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Mesopotamien. Babylon. Euphrat und Tigris

Von Arundhati Roy - The Guardian / ZNet 02.04.2003

Auf die Stahlrümpfe ihrer Raketen krakeln erwachsene amerikanische Soldaten bunte Nachrichten in Kinderschrift: Für Saddam vom Dicke-Jungs-Trupp. Ein Gebäude bricht zusammen. Ein Marktplatz. Ein Zuhause. Ein Mädchen, das einen Jungen liebt. Ein Kind, dem es höchstens nach den Bausteinen seines älteren Bruders verlangte.

Am 21. März, einen Tag nachdem amerikanische und britische Truppen sich aufmachten zu ihrer illegalen Invasion und Besetzung des Irak, befragte ein “integrierter” CNN Korrespondent einen amerikanischen Soldaten: “Ich will da rein und mir die Hände schmutzig mach’n,” erklärte Gefreiter AJ. “Ich will Rache für 9/11.”

Man muss dem Korrespondenten zugute halten, dass er, obwohl “integriert”, dennoch eine Art schwachen Hinweis einschob, bis jetzt gäbe es wohl keinen wirklich bewiesenen Zusammenhang zwischen irakischer Regierung und den Anschlägen vom 11. September. Gefreiter AJ streckte seine Teenagerzunge bis ganz hinunter an die Spitze seines Kinns. “Mhm naja, diese Sachen sin’ viel zu hoch für mich,” sagte er.

Nach einer New York Times / CBS News Umfrage glauben 42% der Amerikaner, dass Saddam Hussein unmittelbar verantwortlich ist für die Anschläge auf World Trade Center und Pentagon vom 11. September. Und nach einer Umfrage von ABC News glauben 55% der Amerikaner, Saddam Hussein leiste direkte Unterstützung an AlKaida. Wieviele der amerikanischen Streitkräfte diesen Erfindungen glauben, kann man sich ausmalen.

Den im Irak kämpfenden britischen und amerikanischen Truppen ist höchstwahrscheinlich nicht bewusst, dass ihre Regierungen Saddam Hussein sowohl politisch als auch finanziell bei seinen schlimmsten Übergriffen unterstützt haben.

Aber warum auch sollte man den armen AJ und seine Kameraden mit derartigen Details belasten? Das spielt doch jetzt keine Rolle mehr oder? Hunderttausende Männer, Panzer, Schiffe, Hubschrauber, Bomben, Patronen, Gasmasken, hochwertige Proteinrationen, ganze Flugzeuge voll Toilettenpapier, Insektenspray, Vitaminpräperaten und Mineralwasser sind in Bewegung gesetzt. Die phänomenale Logistik von Operation Irakische Freiheit macht sie zu einem Universum für sich. Es muss sich nicht mehr rechtfertigen. Es existiert. Es ist.

Präsident George W. Bush, Oberbefehlshaber über U.S. Armee, Marine, Luftwaffe und Infantrie hat klare Anweisungen gegeben: “Irak. Wird. Befreit.” (Vielleicht meint er, dass, auch wenn die Körper irakischer Menschen getötet, ihre Seelen dennoch befreit werden.) Amerikanische und britische Bürger schulden es dem höchsten Kommandeur, die Vernunft abzuschalten und sich geschlossen hinter ihre Truppen zu stellen. Ihre Länder sind im Krieg. Und was für ein Krieg.

Nachdem der Irak mit den “gütlichen Mitteln” der UN-Diplomatie (Wirtschaftssanktionen, Waffenkontrollen) in die Knie gezwungen, sein Volk ausgehungert, eine halbe Million Kinder umgebracht, seine Infrastruktur verwüstet, nachdem die Zerstörung der meisten seiner Waffen sichergestellt ist, sendet die “Allianz”/”Koalition der Willigen” (besser bekannt als Koalition der Erpressten und Gekauften) in einem in der Geschichte sicher unübertroffenen Akt der Feigheit - ein Invasionsheer!

Operation “Irakische Freiheit”? Das sehe ich anders. Wohl eher Operation “Lass Uns Ein Wettrennen Machen, Aber Zuerst Lass Mich Dir Die Knie Brechen.”

Bis jetzt hat die irakische Armee mit ihren hungrigen, schlecht ausgestatteten Soldaten, ihren alten Gewehren und rostenden Panzern es irgendwie geschafft, die “Alliierten” vorübergehend aufzuhalten oder manchmal gar auszumanövrieren. Im Angesicht der reichsten, bestausgestattetsten, mächtigsten Streitmacht, die die Welt je sah, hat Irak spektakulären Mut gezeigt und brachte sogar so etwas wie eine echte Verteidigung zustande. Eine Verteidigung, die das Bush/Blair Paar umgehend als hinterhältig und feige verurteilte. (Andererseits, Hinterhalt hat lange Tradition bei uns Eingeborenen. Werden wir überfallen/kolonialisiert/besetzt und aller Würde beraubt, greifen wir zu Arglist und Anpassung.)

Trotz der Tatsache, dass sich Irak und die “Alliierten” im Krieg befinden, ist es verblüffend, wie weit die “Alliierten” und ihr mediales Fußvolk zu gehen bereit sind - bis zu dem Punkt, an dem sie sich schon wieder selbst schaden.

Als sich Saddam Hussein, nach dem Misslingen des aufwändigsten Mordversuchs der Geschichte - “Operation Enthauptung” - im nationalen Fernsehen an das irakische Volk wandte, sahen wir wie Geoff Hoon, der britische Verteidigungsminister, ihn als Feigling verhöhnte, der sich in Gräben verkröche, weil er nicht den Mut aufgebracht hatte, aufzustehen und sich töten zu lassen. Sodann sahen wir eine Flut von Koalitions-Spekulationen - War es tatsächlich Saddam, war es sein Doppelgänger? Oder war es Osama nach einer Rasur? War es aufgezeichnet? War es eine Rede? War es schwarze Magie? Wird es sich in einen Frosch verwandeln, wenn wir es uns nur ganz, ganz fest wünschen?

Nach dem Abwerfen nicht hunderter, sondern tausender Bomben auf Bagdad, als ein Marktplatz versehentlich bombardiert und Zivilisten getötet worden waren, unterstellte ein Sprecher der U.S. Armee, die Irakis würden sich selbst in die Luft jagen! “Sie benutzen sehr altes Material. Ihre Raketen steigen auf und fallen wieder runter.”

Wie, wenn uns die Frage erlaubt sei, verträgt sich dies mit der Beschuldigung, das irakische Regime wäre ein eingetragenes Mitglied der “Achse des Bösen” und eine Bedrohung des Weltfriedens?

Zeigt der arabische Fernsehsender Al-Dschazira zivile Opfer, wird dies als “emotionale” arabische Propaganda abgetan, die Hass gegen die “Alliierten” zu schüren versucht, als ob Irakis nur sterben würden, um die “Alliierten” in ein schlechtes Licht zu rücken. Sogar das französische Fernsehen bekommt aus ähnlichen Gründen Prügel. Aber die ehrfürchtige, atemlose Inszenierung von Flugzeugträgern, Tarnkappenbombern und über den Wüstenhimmel ziehenden Marschflugkörpern beschreibt das amerikanische und britische Fernsehen als “schreckliche Schönheit” des Krieges.

Wenn einfallende amerikanische Soldaten (der Armee, “die nur hier ist, um zu helfen”) in Kriegsgefangenschaft geraten und im irakischen Fernsehen gezeigt werden, sagt George Bush, dies verletze die Genfer Konventionen und “enthüllt das Böse im Herzen des Regimes”. Aber es ist vollkommen akzeptabel, zeigen U.S. Fernsehsender hunderte Gefangene der U.S. Regierung in Guantanamo Bay, auf der Erde knieend mit ihren Händen hinter dem Rücken, blind dank undurchsichtiger Schutzbrillen und mit Kopfhörern auf den Ohren, um vollständige audio-visuelle Abschottung zu gewährleisten. Darauf angesprochen, leugnen U.S. Regierungsbeamte die schlechte Behandlung der Gefangenen keinesfalls. Sie leugnen, dass sie “Kriegsgefangene” sind! Sie bezeichnen sie als “gesetzeswidrige Kämpfer” und unterstellen, ihre Misshandlung sei legitim! (Was ist dann die Parteilinie bei dem Massaker von Gefangenen in Mazar-e-Sharif, Afganistan? Vergessen und Vergeben? Und was ist mit dem Gefangenen, den Spezialeinheiten auf dem Bagram Airforce Stützpunkt zu Tode folterten? (Ärzte attestierten Totschlag.)

Als die “Alliierten” das irakische Fernsehen bombardierten (zufälligerweise ebenfalls eine Verletzung der Genfer Konventionen), gab es vulgären Jubel in den amerikanischen Medien. Tatsächlich hatte Fox TV seit geraumer Zeit für den Angriff geworben. Er wurde als rechtmäßiger Schlag gegen die arabische Propaganda angesehen. Aber amerikanisches und britisches mainstream Fernsehen preisen sich weiterhin als “objektiv”, während ihre Propaganda halluzinogene Ausmaße annimmt.

Warum sollte Propaganda ausschließlich den westlichen Medien vorbehalten sein? Nur, weil sie sie besser beherrschen? Westliche in die Truppe “integrierte” Journalisten, die von den Fronten des Krieges berichten, werden zu Helden ernannt. Nicht-“integrierte” Journalisten (wie der für BBC aus dem belagerten und zerbombten Bagdad berichtende Rageh Omaar, Zeuge und sichtlich mitgenommen vom Anblick verbrannter Kinderleichen und verwundeter Menschen) werden sogar schon vor Beginn ihrer Reportage untergraben: “Wir müssen Sie darauf hinweisen, dass er von den irakischen Behörden überwacht wird.”

Zunehmend bezeichnen britisches und amerikanisches Fernsehen irakische Soldaten als “Militia” (sprich: Gesindel). Ein BBC Korrespondent beschrieb sie bezeichnenderweise gar als “Quasi-Terroristen”. Irakische Verteidigung sind “Widerstand” oder, schlimmer noch, “Widerstandsnester”, irakische Militärstrategie ist “Täuschung”. (Wenn die U.S. Regierung, wie der Observer berichtet, die Telefonleitungen der UN - Sicherheitsratsmitglieder verwanzt, ist dies knallharter Pragmatismus.) Die unverkennbar einzige moralisch akzeptable Strategie der irakischen Armee wäre, aus “Alliierter” Sicht, in die Wüste hinauszumarschieren und von B-52 zusammengebombt oder von Machinengewehrfeuer niedergemäht zu werden. Alles andere ist Mogelei.

Und nun haben wir die Belagerung von Basra. Etwa anderthalb Millionen Menschen, 40 Prozent von ihnen Kinder. Ohne sauberes Wasser und mit sehr wenig Nahrung. Immer noch warten wir auf den viel beschworenen schiitischen Aufstand, auf die glücklichen Massen, die der “befreienden” Armee mit Rosen und Hosianna entgegenströmen. Wo sind sie, die Massen? Wissen sie nicht, dass Fernsehproduktionen einen engen Zeitplan haben? (Schon möglich, dass es Straßentänze gibt in Basra, wenn Saddams Regime zusammenbricht. Würde andererseits das Bush Regime zusammenbrechen, gäbe es Straßentänze auf der ganzen weiten Welt.)

Nachdem sie den Einwohnern von Basra tagelang Hunger und Durst aufgezwungen hatten, schafften die “Alliierten” ein paar LKWs mit Nahrung und Wasser herbei und postierten sie verlockend in den Vororten der Stadt. Verzweifelte Menschen strömen zu den Lastern und schlagen sich um Nahrungsmittel. (Das Wasser, so ist zu hören, wird verkauft. Um die darniederliegende Wirtschaft anzukurbeln, ist doch klar.) Oben auf den Lastwagen schlugen sich verzweifelte Fotografen um die Bilder von verzweifelten Menschen, die sich um Nahrung schlagen. Diese Bilder wandern über Bildagenturen zu Zeitungen und Hochglanzmagazinen, die außerordentlich gut zahlen. Ihre Nachricht: Die Erlöser sind zur Stelle, verteilen Fisch und Brotlaibe.

Ab Juli letzten Jahres blockierte das Bush/Blair Paar Lieferungen an den Irak im Wert von $ 5.4 Mrd.. Das taugte nicht wirklich für die Nachrichten. Aber jetzt, liebevoll begleitet von live Schaltungen, erreichten 450 Tonnen humanitärer Hilfe - ein mikroskopischer Bruchteil dessen, was tatsächlich gebraucht würde (nennen wir es Strohhalm) - mit einem britischen Schiff, der “Sir Galahad” den Hafen von Umm-Kasr. Ihre Ankunft verdiente einen ganzen Tag umfassender live Berichterstattung. Kotztüte gefällig?

Nick Guttmann, Leiter des Notfallbereichs für Christian Aid schrieb am Sonntag für den Independent, dass es 32 Sir Galahads pro Tag bedürfte, um die Nahrungmitteleinfuhr des Iraks wieder auf den Stand zu bringen, den sie vor Beginn der Bombardements hatte.

Allerdings sollte uns dies nicht überraschen. Es ist eine alte Taktik. Sie haben jahrelange Übung darin. Betrachten wir den folgenden bescheidenen Vorschlag von John McNaughton aus Pentagon-Papieren, die während des Vietnamkrieges veröffentlicht wurden: “Schläge gegen Bevölkerungsziele (an sich) führen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur zu einer kontraproduktiven Welle von Abscheu im Ausland und zu Hause, sondern erhöhen auch maßgeblich das Risiko einer Ausweitung des Krieges mit China oder der Sowjetunion. Die Zerstörung von Schleusen und Dämmen hingegen - wenn richtig durchgeführt - könnte … vielversprechend sein. Dies sollte untersucht werden. Eine solche Zerstörung würde keine Menschen töten oder ertränken. Durch flache Überschwemmung der Reisfelder führt sie mit der Zeit zu landesweiter Hungersnot (mehr als eine Million?), es sei denn, Nahrungsmittel werden geliefert - was wir ‘am Verhandlungstisch’ anbieten könnten.”

Die Zeiten haben sich kaum geändert. Die Technik hat sich zu einer Doktrin entwickelt. Deren Name ist “Die Herzen und Köpfe gewinnen”.

So, hier wäre die moralische Rechnung: schätzungsweise 200.000 Iraker im ersten Golfkrieg getötet. Hunderttausende tot aufgrund der Wirtschaftssanktionen (wenigstens die wurden vor Saddam Hussein gerettet). Jeden Tag kommen mehr dazu. Zehntausende U.S. Soldaten, die 1991 im Krieg kämpften, zu “Invaliden” erklärt wegen einer Krankheit namens Golfkriegssyndrom, vermutlich teilweise verursacht durch Kontakt mit abgereichertem Uran. Das hat die “Aliierten” nicht an der weiteren Verwendung von abgereichertem Uran gehindert.

Und nun diese Vorschläge, die UNO wieder ins Boot zu holen. Aber diese alte UN Jungfer - wie sich herausstellt, taugt sie einfach nicht mehr, wozu sie hochgejubelt wurde. Sie wurde degradiert (allerdings behält sie ihr hohes Gehalt). Jetzt ist sie der Welt Hausmeister. Sie ist die philippinische Reinigungsfrau, die indische Jamardani, die Katalogbraut aus Thailand, die mexikanische Haushaltshilfe, das jamaikanische Au Pair. Sie ist angestellt, um anderer Leute Scheiße aufzuwischen. Sie wird nach Gutdünken benutzt und missbraucht.

Ungeachtet Blairs ernsthafter Einwände und all seiner Schmeicheleien hat Bush klargestellt, dass die UN keine unabhängige Rolle in der Nachkriegsverwaltung des Irak spielen wird. Die U.S.A. werden entscheiden, wer jene saftigen “Wiederaufbau” Verträge einfährt. Aber Bush hat die internationale Gemeinschaft aufgefordert, das Thema der humanitären Hilfe nicht zu “politisieren”. Am 28. März, als Bush die sofortige Wiederaufnahme des “Öl für Nahrung” Programmes forderte, stimmte der UN-Sicherheitsrat einstimmig für diese Resolution. Das heißt, alle sind sich einig, dass irakisches Geld (vom Verkauf irakischen Öls) für die Ernährung des irakischen Volkes genutzt wird, das aufgrund der US-geführten Sanktionen und des illegalen US-geführten Krieges hungert.

Die Verträge zum “Wiederaufbau” des Irak, so erfahren wir von den Disskussionsrunden im Wirtschaftsfernsehen, könnten der Weltwirtschaft zum Durchstarten verhelfen. Es ist lustig, wie die Interessen der amerikanischen Firmen so oft, so erfolgreich und so absichtlich mit den Interessen der Weltwirtschaft verwechselt werden. Während das amerikanische Volk am Ende für den Krieg zahlt, werden die Ölfirmen, Rüstungskonzerne, Waffenhändler und am “Wiederaufbau” beteiligten Konzerne aus dem Krieg Gewinne ziehen. Viele unter ihnen sind alte Freunde und ehemalige Arbeitgeber der Bush/Cheney/Rumsfeld/Rice Verschwörung. Bush hat den Kongress schon um getötet $ 75 Mrd. gebeten. Verträge zum “Wiederaufbau” werden bereits ausgehandelt. Die Nachricht macht keine Schlagzeilen, denn die meisten der U.S. Medienunternehmen sind im Besitz und unter der Kontrolle derselben Interessensgruppen.

Ziel der Operation “Irakische Freiheit”, so versichert uns Tony Blair, ist die Rückgabe des irakischen Öls an das irakische Volk. Soll heißen, die Rückgabe des irakischen Öls an das irakische Volk über den Umweg multinationaler Konzerne. Wie Shell, wie Chevron, wie Halliburton. Oder haben wir hier irgendwie den Faden verloren? Vielleicht ist Halliburton in Wirklichkeit eine irakische Firma? Vielleicht ist Vize-Präsident Dick Cheney (ehemaliger Direktor von Halliburton) ein verkappter Iraker?

Es gibt Anzeichen, dass die Welt, sowie sich der Graben zwischen Europa und Amerika vertieft, in eine neue Ära von Wirtschaftsboykotten eintreten könnte. CNN berichtet von Amerikanern, die französischen Wein in den Ausguss schütten, singend: “Wir wollen euren stinkenden Wein nicht.” Wir hören von der Umbenennung von Pommes frites (engl.: French fries). Freiheitsfritten heißen sie jetzt. Nachrichten erreichen uns, von Amerikanern, die deutsche Produkte boykottieren. Die Sache ist nur, die U.S.A. selbst würden am meisten leiden, sollte der Zwist in diese Richtung umschlagen. Zwar lässt sich ihr Heimatland mit Grenzkontrollen und Atomwaffen verteidigen, aber ihre Wirtschaft umspannt den Globus. Ihre ökonomischen Vorposten sind ungedeckt und anfällig für Angriffe aus allen Richtungen. Schon brummt das Internet vor ausgefeilten Listen mit amerikanischen und britischen (Regierungs-) Produkten und Firmen, die boykottiert werden sollten. Außer den üblichen Zielen - Coke, Pepsi und McDonald’s - könnten sich auch Regierungsbehörden wie USAID, das britische Amt für internationale Entwicklung (DFID), britische und amerikanische Banken, Arthur Anderson, Merrill Lynch, American Express, Konzerne wie Bechtel, General Electric, Unternehmen wie Reebok, Nike, Gap einer Belagerung gegenüber sehen. Aktivisten aus der ganzen Welt pflegen und erweitern diese Listen. Als praktischer Einkaufsführer könnten sie die formlose aber stetig wachsende Wut der Welt ausrichten und kanalisieren. Plötzlich erscheint das “Unausweichliche” am Projekt von der Globalisierung der Weltwirtschaft nicht mehr gar so unausweichlich.

Es ist offensichtlich, dass es im Krieg gegen Terror nicht wirklich um Terror geht und im Krieg gegen Irak nicht nur um Öl. Es geht um den selbstzerstörerischen Drang einer Supermacht nach Weltherrschaft, Würgegriff, globaler Hegemonie. Derselbe Prozess, so wird argumentiert, hat sowohl das argentinische als auch das irakische Volk dezimiert. Nur die eingesetzten Waffen unterscheiden sich: In einem Falle ist es ein IWF-Scheckheft. Im anderen Marschflugkörper.

Schließlich wäre da noch die Angelegenheit mit Saddams Arsenal von Massenvernichtungswaffen. (Huch, hätte ich fast vergessen!)

Inmitten des Gefechtsnebels ist doch eines sicher - sollte Saddam tatsächlich Massenvernichtungswaffen haben, so zeigt er einen erstaunlichen Grad von Verantwortungsgefühl und Zurückhaltung angesichts extremster Provokation. Könnten wir unter ähnlichen Umständen (mal angenommen, irakische Truppen bombardierten New York und belagerten Washington DC) dasselbe vom Bush Regime erwarten? Würden sie ihre tausenden Atomsprengköpfe im Karton lassen? Und ihre chemischen und biologischen Waffen? Ihre Vorräte von Antrax, Pocken und Nervengas? Würden sie?

Entschuldigung, dass ich lache.

Inmitten des Gefechtsnebels sind wir auf Spekulationen angewiesen: entweder ist Saddam ein hochgradig verantwortungsbewusster Tyrann. Oder - er verfügt einfach nicht über Massenvernichtungswaffen. In jedem Fall, egal, was demnächst passiert, Irak verlässt die Arena weniger anrüchig als die U.S. Regierung.

Da wäre also der Irak - Schurkenstaat, ernsthafte Bedrohung des Weltfriedens, eingeschriebenes Mitglied der Achse des Bösen. Da wäre Irak, besetzt, zerbombt, belagert, unterdrückt, auf seine Souveränität geschissen, seine Kinder vom Krebs dahingerafft, sein Volk in die Luft gejagt auf den Straßen. Und wir alle schaun zu. CNN-BBC, BBC-CNN spät bis in die Nacht. Und wir alle ertragen den Horror des Krieges, ertragen den Horror der Propaganda und ertragen das Abschlachten der Sprache, so wir sie kennen und verstehen. Freiheit bedeutet nun Massenmord (oder in den U.S.A. frittierte Kartoffeln). Sagt jemand “humanitäre Hilfe”, schauen wir uns automatisch nach geplanter Hungersnot um. “Integriert” (engl.: embedded), muss ich allerdings zugeben, ist eine großartige Erfindung. Es ist genau wonach es klingt. Und was ist mit dem “Arsenal an Taktiken” (engl.: arsenal of tactics)? Nett!

In den meisten Teilen der Welt betrachtet man die Invasion des Iraks als rassistischen Krieg. Die wirkliche Gefahr eines von rassistischen Regimen entfesselten rassistischen Krieges ist, dass er in jedem Rassissmus weckt - Täter, Opfer, Zuschauer. Er setzt das Schema für die Debatte, er schafft die Schablone für eine bestimmte Art zu denken. Eine Flutwelle des Hasses erhebt sich vom alten Herzen der Welt gegen Amerika. In Afrika, Latein-Amerika, Asien, Europa, Australien. Ich erlebe es jeden Tag. Manchmal kommt es aus den unerwartetsten Ecken. Banker, Geschäftsleute, Yuppie Studenten und sie verschmelzen es mit all der Blödheit ihrer konservativen, unliberalen Politik. Diese absurde Unfähigkeit, Volk von Regierung zu trennen: Amerika ist eine Nation von Idioten, eine Nation von Mördern, sagen sie, (mit derselben Arglosigkeit, mit der sie sagen, “Alle Moslems sind Terroristen.”). Selbst in diesem grotesken Universum rassistischer Beleidigung erscheinen die Briten als Zusatzeintrag. Arschkriecher werden sie genannt.

Plötzlich finde ich, die ich immer als “anti-amerikanisch” und “anti-westlich” verteufelt wurde, mich in der außergewöhnlichen Situation, das Volk von Amerika zu verteidigen. Und Großbritannien.

Diejenigen, die so einfach in den Sumpf des Rassismus abtauchen, täten besser daran, sich der hunderttausenden amerikanischen und britischen Bürger zu erinnern, die gegen die Atomwaffenarsenale ihrer Länder protestierten. Und der tausenden amerikanischen Kriegsgegner, die ihre Regierung zum Abzug aus Vietnam zwangen. Sie sollten wissen, dass die gelehrteste, bissigste, komischste Kritik an U.S. Regierung und “American Way of Life” von amerikanischen Bürgern kommt. Und die lustigste, bitterste Verurteilung ihres Premierministers kommt von den britischen Medien. Schliesslich sollten sie bedenken, dass in diesem Augenblick hunderttausende amerikanische und britische Bürger auf der Straße sind, gegen den Krieg. Die Koalition der Erpressten und Gekauften besteht aus Regierungen, nicht Völkern. Mehr als ein Drittel der amerikanischen Bürger haben die unaufhörliche Propaganda, der sie ausgesetzt worden sind, überlebt und viele tausend bekämpfen aktiv ihre eigene Regierung. Angesichts des in den U.S.A vorherrschenden ultra-patriotischen Klimas, ist dies so mutig wie jeder Iraker, der oder die um ihre Heimat kämpft.

Während die Amerikaner in der Wüste auf den Aufstand der shiitischen Muslime in den Straßen von Basra warten, findet der wirkliche Aufstand in hunderten Städten auf der ganzen Welt statt. Dies ist die beeindruckendste Demonstration öffentlicher Moral, die man je gesehen hat.

Die mutigsten sind die hunderttausenden Amerikaner auf den Straßen Amerikas großer Städte - Washington, New York, Chicago, San Francisco. Tatsache ist, die einzige Einrichtung der Welt, die noch mächtiger ist als die amerikanische Regierung, ist die amerikanische Zivilgesellschaft. Eine große Verantwortung lastet auf den Schultern der amerikanischen Bürger. Wie können wir anders, als sie zu grüßen und zu unterstützen, diejenigen, die diese Verantwortung nicht nur anerkennen, sondern ihr auch mit Taten gerecht werden? Sie sind unsere Verbündeten, unsere Freunde.

Zum Schluss bleibt zu sagen, dass Diktatoren wie Saddam Hussein und all die anderen Despoten im Mittleren Osten, in den zentralasiatischen Republiken, in Afrika und Latein-Amerika, viele von ihnen eingesetzt, unterstützt und finanziert von der U.S. Regierung, eine Plage für ihre eigenen Völker sind. Es gibt kein einfaches untadeliges Patentrezept im Umgang mit ihnen, außer der Stärkung der Zivilgesellschaft (anstatt, wie im Falle des Iraks, ihrer Schwächung). (Es ist merkwürdig, wie jene, die die Friedensbewegung als utopisch abtun, ohne Zögern die absurdesten, verträumtesten Begründungen für den Krieg anbieten: die Ausrottung des Terrorismus, die Einführung von Demokratie, die Auslöschung von Faschismus und, am unterhaltsamsten, “die Befreiung der Welt von Bösewichtern”.)

Egal was uns ihre Propaganda-Maschine einredet, diese Westentaschendiktatoren sind nicht die größte Bedrohung der Welt. Die wirkliche und akute Gefahr, die größte Bedrohung für uns alle, geht von der Motorenkraft aus, die die ökonomische und politische Maschine der U.S. - Regierung antreibt, gegenwärtig gesteuert von George W. Bush. Bush-Schlagen macht Spass, weil er so ein einfaches ausladendes Ziel ist. Es ist wahr, er ist ein gefährlicher, fast lebensmüder Steuermann, aber die Maschine unter seinen Händen ist weitaus gefährlicher als der Mann an sich.

Trotz des Leichentuches der Bitternis, das heute über uns hängt, würde ich gern einen vorsichtigen Aufruf zur Hoffnung einreichen: In Kriegszeiten wünscht man sich seinen schwächsten Gegner an der Spitze seiner Feinde. Und das ist Präsident George W. Bush mit Sicherheit. Jeder andere auch nur durchschnittlich begabte U.S. Präsident hätte vermutlich genau dasselbe gemacht, aber es wäre ihm gelungen, Rauchbomben zu werfen und die Opposition zu verunsichern. Vielleicht sogar die UN einzuspannen. Bushs taktlose Frechheit und sein unverschämter Glaube, er könne die Welt mit seinem Überfallkommando regieren, erreichten das genaue Gegenteil. Er hat geschafft, worum sich Schriftsteller, Aktivisten und Gelehrte seit Jahrzehnten bemühen. Er hat das Getriebe offengelegt. Er hat sie ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt, all die Einzelteile, Schrauben und Bolzen, des apokalyptischen Apparates des Amerikanischen Imperiums.

Nun, da der Bauplan (Die Macht - Handbuch für den einfachen Bürger) unter die Massen gebracht ist, könnte es schneller demontiert werden als von den Experten vorhergesagt.

Her mit den Schraubenschlüsseln!

Quelle: ZNet Deutschland vom 08.04.2003. Übersetzt von: Raik Gruenberg
Orginalartikel: “Mesopotamia. Babylon. The Tigris and Euphrates”

Veröffentlicht am

09. April 2003

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