegen den Iran in Erwägung ziehe. "Die militärische Option ist umsetzbar", meint auch Ex-US-Generalleutnant Thomas McInerney.

Bei ihren martialischen Deklarationen ignorieren sie alle, dass der Internationale Gerichtshof (IGH) bereits vor zehn Jahren den Gebrauch von Nuklearwaffen als absolut völkerrechtswidrig eingestuft hat. Am 8. Juli 1996 verkündete im Großen Saal des Friedenspalastes von Den Haag der Vorsitzende Richter Mohammed Bedjaoui aus Algerien nach mehr als zweijährigen Anhörungen das Verdikt des höchsten Gremiums der UN-Rechtsprechung. Zunächst bestätigte ein auf Antrag der UN-Vollversammlung vorgelegtes Gutachten die Zuständigkeit des IGH, die von den Kernwaffenstaaten kategorisch bestritten worden war. Um so mehr ließen die Haager Richter keinen Zweifel, dass auch für Nuklearwaffen das Völkergewohnheitsrecht, das humanitäre Völkerrecht sowie spezifische, anderen Waffen gewidmete Rechtsnormen gelten. Sie erklärten, in diesem Sinne seien gleich mehrere internationale Verträge relevant - die Genfer Konventionen etwa, die alle Arten der Kriegführung verbieten, die nicht zwischen militärischen Zielen, kämpfender Truppe und der Zivilbevölkerung unterscheiden - radioaktiver Staub richte sich nicht nach Uniformen und kenne keine Ländergrenzen.

Ein nuklearer Winter

Die Richter in den Den Haag hielten sich gewissermaßen an Albert Einstein, der einst formuliert hatte: "Die Freisetzung der Macht des Atoms hat unser ganzes Leben verändert - aber nicht unser Denken. Und darum treiben wir einer beispiellosen Katastrophe entgegen." - Was dieses Inferno im einzelnen bedeuten konnte, war dem IGH durch zahlreiche Herarings und Gutachten bekannt, deren Botschaft unmissverständlich war: Nukleare Strahlung schädigt unterschiedslos Augen und Immunsystem des Menschen. Genetische Deformationen werden auf nachfolgende Generationen vererbt. Besonders verheerend wirkt eine verstärkt einfallende UV-Strahlung der Sonne, weil aus brennenden Trümmern entweichende Stickoxide die schützende Ozonschicht zerstören.

Selbst wenn nur ein Bruchteil der vorhandenen Kernwaffenarsenale eingesetzt wird, kann das Phänomen des "nuklearen Winters" eintreten: Durch Kernexplosionen ausgelöste Brände in industriellen und urbanen Ballungsgebieten schleudern Millionen Tonnen Staub und Ruß in die Atmosphäre und absorbieren große Teil der Licht- und Wärmestrahlung der Sonne, so dass nur einige wenige Prozent der üblichen Lichtmenge die Erdoberfläche erreichen. Dadurch kann es in weiten Gegenden ständig dunkel bleiben, während die Temperaturen um 15 bis 30 Grad Celsius sinken. Ein solcher Klimawandel wirkt sich dramatisch auf die Pflanzen- und Tierwelt und damit auf die Nahrungsmittelversorgung der Überlebenden aus. Winterweizen gedeiht beispielsweise nicht, wenn während der aktiven Wachstumsperiode ständig minus fünf Grad Celsius und weniger herrschen. Mais und Sojapflanzen können sogar unter plus zehn Grad nicht reifen. Und Reispflanzen sind bereits bei Temperaturen von 13 Grad nicht mehr in der Lage, Körner zu bilden.

Weil das in einer Region nach einem Atomschlag vorhandene Licht generell für die Fotosynthese der Pflanzen nicht ausreicht, sterben ganze agrarische Kulturen. Extrem verheerend wäre ein Temperatursturz für die tropischen Regenwälder, den Lebensraum der Hälfte aller Tier- und Pflanzenarten unserer Erde. In den nördlichen Kontinentalgebieten würden Seen und Flüsse bis in eine Tiefe von anderthalb Metern gefrieren und die Trinkwasser-Reservoire für den Menschen erschöpft.

All das kam in Den Haag zur Sprache. In ihrem - in diesem Fall wahrlich historischen - Urteil stellten die 14 Richter daher einstimmig fest: Es gibt kein Völkerrecht, das einen Kernwaffeneinsatz ausdrücklich erlaubt. Aber: Es gibt auch keine Rechtsbestimmung, die einen Einsatz ausdrücklich verbiete, meinten elf Richter einschränkend. Wiederum einmütig wurde festgestellt, dass eine Androhung und Anwendung von Kernwaffen, die im Widerspruch zu dem in der UN- Charta (Art. 2.4) festgelegten Gewaltverbot steht und die nicht allen Erfordernissen des Rechts auf Selbstverteidigung (Art. 51) entspricht, rechtswidrig ist.

Die zentrale Passage des Gutachtens bezeichnete folgerichtig den Gebrauch von Kernwaffen als "im Allgemeinen völkerrechtswidrig". Für den Fall einer "extremen Selbstverteidigung, in der es um das Überleben des Staates geht", sah sich das Gericht allerdings nicht zu einem definitiven Urteil über Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit eines Kernwaffeneinsatzes in der Lage. Sieben Richter stimmten dafür und sieben dagegen. In dieser Pattsituation gab das zustimmende Votum des Präsidenten den Ausschlag für die Annahme. Dieser Ausgang erscheint oberflächlich betrachtet denkbar knapp. Da jedoch drei der ablehnenden Richter - aus Guyana, Sri Lanka und Sierra Leone - mit "nein" stimmten, weil sie einen Kernwaffeneinsatz nie, auch nicht in einer "Extremsituation" zur Selbstverteidigung, für akzeptabel hielten, bewertete faktisch eine Mehrheit von zehn zu vier Juristen die Anwendung von Kernwaffen als grundsätzlich illegal. Zusätzlich wurde von allen einstimmig gefordert, "in gutem Glauben" ergebnisorientierte Verhandlungen zur nuklearen Abrüstung zu führen.

Die politischen Kosten

Die Frage nach der Legitimität des Gebrauchs von Kernwaffen bleibt die brisanteste Frage unserer Zeit - auf dem Prüfstand steht dabei immer wieder der Anspruch der Atommächte, sie betrieben eine humanistische, an moralischen Grundsätzen ausgerichtet Politik, die verbindlichen Rechtsnormen folge. In dieser Hinsicht kann das Haager Urteil nicht hoch genug bewertet werden, schränkt es doch die nukleare Option drastisch ein und setzt deren politische Kosten ganz erheblich herauf. Im Namen der Vereinten Nationen erklärten die Richter: Jeder präventive Einsatz, jeder nukleare Erstschlag wie auch der Gebrauch von Kernwaffen in der übergroßen Mehrzahl aller vorstellbaren Situationen ist widerrechtlich. Daraus folgt, auch jede nukleare Präventivoption oder nukleare Reaktion auf Terrorangriffe - sei es in Los Angeles, Glasgow, Marseille oder anderswo - wäre ein eklatanter Bruch des Haager Rechtsspruchs und damit des Völkerrechts.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 19 vom 12.05.2006.

Veröffentlicht am

21. Mai 2006

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