Das Bild vom Querschnitt der Bevölkerung ist falschEine Studie beleuchtet die Motive der Teilnehmer an Friedensdemonstrationen gegen den Irak-Krieg / Von Dieter Rucht
“No war.” In vielen Sprachen formuliert, war dies der kleinste gemeinsame Nenner der Friedensdemonstrationen am 15. Februar 2003. Im Takt der Zeitverschiebung berichteten die Nachrichtensender über das sich nach Westen ausbreitende Lauffeuer von Demonstrationen. Es reichte von der Ostküste Australiens über Japan, Korea und Europa bis zur Westküste Nordamerikas - eine Globalisierung anderer Art. Je nach Quellen waren zwischen acht und 14 Millionen in zahlreichen Städten versammelt, um ihr Nein zu einem Krieg gegen Irak zu bekunden. In Großbritannien, Italien und Spanien als den großen europäischen Ländern, deren Regierungen sich entgegen der überwiegenden Meinung ihrer Bevölkerung hinter die Bush-Regierung gestellt hatten, waren die mächtigsten Demonstrationen zu verzeichnen. Die Londoner Kundgebung gilt als die größte in der Geschichte des Landes. Berlin hatte in seiner bewegten Vergangenheit mehrfach größere Demonstrationen gesehen, sei es die Nazi-Kundgebung am 1. Mai 1933 auf dem Tempelhofer Feld, die Freiheitskundgebung am 1. Mai 1960 in der Nähe des Brandenburger Tors oder der Protest gegen das DDR-Regime am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz. Aber noch nie zuvor hatte in Deutschland ein auch nur annähernd so großer Friedensprotest wie am 15. Februar stattgefunden. Die Veranstalter, ein eigens für die Demonstration gebildeter Trägerkreis von über 40 Organisationen, sahen sich von dem Ansturm regelrecht überwältigt, hatten sie doch in den Tagen zuvor mal mit 80 000, mal mit 150 000 Teilnehmern gerechnet. Die Medien in der Bundesrepublik reagierten mit Leitartikeln, ausführlichen Berichten, großformatigen Fotos und sichtlich beeindruckten Kommentaren. Abgesehen von der Überraschung über die Größe des Protests wurde vor allem seine gesellschaftliche Breite hervorgehoben. Der Tenor lautete, hier habe sich ein Querschnitt der Bevölkerung versammelt: Junge und Alte, Linke und Konservative, Wessis und Ossis, Müllwerker und Hochschullehrer, Schulklassen und Gewerkschaftsgruppen, Deutsche und in Deutschland weilende US-Amerikaner, Berliner und Münchener, Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und der Punk mit Irokesenschnitt. Ihr Nein zum Irak-Krieg, zumindest ihr Nein zu einem Krieg unter den gegebenen Umständen, bildete fraglos das einigende Band. Doch hat, darüber hinausgehend, diese halbe Million Menschen weitere Gemeinsamkeiten aufzuweisen? Trotz aller medialer Schlaglichter, beiläufiger Interviews inmitten der Menge, journalistischer Kurzporträts ausgewählter Demonstranten und langer Hintergrundberichte bleibt die Frage: Wer hat hier demonstriert, und wo stehen diese Menschen politisch? Einer Initiative von belgischen Wissenschaftlern der Uni Antwerpen ist es zu verdanken, dass auf diese Fragen genauere Antworten möglich sind. Zusammen mit den Millionen von Demonstranten waren am 15. Februar in sieben europäischen Ländern und drei Städten der USA eine Reihe von Sozialwissenschaftlern und zahlreiche Helfer unterwegs, um einen weitgehend standardisierten zehnseitigen Fragebogen in der jeweiligen Landessprache auszugeben. In einigen Städten wurden zusätzlich Hunderte von direkten Interviews am Ort der Demonstration durchgeführt. Die Berliner Befragung wurde logistisch und finanziell von Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) unterstützt. Rund dreißig freiwillige Helfer verteilten an drei Versammlungsorten insgesamt 1430 zehnseitige Fragebögen mit der Bitte, diese zu Hause auszufüllen und im beigegebenen frankierten und adressierten Umschlag zurückzusenden. Die Verteilung erfolgte nach einem ausgeklügelten Prinzip, das gewährleisten sollte, dass jeder Demonstrant die gleiche theoretische Chance hatte, einen Fragebogen zu erhalten. Bis zum 7. 3. sind 725 dieser Fragebögen (50,7 %) zurückgekommen und wurden in eine erste, einige Teilergebnisse enthaltende Auswertung einbezogen. Wird den “Fliegenbeinzählern” der quantitativen Sozialwissenschaft oft vorgeworfen, sie ermittelten mit großem Aufwand nur das, was man ohnehin sieht und weiß, so zeigt sich erneut, dass der selbstgewisse Augenschein trügen kann. Das Bild der Demonstranten als eines breiten Querschnitts der Bevölkerung, ein Bild, zu dem ich selbst durch Kommentierungen in den Tagen nach dem 15. Februar beigetragen hatte, erweist sich im Großen und Ganzen als falsch. Die Verteilung der Geschlechter unter den Demonstranten (53 Prozent Frauen) entspricht nahezu der in der Gesamtbevölkerung. Gleiches gilt für die mittleren Altersgruppen von 25 bis 44 und 45 bis 64 Jahren. Dagegen sind die 15- bis 24-Jährigen unter den Demonstranten in Relation zur Gesamtbevölkerung deutlich überrepräsentiert und die über 65-Jährigen deutlich unterrepräsentiert. 97,7 Prozent der Befragten, und damit deutlich mehr als in der Gesamtbevölkerung (91,2 Prozent), besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft. Helfer der Untersuchung berichteten allerdings, dass einige ausländisch aussehende Angesprochene die Annahme des Fragebogen verweigert hätten. Doch abgesehen von diesen annähernden Entsprechungen zur Gesamtbevölkerung handelt es sich bei den Demonstranten in fast jeder anderen Hinsicht um einen sehr speziellen Personenkreis, der keineswegs ein verkleinertes Abbild der Gesamtbevölkerung darstellt.
Bei den beruflichen Tätigkeitsfeldern zeigt sich ein hohe Konzentration auf den Bereich Gesundheit, Erziehung, Pflege, Wohlfahrt und Forschung (31,8 Prozent). Schwach repräsentiert sind dagegen der traditionelle industrielle Bereich einschließlich der Bauwirtschaft mit 5 Prozent und die Landwirtschaft mit 1,1 Prozent. Der Anteil von Personen ohne Religionszugehörigkeit ist mit 65,5 Prozent außerordentlich hoch (Gesamtbevölkerung zirka 35 Prozent). Von den übrigen Befragten sind 23,2 Prozent evangelisch und lediglich 7,4 Prozent katholisch (Gesamtbevölkerung: 32,4 Prozent evangelisch und 32,6 Prozent katholisch). Ein weiteres, in dieser Deutlichkeit überraschendes Ergebnis ist die allgemeine politische Positionierung der Demonstranten. Unter denen, die an den letzten Bundestagswahlen teilgenommen hatten, nannten lediglich ein Prozent die CDU/CSU und 1,4 Prozent die FDP. Alle übrigen Stimmen konzentrierten sich, teilweise in unterschiedlichen Kombinationen von Erst- und Zweitstimmen, auf SPD, PDS und Grüne sowie - zu einem sehr geringen Anteil - auf Kleinparteien (Tierschutzpartei, Graue Panther, Feministische Partei). Niemand der Befragten hatte seine Stimme einer rechtsradikalen Partei gegeben. Die Antworten auf die “Sonntagsfrage” (“Wenn morgen Bundestagswahlen wären, für welche Partei würden Sie stimmen?”) unterstreichen das Bild einer enorm starken Linkslastigkeit der Friedensdemonstranten. Die Grünen erhielten 52,9 Prozent, die SPD 20,8 Prozent und die PDS 19,8 Prozent der Stimmen. Dagegen landeten CDU/CSU bei 1,7 Prozent und die FDP bei 1,2 Prozent. Die Selbsteinstufung auf der Links/Rechts-Skala mit Positionen von 0 (ganz links) bis 10 (ganz rechts) weist in die gleiche Richtung. Das rechte Spektrum (Werte von 7 bis 10) ist mit 1,1 Prozent fast verwaist und der mittlere Bereich (Werte von 4 bis 6) mit 16 Prozent relativ schwach vertreten. Dem linken Spektrum ordnen sich insgesamt 82,9 Prozent zu; immerhin 6 Prozent belegen den äußersten linken Rand (Skalenwert 0). Mit einem Mittelwert von 2,7 auf der 11-Punkte-Skala weichen die Demonstrierenden weit vom bundesdeutschen Durchschnitt ab, der verschiedenen Umfragen zufolge ziemlich genau in der Mitte der Skala liegt. Die Demonstrationsteilnehmer sind in hohem Maße politisch interessiert (82 Prozent) und in diversen Zusammenhängen politisch aktiv. Lediglich 22,7 Prozent von ihnen hatten sich in den vergangenen fünf Jahren an keiner Demonstrationen beteiligt, darunter weniger Frauen als Männer. Die Übrigen, befragt nach dem Anliegen von Demonstrationen, an denen sie teilgenommen hatten, nannten am häufigsten Frieden (65 Prozent), Antirassismus (43,6 Prozent) und soziale Anliegen einschließlich gewerkschaftlicher Themen (36,1 Prozent). Sehr hoch ist auch die Beteiligung an anderen politischen oder sozialen Aktivitäten, etwa an Verbraucherboykotten, Petitionen, Volksentscheiden und Spendenaufrufen. In Relation zur Gesamtbevölkerung bezeichnen sich überdurchschnittlich viele Demonstranten (43,6 Prozent) als aktives Mitglied einer Gruppe oder Organisation, darunter einer Partei (9,7 Prozent), einer Organisation für globale soziale Gerechtigkeit (8,7 Prozent), einer Friedensorganisation (7,5 Prozent), einer Umweltorganisation (7,1 Prozent), einer Organisation für Frauenrechte (4,7 Prozent) und/oder einer antirassistischen Organisation (4,3 Prozent). Während rund drei Viertel (74,2 Prozent) aller Befragten ihre Sympathie für die Bewegung gegen neoliberale Globalisierung bekunden und fast zwei Drittel (63,6 Prozent) sozialen Bewegungen/Bürgerinitiativen viel oder völliges Vertrauen entgegenbringen, ist das Vertrauen in andere gesellschaftliche Gruppen und Institutionen deutlich geringer (zum Beispiel Bundespräsident 45,5 Prozent, Rechtssystem 32,8 Prozent, Gewerkschaften 23,4 Prozent). Das Schlusslicht bilden die politischen Parteien, denen nur 3,4 Prozent viel Vertrauen und keiner der Befragten völliges Vertrauen aussprechen. Hinter den Vereinten Nationen (31,3 Prozent), der Europäischen Union (18,5 Prozent) und der Bundesregierung (13,6 Prozent) landet der Bundestag bei 12,5 Prozent. Der Aussage “Die meisten Politiker versprechen viel, aber tun in Wirklichkeit nichts” stimmt die Hälfte der Befragten zu (49,4 Prozent). Noch mehr (52,1 Prozent) bejahen den Satz “Politische Parteien sind nur an meiner Stimme, aber nicht an meinen Ideen und Meinungen interessiert”. Dennoch handelt es sich bei den Demonstranten nicht nur um eine Ansammlung von Skeptikern. Lediglich 15 Prozent sind “überhaupt nicht zufrieden” mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland. Die durchaus vorhandene Akzeptanz des politischen Systems paart sich also mit einem außergewöhnlich hohen Misstrauen gegenüber Parteien und Politikern. Welche Positionen vertreten die Befragten im Hinblick auf die Irak-Krise und die beteiligten Regierungen? Obgleich die Bundesregierung generell kein hohes Vertrauen unter den Demonstranten genießt, urteilt doch die große Mehrheit der Befragten positiv über die Anstrengungen ihrer Regierung, einen Krieg zu verhindern. In dieser Hinsicht zeigen sich 58,4 Prozent zufrieden und weitere 9,7 Prozent völlig zufrieden. Als wichtigste Aufgabe wird der Bundesregierung aufgetragen, eine diplomatische Lösung im Irak-Konflikt zu suchen (44,5 Prozent sehen darin das wichtigste Ziel und weitere 19,3 Prozent das zweitwichtigste unter einer Reihe von Zielen). Nicht überraschend ist dagegen die überwiegend kritische Sicht auf das Mittel des Krieges und die Haltung der US-Regierung in der Irak-Frage. Die Aussage, ein Krieg sei gerechtfertigt, um ein diktatorisches Regime abzuschaffen, lehnen 84,4 Prozent der Befragten ab. Dass Kriege immer falsch seien, glauben 76,1 Prozent. Ein fast gleicher Prozentsatz (75,9) lehnt konsequenterweise einen Krieg gegen Irak auch dann ab, wenn dieser vom UN-Sicherheitsrat gebilligt würde. Dass die USA einen “Feldzug gegen den Islam” führen, glauben 39 Prozent der Befragten; dass dieser Angriff erfolge, um die Ölversorgung der USA zu sichern, meinen 86 Prozent. Zugleich stimmen aber auch 47,2 Prozent der Aussage zu, das irakische Regime müsse zu Fall gebracht werden, um das Leiden des dortigen Volkes zu beenden, während 21,1 Prozent diese Aussage ablehnen. Überwiegend optimistisch zeigen sich die Teilnehmer hinsichtlich der erwarteten Wirkung der Demonstration, wobei freilich deutlich zwischen öffentlicher Wirkung und dem Effekt auf politische Entscheidungsträger unterschieden wird. Der Aussage, Demonstrationen verbesserten das Verständnis der Öffentlichkeit für die erhobenen Forderungen, stimmen 83,4 Prozent zu (davon 40,7 Prozent “völlig”). Jedoch sind lediglich 7 Prozent “völlig” der Meinung, dass die politischen Entscheidungsträger die Forderungen, die auf großen Demonstrationen erhoben werden, auch berücksichtigen. Dagegen bleibt in dieser Hinsicht über die Hälfte der Befragten (54,5 Prozent) unentschieden oder skeptisch. Der Schlüsselfrage, ob die Demonstration die Chance einer Verhinderung des Krieges erhöhten, stimmen 42,1 Prozent zu und weitere 21,1 Prozent “völlig zu”, während insgesamt 12 Prozent die Frage verneinen. Gleichwohl ist auch diese Gruppe von Pessimisten zur Demonstration gekommen. Auch sie haben teilweise lange Wege (29 Prozent nannten einen Anfahrtsweg von mindestens 150 Kilometern ) und stundenlanges Herumstehen in beißender Kälte in Kauf genommen. Warum dies so ist, bringt eine 28-jährige Berlinerin in ihrem Fragebogen mit folgender Bemerkung auf den Punkt: “Auch wenn es ohne Früchte bleiben wird, ist das erkennbare Auflehnen gegen diesen bevorstehenden Krieg notwendig. Als Zeichen, dass man nicht dafür ist, wenn man es schon nicht verhindern kann.”
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