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Nicht nur am Splitter, auch am Balken ziehen

Ullrich Hahn, Einführungsreferat zur Jahrestagung des Versöhnungsbundes am 24.05.2001 in Bonn

Nicht nur am Splitter, auch am Balken ziehen

Verantwortlich leben im Angesicht struktureller Gewalt

Zur Einleitung drei Vorbemerkungen:

a) Ich will nichts neues sagen. Ich kann nur in Sprache kleiden, was schon bekannt ist, und in Erinnerung rufen, was wir schon wissen. Meine wichtigste Vorarbeit war, die eigenen Gedanken zu ordnen.

b) Worum geht es? Wir wissen aus eigener Anschauung, aber auch aus den Balkenüberschriften der Presse und den Betroffenheitsritualen in der Politik, dass Gewalt da ins Auge springt, wo sie direkt von Menschen gegen Menschen ausgeübt wird, z.B. die Gewalt von Hooligans oder von Neonazis gegen Ausländer.

Viel schwerer fällt es uns, die Wirkung von Gewalt zu erkennen, wenn sich etwa Flüchtlinge aus Furcht vor Abschiebung aus dem Fenster stürzen und die Betonplatten draußen nicht weniger hart sind als ein Baseballschläger.

Und noch weniger Gewalt war z.B. erkennbar bei der lautlosen Vertreibung bosnischer Flüchtlinge aus Deutschland in den vergangenen 4 Jahren, als unter der Androhung ihrer Rückschiebung nach Bosnien u.a. 42.500 ehemalige Lagerinsassen, Opfer von Folter und schwerer Gewalt sowie Personen aus gemischt-ethnischen Ehen fast durchweg widerstrebend und verzweifelt noch einmal aufbrechen mussten und das Angebot zur Weiterwanderung in die USA annahmen, die speziell für diese Gruppe von Flüchtlingen aus Deutschland eine besondere Quote zur Einwanderung eingerichtet hatten. Vertreibung geschieht nicht nur durch johlende glatzköpfige Jugendliche, die in ihrem Stadtviertel fremd aussehende Menschen jagen. Vertreibung geschieht in unseren Tagen und in unserem Land in erster Linie und in einem unvergleichlich höheren Ausmaß durch die Mittel der Bürokratie in Ausführung von Gesetzen, Rechtsverordnungen Verwaltungsvorschriften.

Aus der Perspektive der Opfer erleben sie in beiderlei Form verletzende und manchmal lebenszerstörende Gewalt.

Dass es sich auch bei der zweiten, meist lautlose Form um Gewalt handelt, hat schon der deutsche Soziologe Max Weber 1919 in seiner klassischen Definition bestätigt: “Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes… das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich … beansprucht”. (Politik als Beruf, Vortrag 1919)

c) Um das Verhältnis der verschiedenen Formen der Gewalt zueinander deutlich zu machen, hätte ich mich an das Bild vom Eisberg halten können, von dem nur die Spitze sichtbar ist, während der große und gefährlichere Teil dem Blick verborgen bleibt. Das Bild vom Eisberg könnte auch verdeutlichen, dass der sichtbare Teil der Gewalt mit dem verborgenen Teil zusammenhängt; dass sie letztlich von gleicher Qualität sind. So dürfen wir auch vermuten, dass die Übergriffe von Neonazis in unserem Land Ausdruck einer Gesellschaft sind, die ihre eigene Nazi Vergangenheit nur unzureichend aufgearbeitet hat. Es ist ein Zeichen für die Verdrängung von Unrecht und Schuld, dass es fast 60 Jahre gedauert hat, bis die noch Lebenden von den früheren Zwangsarbeitern jetzt eine im Verhältnis zum erlittenen Unrecht bescheide Entschädigung erhalten.

Statt den Eisberg habe ich ein anderes Bild als Leitmotiv meiner Gedanken gewählt: Das vom Splitter und vom Balken.

In der Bergpredigt sagt Jesus:

“Was sieht du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge? Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen? Und siehe, ein Balken ist in deinem Auge. Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst.” (Matthäus 7,3-5)

Dieses Bild drückt für mich dreierlei aus und gibt den roten Faden für die folgenden drei Abschnitte meines Vortrages:

a) Im Verhältnis zum Splitter ist der Balken groß, so groß, dass er gar nicht wahrgenommen wird. Es geht darum, den Balken zunächst einmal wahrzunehmen.

b) Der Balken steckt in meinem Auge. Die Gewalt ist nicht nur außer halb von mir, wo ich sie leicht wahrnehme als direkte Gewalt auf dem Schulhof, zwischen den verschiedenen Volksgruppen auf dem Balkan, in Palästina, wo wir gerne gut meinend und helfend eingreifen wollen und sicher auch sollen. Der größte Brocken hat mit uns selber zu tun.

c) Ziehen sollen wir, am Splitter aber auch am Balken. Es soll nicht so bleiben, wie es ist.

I. Was ist der Balken?

Johan Galtung hat in seinen Schriften den Gewaltbegriff erweitert und differenziert: Neben die direkte Gewalt, deren Akteur wir sehen können, stellt er die indirekte Gewalt, die keinem Akteur zugeordnet werden kann, die sogenannte “strukturelle Gewalt”.

Die Berechtigung, von lebensfeindlichen Strukturen als einer Form von Gewalt zu sprechen, ist heute wohl unbestritten. So heißt es z.B. auch im neuen Wort der deutschen katholischen Bischöfe vom 27.09.200 mit dem Titel “Gerechter Friede”:

“Eine Welt, in der den meisten Menschen vorenthalten wird, was ein menschenwürdiges Leben ausmacht, ist nicht zukunftsfähig. Sie steckt auch dann voller Gewalt, wenn es keinen Krieg gibt.” (Ziff.59)

Wenn es aber auch so ist, dass wir bei den Erscheinungsformen struktureller Gewalt keine Akteure sehen, so heißt das nicht, dass es sie nicht gibt. Leo Tolstoi, der sich in seinem Werk nach meiner Kenntnis als erster Schriftsteller ausführlich mit all den Facetten struktureller Gewalt auseinandergesetzt hat, die ich selbst gleich nennen will, spricht deshalb zu Recht besser von organisierter Gewalt. In seinem Roman “Auferstehung” beschreibt er einen Zug von Gefangenen auf dem Weg in die Deportation nach Sibirien. Nechljudow, der Held dieses Romans, hat als Beobachter miterlebt, wie beim Marsch mehrere Gefangene in der Hitze tot zusammengebrochen sind. über dieses Erlebnis sinnt er später nach:

“Ja erschlagen, wiederholte er sich die Worte, die er der Schwester gesagt, und von allen Eindrücken des heutigen Tages kam ihm mit besonderer Lebhaftigkeit das schöne Gesicht des zuletzt Verstorbenen ins Gedächtnis, mit dem halblächelnden Mund, dem strengen Ausdruck der Stirn und dem kleinen, fein geformten Ohr. Und das Schrecklichste von allem ist, dass niemand weiß, wer an solch krassen Vorgängen schuld ist. Gemordet ist der Mann aber, das steht fest. Er hat, wie alle Arrestanten, auf den Befehl Maßlennikows marschieren müssen. Dieser hat wahrscheinlich nur die gewohnheitsmäßige Verfügung getroffen, das Blankett mit dem vorgedruckten Befehl mit seiner albernen, verschnörkelten Handschrift unterschrieben und wird sich natürlich keiner Folge für schuldig halten. Noch weniger kann der Gefängnisarzt sich schuldig glauben, welcher die Arrestanten besichtigt hat. Er hat seine Pflicht gewissenhaft erfüllt, die Schwachen abgesondert und durchaus nicht voraussehen können, dass solch eine Hitze eintreten werde, dass man die Arrestanten so spät und die ganze Menge auf einmal wegführen würde. Der Inspektor? Er hat nur den gemessenen Befehl auszuführen gehabt, am bestimmten Tag so und so viele Zwangsarbeiter und zur Ansiedlung verbannte Männer und Frauen abzufertigen. Auch den Führer der Eskorte kann keine direkte Schuld treffen, dessen Obliegenheit darin bestand, an einem bestimmten Ort eine bestimmte Anzahl von Arrestanten zu empfangen und diese an einem anderen Ort wieder abzuliefern; er hat sie vorschriftsmäßig und wie üblich geführt und unmöglich
voraussehen können, dass so kräftige Leute wie jene beiden, die Nechljudow gesehen, den Marsch nicht aushallen und sterben würden. Es ist also niemand schuld am Tod dieser Erschlagenen und alles kommt nur daher, weil die Leute, vom Gouverneur angefangen, dem Gefängnisinspektor, dem Revieraufseher, und die Schutzleute nicht Menschen und ihrer Pflichten gegen Menschen gedachten, sondern die Buchstaben des Dienstes höher stellten, als die Forderungen der reinen Menschlichkeit und Christenpflicht. Da liegt der Fehler! dachte Nechljudow.”

Aus unserer Zeit will ich drei Bereiche struktureller Gewalt nennen, die dann im folgenden Schritt auch als Beispiele für unsere unterschiedliche Mitverantwortung dienen werden.

1. Aus dem Bereich staatlicher Gewalt erinnere ich an den Umgang mit Asylbewerbern, wie er in den Gesetzen und Verwaltungsvorschriften vorgeschrieben ist: Das Arbeitsverbot im ersten Jahr, die daraus folgende Bedürftigkeit, die Zuweisung in Sammelunterkünfte mit 4,5 qm pro Person, die Pflicht zum Aufenthalt im Bezirk der Ausländerbehörde, die Versorgung nicht durch Geld- sondern Sachleistungen, die Wegnahme der ihnen verbliebenen Geldmittel, die Kürzung der Leistungen bis auf Null, wenn sie nach Abschluss ihres Asyl-Verfahrens nicht selbst an der Vorbereitung ihrer Abschiebung mitwirken, schließlich die Abschiebung selbst, eventuell nach zuvor erlittener Abschiebehaft. Durch all diese Maßnahmen wird ihnen gezeigt - und nicht anders können sie es verstehen -, dass sie unerwünscht und überflüssig sind. Sie sind es nicht einmal wert, dass ihre Arbeitskraft ausgebeutet wird.

Hannah Arendt hat in ihren Forschungen über die Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft herausgearbeitet, wie Menschen ihre Würde verlieren, indem sie überflüssig gemacht werden. Die deutschen Zentren zur Behandlung von Folteropfern sind oftmals nicht mehr in der Lage herauszufinden, ob die von ihnen diagnostizierten schweren und schwersten psychischen Traumata auf staatliche Folter vor der Flucht nach Deutschland zurückzuführen sind oder auf die traumatisierende Existenz als Asylbewerber in Deutschland.

2. Aus dem Bereich wirtschaftlicher Gewalt beziehe ich mich auf Statistiken der Weltgesundheitsorganisation, die bei der Darstellung der Lebenserwartungen in den verschiedenen Staaten und den dort vorhandenen medizinischen Behandlungsmöglichkeiten die Auswirkungen der ungleichen Wirtschaftsbedingungen und der daraus folgenden Armut widerspiegeln:

So liegt etwa die Sterblichkeitsrate von Müttern bei der Geburt eines Kindes in Deutschland bei 1 Todesfall von 1700 Geburten; in den zentralafrikanischen Ländern beträgt dieses Verhältnis 1:16. Krankheiten, die bei uns die Lebenserwartung nur wenig einschränken, sind in Afrika tödlich: Die Patienten dort können etwa die nötigen Medikamente bei einer Diabetes-Erkrankung in der Regel nicht bezahlen.

Bundespräsident Rau hat in seiner Rede am 18.Mai 2001 über die ethischen Grenzen der gentechnischen Forschung am Menschen zu Recht daran erinnert, dass es hier um die spezifischen Fragen der Forschung innerhalb einer reichen Gesellschaft geht, während sich ein Großteil der Menschheit schon vorhandene, einfache medizinische Mittel aus Armut nicht leisten kann.

3. Zwei Beispiele aus dem Bereich der Gewalt gegen die Schöpfung:

a) 20 der CO 2 Emissionen in Deutschland gehen auf den Verkehr zurück. Jeder Deutscher legt statistisch jährlich 15.000 km zurück, davon 55 für Urlaub und Freizeit, 13.000 km hiervon per PKW . Pro Liter Benzin wird die Atmosphäre mit 2,32 kg CO 2 belastet. Eine Flugreise Deutschland-USA belastet die Erdatmosphäre pro Reisendem so wie 20.000 km PKW-Verkehr. Weltweit trägt der Flugverkehr mit 4 % zum Treibhauseffekt bei. Der Flugverkehr wird sich in den nächsten 10 Jahren voraussichtlich verdoppeln.

b) Jedes Handy, jeder PC ist ein Päckchen oder Paket mit hochkonzentriertem Sondermüll, bei dessen Herstellung ein Vielfaches seines Gewichts an Rohstoffen und Wasser verbraucht wird und dessen Entsorgung bisher ungeklärt ist. 1/6 des privaten Stromverbrauchs in Deutschland geht zu Lasten der Stand-by-Funktion von elektrischen und elektronischen Geräten.

II. Der Balken im eigenen Auge

Auf verschiedene Art tragen wir Mitverantwortung für die strukturelle/organisierte Gewalt. Ich will die eben genannten drei Beispiele in umgekehrter Reihenfolge noch einmal betrachten:

Zu 3. Bezüglich der Gewalt gegen die Schöpfung sind wir - strafrechtlich gesprochen - Täter bzw. Mittäter. Durch das, was wir kaufen, verbrauchen, essen, wie wir uns die durchschnittlichen 15.000 km pro Jahr bewegen, entscheiden wir ganz unmittelbar über Gedeih und Verderb der Schöpfung, von Tieren, Pflanzen und Menschen.

Natürlich ändert sich an der Situation der bedrohten und gequälten Schöpfung spürbar nichts, wenn nur Einzelne ihr Verhalten ändern. Aber das ist zunächst noch nicht die Frage. Nicht nur nach ethischen, auch nach rechtlichen Kategorien sind Mittäter alle gleichermaßen für das Ergebnis eines unrechten Tuns verantwortlich. Dass auch die anderen mitgemacht haben, ist kein Rechtfertigungsgrund.

Zu 2. Bezüglich wirtschaftlicher struktureller Gewalt sind wir zumindest in Bezug auf die sogenannte Dritte Welt Nutznießer und Teilhaber des Unrechts. Diese Erkenntnis ist uns nicht fremd; sie wird auch von den deutschen katholischen Bischöfen im Wort “gerechter Friede” ausgesprochen.

Tolstoi hat nach seinen Beobachtungen der russischen Gesellschaft Ende des 19.Jahrhunderts herausgearbeitet, dass Geld die Macht beinhaltet, andere für sich arbeiten zu lassen. Und wir sind umso mehr Nutznießer dieser Machtposition, je mehr wir als Geldbesitzer gegenüber denen, die keines haben, aber zum Überleben auf unser Geld angewiesen sind, von billigen Rohstoffen, billigen Preisen und hohen Zinsen profitieren.

Zu 1. Am schwierigsten zu bestimmen ist unsere Verantwortung in Bezug auf die staatliche Gewalt:

a) Wer im arbeitsteiligen System einer staatlichen Verwaltung mitarbeitet, ist auch mitverantwortlich für die Ergebnisse dieser Verwaltung, für ihre Auswirkungen auf Mensch und Natur. Spätestens seit dem Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess 1946 gilt nicht mehr die Entschuldigung, “Befehl ist Befehl” und “Ich habe doch nur meine Pflicht getan”.

b) Eine Mitverantwortung für die Auswirkungen staatlicher Gewalt besteht aber über den Kreis der “Träger staatlicher Gewalt” hinaus auch für alle die, die diese Gewalt legitimieren, d.h. gutheißen, rechtfertigen.

Ohne die ausdrückliche oder stillschweigende Legitimation staatlicher Gewalt durch einen Großteil der Bevölkerung kann sich nicht einmal eine Diktatur auf Dauer halten.

Das gilt auch für Teilbereiche staatlicher Gewalt:

Die Urteile der Strafrichter werden nicht umsonst “im Namen des Volkes” gesprochen, welches hinter einer strafenden Justiz steht. Das gilt bei uns nicht anders als in den USA, wo die Vollstreckung der Todesstrafe nur noch sichtbarer die Gewalt der so gewollten Strafjustiz zum Ausdruck bringt.

III. Auch am Balken ziehen - aber wie?

Um unsere eigenen Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, schlage ich den bekannten Bogen der Gewaltfreiheit mit den vier Dimensionen gewaltfreien Lebens und Handelns, wie sie sehr deutlich bei Gandhi, aber auch im Leben Jesu beobachtet werden können. Ich spreche von “Dimensionen” und nicht von “Schritten”, um das Missverständnis zu vermeiden, als wären diese verschiedenen Aspekte der Gewaltfreiheit nacheinander, Schritt für Schritt, umzusetzen. Sie gehören vielmehr von Beginn an zusammen. Es geht darum, kein Unrecht zu tun, mit dem Unrecht nicht zusammenzuarbeiten, dem Unrecht Widerstand entgegenzusetzen und Formen gerechten Lebens zu entwickeln.

Dabei geht es nicht um Perfektion; aber wo wir uns um eine dieser Dimensionen nicht bemühen, hat uns die Gewalt gleich wieder eingeholt.

Zu 1: Nicht Unrecht tun

Rechtes Leben und handeln setzt unausgesprochen Wertmaßstäbe voraus, wie sie für mich sehr eindrücklich Albert Schweitzer formuliert hat in seiner Erkenntnis, “Ich bin Leben inmitten von Leben, das auch leben will”. Daraus folgt er, dass wir Leben nicht töten sollen, nicht verletzen, nicht an der Entfaltung hindern.

Neben dieser zentralen Werthaltung können wir etwa auch aus den 10 Geboten noch ergänzen, dass es nicht Recht ist zu stehlen, zu lügen. Insoweit scheint uns diese erste Dimension, selbst nicht Unrecht zu tun, ganz selbstverständlich.

Die Selbstverständlichkeit hat aber schon ihre Grenze, wenn wir noch hinzufügen, dass es auch nicht erlaubt ist, schlechte Mittel zu einem guten Zweck einzusetzen und deshalb z.B. den Kriegsdienst auch dann verweigern, wenn es um die Verteidigung des Vaterlandes oder gar um “humanitäre Einsätze” geht.

Zu 2: Die Nichtzusammenarbeit mit dem Unrecht

Die Dimension der Nichtzusammenarbeit ist wirksam sowohl gegenüber staatlicher als auch wirtschaftlicher struktureller Gewalt. Sie kann etwa darin bestehen, auf Zinsen zu verzichten, keine Waren zu kaufen, deren Herstellungsbedingungen ungerecht sind oder die bei der Herstellung oder Entsorgung übermäßig die Umwelt belasten. Bezüglich staatlicher struktureller Gewalt geht es vor allem darum, das Unrecht nicht zu legitimieren.

Nachdem Hannah Arendt 1933 aus Deutschland emigrieren musste, hatte sie von ihren deutschen Freunden nicht erwartet, dass sie aktiven Widerstand leisten sollten, da sie damit ihre eigene Existenz hätten riskieren müssen. Das Mindeste aber, was Hannah Arendt von ihren Freunden erwartete, war, dass sie das Unrecht des Nationalsozialismus nicht legitimierten, wie es etwa durch die peinlichen Ergebenheitsadressen kirchlicher Leitungsorgane geschah. Zur Nichtzusammenarbeit gehört in diesem Zusammenhang auch das Gebot nicht zu schwören. Der Treueid schiebt sich sonst wie eine Barriere zwischen das Gewissen, d.h. die eigene Erkenntnis von Recht und Unrecht, und das mir vom Staat abverlangte Tun.

Die Nichtzusammenarbeit besteht im Kern im Unterlassen unrechten Tuns und eröffnet damit fast ungeahnte Möglichkeiten:

Ich kann vieles auf einmal unterlassen, während ich normalerweise nur eine Sache zur gleichen Zeit richtig tun kann. Das Unterlassen ist regelmäßig auch weniger anstrengend als das Tun, aber umso wirkungsvoller, je weniger es von der anderen Seite erwartet wird.

Alle können beim Unterlassen mitmachen, nicht nur eine Elite, wie etwa die Akrobaten von Greenpeace und Robin-Wood bei ihren halsbrecherischen Aktionen auf Industrieschornsteinen oder Schlauchbooten.

Das Unterlassen kann zu einem Zustand werden, den ich Tag und Nacht durchhalte, während das Tun letztlich doch nur Begebenheit bleibt:

Selbst die Pfadfinder schaffen es nur zu einer guten Tat am Tag. Unterlassen, d.h. lassen, loslassen und verheißt Gelassenheit. Vaclav Havel beschreibt in seiner 1977 verfassten Schrift “Versuch in der Wahrheit zu leben” die Basis des Widerstands gegen die Diktaturen des Staatssozialismus:

Die Darstellung beginnt mit der Beschreibung eines Gemüsehändlers, der es einfach müde ist, zwischen sein Obst und Gemüse irgendwelche Schilder mit Sprüchen wie “Der Sozialismus siegt” etc. aufzustellen. Und während sonst seine Kunden gar nicht darauf geachtet haben, was auf diesen Schildern steht, fällt es sofort ins Gesicht, dass sie nicht mehr da sind.

Für mich besteht der Gegensatz zum Freizeitpazifismus nicht in der hauptamtlichen Tätigkeit von Friedensfachkräften, sondern darin, das die Nichtzusammenarbeit mit der strukturellen Gewalt Teil unserer ganzen Existenz wird.

In diesem Zusammenhang werden wir uns natürlich mit dem Einwand auseinandersetzen müssen, dass staatliche Gewalt doch notwendig sei und es eine Pflicht zur Zusammenarbeit mit staatlichen Instanzen gebe. Ohne auf diesen Einwand hier ausreichend eingehen zu können, möchte ich nur folgendes andeuten:

Der Staat ist keine Schöpfungsordnung. Die auf den Römerbrief von Paulus Kapitel 13 zurückgehende grundsätzliche Legitimation staatlicher Gewalt, wie sie etwa auch in den Bekenntnisschriften der Augsburger Konfession, Art.16 und in der Barmer theologischen Erklärung, These 5, zum Ausdruck kommt, ist ein theologischer Irrtum mit einer blutigen Wirkungsgeschichte. Wegen dieser bis heute andauernden theologischen Legitimation staatlicher Gewalt als ganzes hat die Kirche keinen Sensus für staatliches Unrecht entwickeln können und war bisher nur in der Lage nachträgliche Schulderklärungen für die jeweils zuvor erfolgte Mitwirkung und Legitimation staatlichen Unrechts abzugeben. Bezüglich staatlichen Unrechts waren zumindest die deutschen protestantischen Kirchen nicht das Licht, sondern das Schlusslicht der Welt. Diesbezüglich ist es durchaus hoffnungsvoll, wenn der Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen in seinen verschiedenen Erklärungen zur “Dekade zur Überwindung der Gewalt” u.a. auch von der Notwendigkeit spricht, “Jegliche theologische Legitimation von Gewalt” zu überwinden.

Zu 3: Widerstand gegen das Unrecht

Beim Widerstand geht es dann schließlich doch darum, auch etwas zu tun, wobei der Widerstand zumeist nur eine Dienstfunktion für die vorrangige Nichtzusammenarbeit besitzt.

Widerstand beginnt mit dem Widerspruch. Es geht darum, unbequeme Wahrheiten zu sagen. Im besten Fall wirkt die so ausgesprochene Wahrheit schon aus sich heraus befreiend, wie es Christian Andersen im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern beschrieben hat. Aus dem Widerspruch ergibt sich der Dialog mit dem Gegner. Nur dort, wo dieser Dialog nicht geführt werden kann, hat in der Regel die gewaltfreie Aktion ihren Platz, um so auf das Unrecht aufmerksam zu machen, dass es nicht mehr übersehen werden kann mit dem Ziel, andere zur Nichtzusammenarbeit mit diesem Unrecht zu motivieren und/oder den Dialog hierüber zu eröffnen. Die gewaltfreie Aktion wird in der Regel nicht aus sich heraus das Unrecht beseitigen können. Auch der Widerstand gegen die Castor-Transporte kann nach meinem Verständnis nur das Ziel haben, der herrschenden Energiepolitik die Legitimation zu entziehen und auf die ungelösten Probleme der Atomwirtschaft hinzuweisen.

Zu 4: Formen gerechten Lebens entwickeln

In dieser Dimension gewaltfreien Lebens und Handelns geht es um das rechte Tun, zum einen als Kehrseite dessen, was ich nicht tun soll d.h. wieder im Sinne von Albert Schweitzer das Leben fördern, Leben zur vollen Entfaltung bringen. Dazu gehören gegenseitige Hilfe, Gastfreundschaft, …

Zum anderen geht das rechte Tun aber über individualethisches Verhalten hinaus. Es geht um die Bildung von Gemeinschaften, einer Pioniergesellschaft, die innerhalb der alten Gesellschaft neue Verhaltensformen praktiziert.

Dazu gehören neue Beziehungen zwischen Konsumenten und Produzenten, die u.a. auch den gerechten Preis für die Produkte und Arbeitsleistungen begründen. Es geht um die Einführung von Nutzungsrechten anstelle von Eigentumsrechten, insbesondere an Grund und Boden; es geht um die gerechte Art und Weise von Geldanlagen, etwa am Beispie der GLS-Bank.

Nur in der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten vermeide ich auch die Verbitterung, die sich meist einstellt, wenn die anderen nicht so sind, wie wir selbst sein wollen. Nur in Gemeinschaft überwinde ich auch den Neid auf das gute Leben derer, die ohne Skrupel reich sind.

Nur die Gemeinschaft vermittelt mir letztlich auch die Lebensfreude, welche deutlich macht, dass alles zuvor Gesagte keinen gesetzlichen Moralismus zum Ausdruck bringt, sondern auf eine lebensbejahende “Kultur der Gewaltfreiheit” hindeutet.

IV. Zum Schluss: Hat das denn alles Aussicht auf Erfolg?

Die Frage nach dem Erfolg stellt sich für mich nicht. Im Titel des Vertrages habe ich nur vom “ziehen” am Balken und noch nicht vom “herausziehen” gesprochen. Es geht zunächst um die schlichte Frage, auf welcher Seite ich stehen will, ob ich Partei ergreife für die Opfer struktureller Gewalt oder für die verantwortlichen Täter, ob ich Partei ergreife für das Recht oder für das Unrecht, ob ich auf der Seite der Unbewaffneten stehe oder bei den Bewaffneten, ob ich bei denen bin, die außen stehen oder bei denen, die drinnen die Tür zumachen.

Das rechte Verhalten gegenüber struktureller Gewalt ist für mich auch keine Utopie, wie sie im schlechten Sinne als Illusion verstanden wird. Utopie im Sinne von Illusion war für mich der marxistische Glaube an die wissenschaftliche Notwendigkeit einer Entwicklung zur gerechten Gesellschaft oder der Glaube daran, dass nach der großen Revolution alles von alleine besser sein würde, weil dann die richtigen Leute an der Macht wären; und utopisch im Sinne einer Illusion ist für mich der in gleiche Richtung gehende Glaube, dass es darauf ankomme, eine neue Regierung zu wählen.

Utopie im guten Sinne jedoch ist für mich das Ziel einer gerechten Gesellschaft, die ich im Auge habe, ein Ziel, das ich immer schon ein Stück weit verwirkliche, indem ich mich auf den Weg mache.

Veröffentlicht am

20. Dezember 2001

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