Todd findet es gut, dass Deutschland gegen den Krieg istFelix Kolb. Ein Beitrag aus dem Publik-Forum Jugendmagazin PROVO zur Großdemonstration in Washington am 18. Januar 2003
Ich beschließe, mir die Zeit damit zu vertreiben, rauszufinden, was die Leute dazu motiviert, zu demonstrieren. Als Erstes komme ich mit Rachel (14) ins Gespräch. Für sie ist es die erste Demonstra?tion ihres Lebens. Ich frage sie, warum sie gegen den Krieg ist. Als Antwort liest sie mir vor, was auf dem Plakat steht, das sie unter die Arme geklemmt hat: »No Bloody War For Oil« (Keinen blutigen Krieg für Öl). Ich frage, ob sie denn nicht glaubt, dass es darum geht, Saddam Hussein zu entwaffnen. Sie lacht und sagt: »No, it’s all about money!« (Nein, es geht nur ums Geld.) Ich staune und frage mich, ob ich mit 14 schon ebenso desillusioniert von Politik war wie Rachel. Dann frage ich Fred nach seinen Gründen, den Krieg abzulehnen, und komme aus dem Staunen gar nicht mehr raus. Fred ist 17 und ist »senior student« an der hiesigen Highschool. Er antwortet spontan und mit viel Überzeugung: »Weil dieser Krieg vor allem zivile Opfer fordern wird, von der herrschenden Klasse zweier Staaten vorangetrieben wird und weil er sich den Anstrich gibt, gegen den Terror zu sein, es aber in Wirklichkeit nur um die Kontrolle von Öl und Wasser im Mittleren Osten geht.« Ich bin von dem marxistischen Vokabular überrascht und frage nach, ob seine Freunde denn ähnlich denken. Fred meint ja und ergänzt, dass viele der Männer auch protestieren, weil sie befürchten, es könnte wieder zu einer vorübergehenden Einführung der Wehrpflicht kommen. Ja, wer will schon gerne dafür sterben, dass überall in der westlichen Welt die Verschwendung von Öl ungehindert weitergehen kann, denke ich. Seit dem Ende des Vietnamkrieges hat es in den USA keinen »Draft« (keine Einberufung) mehr gegeben, stattdessen eine Freiwilligenarmee, die ja auch in Deutschland als Ersatz zur Wehrpflicht diskutiert wird. Wobei Michelle, eine Mitstudentin von mir, ergänzt, dass Freiwilligkeit ein relatives Konzept ist - für viele junge Schwarze und arme Jugendliche bietet der Eintritt in die Armee oft scheinbar die einzige Chance auf Bildung und damit den einzigen Ausweg aus der Armut. Michelle weiß, wovon sie spricht - ihr Vater und ihr Onkel haben im Vietnamkrieg gedient. Die Busse kommen, und wir brechen unser Gespräch ab. Gut sieben Stunden später und nach einer unruhigen Nacht, eingezwängt zwischen engen Sitzreihen, kommen wir in Washington an. Der Himmel strahlt blau, dazu ist es unverändert eiskalt und wird es auch noch den ganzen Tag bleiben. Schlaftrunken beschließen Michelle und ich, ein Café zu suchen, um dort mit einem warmen Kaffee den Beginn der Auftaktkundgebung abzuwarten. Wir sind beileibe nicht die einzigen Protestler, die hier Zuflucht gesucht haben - das Café quillt förmlich über. Neben mir sitzt Todd, der mit seinen 46 Jahren nicht zu den Jüngsten hier, aber beileibe auch nicht zu den Ältesten gehört. Die Teilnahme an dieser Demonstration ist für ihn so etwas wie ein Jubiläum: Vor 30 Jahren ist er das erste Mal nach Washington zum Demonstrieren gefahren. Damals hat er gegen Präsident Richard Nixon und den Krieg in Vietnam protestiert. Ich erzähle ihm von der Situation in Deutschland und davon, dass man schnell als antiamerikanisch abgestempelt wird, wenn man den Irak-Krieg und die Regierung Bush in eindeutigen Worten kritisiert. Todd erwidert lachend: »Wenn das antiamerikanisch ist, dann bitte mehr davon!« und fährt ernster fort: »Ich denke, gegen den Krieg zu sein ist ?pro people? und ?pro human race?. Ich würde mir wünschen, dass mehr Länder laut Einspruch erheben und aufhören, Amerika blind zu folgen.« Alle, mit denen ich an diesem Tag über das Thema spreche, äußern sich ähnlich. Plötzlich ist es schon 11.00 Uhr und wir laufen eilig zur Mall (das weitläufige Gelände vor dem Kapitol), um nicht den Beginn der Kundgebung zu verpassen. Viele zehntausende haben sich schon versammelt, und aus allen Richtungen strömen Gruppen von weiteren TeilnehmerInnen heran. Die Liste der RednerInnen kommt mir endlos vor - im Gedächtnis hängen geblieben sind mir die Auftritte des schwarzen Bürgerrechtlers Reverend Jesse Jackson, des Vietnamkriegsveteranen Ron Kovic, außerdem Autor des Films »Geboren am 4. Juli«, und der Schauspielerin Tyne Daly, die in der Fernsehserie »Cagney & Lacey« eine der Hauptrollen gespielt hat. Die Liste der RednerInnen ist zwar lang, aber mir fällt positiv auf, dass alle gelernt haben, sich kurz zu fassen. Wahrscheinlich ein Tribut an die Fernsehnation USA. Trotz aller Verschiedenheit der RednerInnen kommt ein Name in fast jeder Rede vor: Dr. Martin Luther King Jr. Die Organisatoren haben bewusst das Martin Luther King Memorial Weekend als Zeitpunkt für die Demonstration gewählt. Martin Luther King, der 1969 ermordet wurde, war nicht nur die herausragendeste Persönlichkeit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, sondern auch ein früher Gegner des Vietnamkrieges. Gegen 14.30 Uhr ist es endlich so weit - der Demonstrationszug setzt sich langsam in Bewegung. Michelle und ich beeilen uns wegzukommen - uns ist wieder kalt geworden. Die letzten werden hier erst aufgebrochen sein, wenn die ersten seit weit mehr als einer Stunde das Ende der Demoroute, einen Marinestützpunkt, erreicht haben. Am nächsten Tag berichtet die Washington Post, dass es sich um die größte Friedensdemonstration seit dem Vietnamkrieg gehandelt habe - nach Schätzungen der Veranstalter nahmen 500 000 Menschen teil. Nach Angaben der Polizei, die sich nicht festlegen will, in jedem Fall weit mehr als 100 000 Menschen. Wir jedenfalls sind überwältigt und froh zu merken, dass wir nicht allein sind mit unserer Wut auf die Politik der Bush-Administration. Eingeschlossen in einem Meer von Schildern und Transparenten und umgeben von Menschen, die mal »We shall overcome« singen und mal in Sprechchören »No War For Oil« (Keinen Krieg für Öl!) skandieren, wird mir warm ums Herz. Ich muss denken, jetzt kann auch ich ein Amerikaner sein. Mir fällt auf, mit welcher Liebe und Kreativität die unzähligen Schilder gemalt sind, von denen bestimmt jeder Zehnte eins trägt, hochhält oder einfach umgehängt hat: »War won’t make us safer«, »No Blood For Oil«, »U. S. Empire: Not My American Dream«, »Start Seeing Iraqi Children«, »Peace is Patriotic«, »War breeds Terror« und »Make Love Not War«. Nach einem gut zweistündigen Marsch sind auch wir am Ende der Demo angelangt. Die Kälte ist zurück, und wir wollen nur noch zum Bus, nach Hause und einfach schlafen. Um 1.30 Uhr sind wir dann endlich wieder in Ithaca - erschöpft, aber froh, dass wir dabei waren. Sicher wird es nicht die letzte Demonstration für die kommenden Monate gewesen sein. Während ich am Tag darauf diese Zeilen schreibe, bekomme ich ein begeistertes E-Mail von Michelle: »Habe gerade mit meinen Eltern telefoniert, auf die nächste Demonstration kommen sie mit!« Ich lächle und frage mich, wie viele hunderttausend das nächste Mal wohl durch Washington marschieren werden.
Siehe zu dieser Washingtoner Demonstration am 18. Januar 2003 auch den Artikel “Die Freude, für den Frieden zu frieren” von David McReynolds. Eine englischsprachige E-Mail-Liste mit täglichen Hintergrundinformationen zur US-Außenpolitik kann unter http://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/us-war-on-terrorism abonniert werden. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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