Auf den Spuren von Martin Luther KingVon Michael Schmid Die Schreckensbilder der in sich zusammensackenden und in Staub- und Rauchwolken aufgehenden Türme des World Trade Centers in New York haben sich tief in uns alle eingegraben. Ebenso der danach begonnene Vergeltungsfeldzug. Der Eindruck dieser furchtbaren Vorgänge überschattet interessante Erlebnisse, die ich im vergangenen Sommer hatte. Denn vom 26. Juli bis zum 16. August 2001 war ich mit einer Reisegruppe in den USA unter dem Motto “Auf den Spuren von Martin Luther King” unterwegs. Es waren drei überaus interessante Wochen einer von Versöhnungsbund und Martin-Luther-King Zentrum Werdau organisierten Reise.
Unter der kompetenten Reiseleitung von Volker Grotefeld (Versöhnungsbund) wurden viele Orte in den USA angefahren, die im Zusammenhang mit Martin Luther King bedeutsam waren: Atlanta (Geburtsort, Pfarrstelle ab 1960, Grab mit Gedenkstätte), Montgomery (erste Pfarrstelle, Busboykott und Beginn der Bürgerrechtsbewegung), Birmingham (ein Schwerpunkt der Bürgerrechtsbewegung), Memphis (4. April 1968 Ermordung im Lorraine Motel), Washington (King hielt 1963 beim Marsch auf Washington, vor 250.000 ZuhörerInnen seine berühmte Rede “Ich habe einen Traum”), New York (4. April 1967 Predigt in der Riverside Church gegen Vietnamkrieg und Armut) und Boston (Promotion). An den meisten der Orte gab es für uns außer der Möglichkeit zum eigenen Betrachten auch viele Informationen entweder durch die gutgemachten Museen zur Bürgerrechtsbewegung in Atlanta, Birmingham und Memphis oder auch verschiedene Gesprächspartner. Weiter hatten wir Gelegenheiten zu vielen Gesprächen, z.B. mit Menschen, die mit King in der Bürgerrechtsbewegung aktiv waren, aber auch mit solchen, die sich heute in der Bürgerrechts- bzw. Friedensbewegung engagieren. Wir haben Gruppen kennen gelernt wie die SCLC (Southern Christian Leadership Conference, deren Führer King war), Pax Christi, Catholic Worker, Versöhnungsbund, War Resisters, Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste sowie die traditionellen Friedenskirchen Quäcker, Mennoniten, Bretheren, Amish People. Nachdrücklich klar geworden ist mir während unserer Reise, wie schwierig es für King insbesondere in den letzen Jahren seines kurzen Lebens war, als er sich nicht mehr nur für die Abschaffung der Rassentrennung, sondern entschieden gegen den Vietnamkrieg sowie für eine Überwindung der Armut einsetzte. Als er Bürgerrechtsbewegung und Friedensbewegung nicht mehr als zwei getrennte Anliegen sehen wollte, haben ihm Freunde zugeredet, Schwarze aus der Außenpolitik der USA heraus zulassen, weil das ihrem Anliegen schaden würde. Doch King ließ sich nicht abbringen. Der Preis, der dafür zu bezahlen war, blieb nicht aus. In den Medien wurde ihm Vaterlandsverrat vorgeworfen. Viele alte Weggefährten verließen ihn, einer nach dem anderen, weiße Liberale, Kirchenleute, sogar Freunde aus den Reihen der “Christlichen Führungskonferenz”. Doch King ging seinen Weg konsequent weiter. “Gewaltlosigkeit zu lehren, wäre doch schizophren für mich, wenn ich gleichzeitig den Gewaltverbrechen zustimmen wollte, die Abertausende von Menschen, Erwachsene und Kinder, verstümmelt. Ich halte es noch immer mit dem Prinzip: Du sollst nicht töten.” Er war zum schärfsten Kritiker der Vietnampolitik seines Landes geworden, rief zur Wehrdienstverweigerung und zum zivilen Ungehorsam gegen Bundesgesetze auf. Seit Ende 1966 thematisierte King ständig den Zusammenhang von Rassismus, Armut und Krieg. Seine Erfahrungen fasste er folgendermaßen zusammen: “Jahrelang war ich mit der Idee zuwege, die bestehenden gesellschaftlichen Institutionen zu reformieren, ein bißchen Änderung hier, eine kleine Veränderung da. Jetzt sehe ich das radikal anders. Heute bin ich mir im klaren, dass wir einen Umbau der gesamten Gesellschaft brauchen, eine Revolution unserer Zielvorstellungen.” Solche Äußerungen saßen. Er zog nicht nur die Feindseligkeiten der Rassisten auf sich. Nein, der einst als Apostel der Gewaltfreiheit hofierte Friedensnobelpreisträger wurde in seinen letzten beiden Lebensjahren auch bei den politisch Mächtigen zur unerwünschten Person. Viele sind heute überzeugt, dass das FBI bei seiner Ermordung seine Finger im Spiel hatte. Jenes FBI, das den schwarzen Führer in der Ära Johnson als Sicherheitsrisiko Nummer eins für die USA behandelte, 16 geheime Abhöranlagen in Büro und in Privaträumen Kings installierte, seine Hotelzimmer mit Wanzen ausstattete und ihn schließlich, schon 1964, in den Selbstmord treiben wollte. Ausgerechnet diesem ungeliebten und bis zum Tod bekämpften Vertreter eines anderen, eines auf Gewaltfreiheit ausgerichteten Amerika wird in einer sich als Weltpolizei verstehenden USA ein Nationalfeiertag gewidmet? Dies geht nur, indem King in seiner Radikalität “entschärft”, “gebändigt” wird. “Wir fordern ganz Amerika auf, das Gedächtnis dieses … sanftmütigen Mannes zu feiern …”, lautet die Botschaft im Kongress-Erlass von 1986, in jedem Jahr Kings Geburtstag als Nationalfeiertag zu begehen. Was für eine Art von Sanftmut soll da erinnert werden? Es soll wohl das Bild des triumphierenden King “Des Marsches auf Washington” festgeschrieben werden. Dieser geglättete King ist aber nicht der King der Rede “Jenseits von Vietnam” vom 4. April 1967 in der New Yorker Riverside Church, in der er seine Regierung als “die größte Gewaltausüberin in der heutigen Welt” angeklagt hatte. Auch bei uns wird gerne ein weichgewaschenes Bild von King als einem “Apostel der Gewaltlosigkeit” vermittelt, der einen Märtyrertod gestorben sei. Dieses Bild birgt die Gefahr, die politischen Perspektiven von Martin Luther King zu verkürzen. Die große Herausforderung an uns - nämlich die nach einer revolutionären Umgestaltung von gesellschaftlichen Verhältnissen, die Krieg und Armut beinhalten - wird dadurch entschärft und verharmlost. Von einer “gefährlichen Erinnerung”, welche den Schleier des vorherrschenden Bewusstseins lüftet, bleibt dann nicht mehr viel übrig. Nach dem 11. September habe ich mir immer wieder die Frage gestellt, was M.L. King für eine Rolle spielen würde, lebte er heute noch? Schwer zu sagen, welchen Einfluss er nehmen könnte. Aber klar scheint mir zu sein, welche Haltung er eingenommen hätte: er hätte versucht, dem Hass und aufkommenden Rachegefühlen zu widerstehen. Er hatte die Feindesliebe eines Jesus von Nazareth ernstgenommen und auf jene Menschen angewandt, die sein eigenes Haus bombardierten und ihm sonst nach dem Leben trachteten. Er hatte sich für eine Liebe als “verstehendes, schöpferisches, erlösendes Wohlwollen gegenüber allen Menschen” eingesetzt, auch seinen Feinden gegenüber. Ihm war wichtig, lieber Leiden zu ertragen als anderen Leiden zuzufügen. Lieber die andere Backe hinhalten als zurückschlagen. Lieber das eigene Blut fließen lassen als das anderer. Eine solche Haltung war für ihn Grundlage und Kennzeichen von Gewaltfreiheit. Gleichzeitig - das zu betonen ist wohl bis heute immer wieder wichtig -, ging es ihm keinesfalls um passives Erleiden von Unrecht. Im Gegenteil: King und der Bürgerrechtsbewegung ging es um aktiven Widerstand ohne Gewalt und nicht um Vermeidensstrategie, um gewaltfreie Konfliktbearbeitung und kein ängstliches Abwarten und Hinnehmen von Unrecht. Es gibt nicht nur die Alternative, den Terror tatenlos über sich ergehen zu lassen oder mit Militär zurückschlagen. Es gibt einen dritten Weg, auch wenn dieser schwierig und nicht schon wie im Rezeptbuch vorgezeichnet ist. Immer wieder hat King darauf hingewiesen, “dass, wenn wir den Frieden in der Welt haben sollen, Menschen und Völker gewaltlos dazu stehen müssen, dass Zwecke und Mittel übereinzustimmen haben. … Wir werden niemals Frieden in der Welt haben, bevor die Menschen überall anerkennen, dass Mittel und Zwecke nicht voneinander zu trennen sind; denn die Mittel verkörpern das Ideal im Werden, das Ziel im Entstehen, und schließlich kann man gute Zwecke nicht durch böse Mittel erreichen, weil die Mittel den Samen und der Zweck den Baum darstellen.” Vor dem Lorraine Motel in Memphis, Tennessee, habe ich unterhalb des Balkons, auf dem King stand, als ihn der tödliche Schuß traf, eine Gedenktafel mit einer Inschrift aus dem ersten Buch der Bibel gesehen. Dabei handelt es sich um ein Wort von Josefs Brüder, die sich gegen ihn verschworen hatten und ihm nach dem Leben trachteten: “Dort kommt ja dieser Träumer.
Jetzt aber auf,
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