Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Der Gewalt den Boden entziehen.

Vortrag von Dorothee Sölle beim Politischen Nachtgebet in der Hamburger Hauptkirche St. Katharinen am 18.11.2001

Wir leben in einem Kreislauf der Gewalt und wir sind in ihm gefangen. Unser Gefängnis ist sicher das best tapezierteste der Weltgeschichte, aber gefangen sind wir doch im Kreislauf der Gewalt, die Gegengewalt erzeugt. Terror fordert Gegenterror, der wiederum den ersten Terror steigert. Gibt es denn keine Freiheit mehr, aus dem Zirkel auszubrechen? Müssen wir Kopfnicker und Zuschauerinnen bleiben, wenn die Gewalt täglich zunimmt und das Leben der Mehrheit der Menschen, der Mitgeschöpfe und unserer Mutter der Erde bedroht?

Ich zitiere aus einem Interview mit Jean Ziegler, dem Genfer UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, über die Welthandelsorganisation, die WTO, sagt er: “Sie ist der inkarnierte Neoliberalismus. Das sind Fundamentalisten, die von der absoluten Marktmobilität die Lösung aller Probleme erhoffen. Das Verschwinden der normativen Kräfte des Staates soll Frieden, Freiheit und Wohlbefinden für alle bringen - eine total absurde, irrationale Vorstellung.” In Wirklichkeit bringt diese Zerstörung aller Rechtsregeln neue Formen der Sklaverei - denken Sie an die Näherinnen, die unsere T-Shirts so wunderbar billig machen -, der Verelendung.

Meine in Bolivien lebende Arzttochter erzählte mir gerade, dass die Hälfte der Todesfälle im andinen Hochland jetzt auf Selbstmord zurückgeführt wird, die Verelendung ist so groß, dass die jüngeren Leute aus den Dörfern in die städtischen Slums fliehen, also in Betteln, Prostitution oder Drogenhandel, und die älteren Zurückbleibenden keinen Sinn mehr im Weitervegetieren sehen.

Der Konsens der Herren dieser Welt, also die Übereinstimmung von WTO, der Weltbank, dem internationalem Währungsfond mit den wichtigsten Wirtschaftsnationen, den G 8, beruht nach Jean Ziegler auf “drei Prinzipien: Privatisierung, totale Mobilität und Entstaatlichung.” (taz, 7. 11. 01) Wir leben unter einem neuen Totalitarismus, der weit cleverer und geschickter ist als die beiden anderen totalitären Herrschaftsformen, die wir kennen gelernt haben. Er brüllt nicht Kommandos herum, er spricht mit softer Stimme und beherrscht doch alles.

Die Hauptfrage ist in den letzten Jahren eine einzige geworden, die “ob es sich rechnet”.

Bundeskanzler Schröder hat von einer “Kriegserklärung gegen die zivilisierte Welt” gesprochen. Die Vokabeln gehen auf Samuel Huntingtons Zusammenstoß der Kulturen, den “clash of cultures” zurück. Aber ist es möglich die Reichen mit dem steinernen Herzen als “zivilisiert” und die Verelendeten als “unzivilisiert” zu bezeichnen ? Oder um es gleich mit George Bush zu benennen, gibt es jetzt den “monumentalen Kampf, den das Gute gegen das Böse” zu führen hat ? Welches Herz spricht denn da ?

Unser fleischernes Herz weiß doch, mindestens manchmal, wie es um die verelendete Welt steht. Und wir ahnen vielleicht, das, was angesichts dieser barbarischen Katastrophe verlangt wird. Es ist nicht militärische Vergeltung, sondern eine Kurskorrektur unserer Lebensweise, ein überprüfen der Werte, die unser Handeln bestimmen, ein Eingeständnis eigener Schuld am Leiden, am Elend, an der Demütigung derer, die in uns ihre Feinde sehen. Es wird in diesen Tagen vom ersten Krieg im 21. Jahrhundert geredet. - So barbarisch der Mord an 6000 Zivilisten ist, wir sollten unsere Augen nicht schließen vor der Tatsache, dass Krieg doch schon ist: der wirtschaftliche Krieg der Starken und der Stärksten gegen die Schwachen und Schwächsten. Dieser Krieg muss endlich aufhören, er erzeugt nichts als Hass und den Vernichtungswillen der starken, technologisch perfekt Ausgebildeten, die in der Elendswelt keine Hoffnung mehr sehen können. “Selbstmordattentäter” ist ein neuer und grauenvoller Begriff, früher hat man es auf den weniger gewalttätigen Satz gebracht “Macht kaputt, was euch kaputt macht.” Dagegen hilft keine Überlegenheit, weder technologisch, noch wirtschaftlich, noch militärisch. Wir sind als Menschen und als offene Gesellschaft verletzlich, und solange der wirtschaftliche Krieg weitergeht, werden die Bedrohungen zunehmen für uns. Das Fenster der Verwundbarkeit lässt sich nicht schließen, das ist ein grundlegender Irrtum, der in der Reagan-Bush-Tradition absolut verklärt und üblich ist.

Noam Chomsky, einer der schärfsten Kritiker der USA seit dem Vietnamkrieg, sagte, das Attentat auf die Twin Towers sei ein “niederschmetternder Schlag für die Palästinenser, für die Armen und Unterdrückten, ..weil es ihre legitimen Ängste und Klagen in den Hintergrund gedrängt hat… Wenn die US-Regierung Bin Ladens Gebete erhört (ein wunderbar ironischer Satz!) und einen massiven Angriff auf Afghanistan oder irgendeine andere muslimische Gesellschaft ausführt, dann wird genau das passieren, was Bin Laden und seine Verbündeten wollen - eine Mobilmachung gegen den Westen.” (taz, 20.9.)

Ich frage mich manchmal, wer eigentlich der Terrorist ist. Ich möchte hier gern noch einige andere Stimmen des “anderen Amerikas” zu Wort bringen, weil bei uns die amerikanische Opposition gegen Bush und Co. so unbekannt ist. Sie hat den Begriff des Terrorismus aufgenommen und fragt sich, wer eigentlich die Terroristen sind, die in Kolumbien, Palästina, Kosovo, Rwanda, Bosnien und im Kongo morden, welche Geldgeber und Interessen dahinterstecken. Wer kämpft denn gegen den Terror der Ökonomie, es sind doch im wesentlichen landlose Bauern in Brasilien, indische Frauen, die gegen die Biopiraterie von Monsanto aufstehen, fromme Christen, die noch wissen, dass auch wir unsern Schuldnern vergeben sollen. Die große wachsende Bewegung gegen die Globalisierung von oben ist gewaltfrei - und es sind umgekehrt die Herren dieser Welt, die sich in Genua von den Polizeiterroristen beschützen ließen.

Ein amerikanischer Freund, Theologieprofessor, schrieb nach dem 11. September einen Rundbrief über “unser geliebtes Amerika”, “Wir sind gewalttätig, Zuhause und im Ausland. Wir sind führend dabei, Waffen herzustellen und sie gut zu verkaufen. Wir haben einige der schlimmsten Unterdrückungs­systeme der Welt unterstützt, wir haben ihnen bei Terroraktionen gegen die eigene Bevölkerung geholfen. Wir haben für uns einen Lebensstil kultiviert, der die Verelendung anderer benötigt.” (Tom Driver)

Vor vielen Jahren hatte ich ein Gespräch mit einem amerikanischen Freund über die Aufrüstung, in dem er einen Satz sagte, der von zwei verschiedenen hochverehrten Götzen unserer Welt handelte. Er nannte sie Mammon, das Geld, und Mars, des Gott des Krieges. “Mammon kills more little children than Mars.” Dieser Satz vom Mammon , der mehr kleine Kinder umbringt, ist indessen immer wahrer, immer gültiger geworden. Wir leben ja in einer neuen Epoche, die in vielen Hinsichten barbarischer geworden ist als die früheren Formen des Kapitalismus.

Ich war eine leidenschaftliche Gegnerin des Adenauersystems, wegen der Aufrüstung, die der Preis für das Wirtschaftswunder war, aber heute ertappe ich mich manchmal in einer gewissen Nostalgie dem “rheinischen Kapitalismus” gegenüber, wie man das damalige System freundlich nennt, es verband Kapitalinteressen mit einer sozialen Fürsorge und einer Verantwortlichkeit für die Schwächeren.«

Genau das ist mit der Globalisierung von oben, dem Neoliberalismus, dem daher stürmenden Turbokapitalismus vergangen. Soziale Rücksichten sind überflüssig geworden. Die Selbstbereicherung der Reichen funktioniert am besten, wenn alles “dereguliert” wird, wie ein Lieblingswort der Weltbesitzer heißt. Alle Regeln und Einschränkungen wirtschaftlicher Art werden als Hindernis für den freien Handel angesehen und zusammengehend mit der Entmachtung des Staates - oder seiner “Verschlankung” wie unser dicker Kanzler sie schon anpries - abgeschlafft.

Die Ökonomie wird immer totalitärer. Die wichtigste Frage im Leben ist die, ob’ es sich “rechnet”, wenn man den Kindergarten eine Stunde länger offen lassen darf oder eine Halbtagskraft mehr im Altersheim anstellt. Geld wird gewinnbringend vermarktet, es dient nicht dazu, die Bedürfnisse der Menschen zu stillen. Warum sollte man es in die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse sozialer, pädagogischer, ökologischer Art stecken, wenn die Gewinner es doch zu mehr Geld machen können?

Margret Thatcher, eine glühende Vertreterin des Neoliberalismus hat das auf eine prägnante Formel gebracht, der für alle, die zu den Gewinnern gehören, wunderbar ist. “There is no alternative.” Wenn Sie die vier ersten Buchstaben dieses einfachen Satzes zusammenstellen, dann nennt man dieses Denken “das TINAsyndrom” An dieser Krankheit leiden wir alle, dieses alternativlose Denken beschädigt uns mehr als unsere vielen Hautallergien.

Es gibt aber Alternativen. Und ich denke, der Widerstand gegen diesen neuen Totalitarismus der Ökonomie wächst weltweit. Gegner der falschen Globalisierung die sich seit Seattle, Prag, Davos, Quebec, Genua immer klarer, immer öffentlicher gezeigt haben. Die 200.000 Menschen in Genua und ihre Organisation ATTAC haben einen wunderbaren einfachen Satz geprägt, den ich in Übereinstimmung mit der jüdisch-christlichen Tradition finde. “The world is not for sale.” Die Welt, die Luft, das Wasser, die Sexsklavinnen sind nicht Waren, auf denen steht: “Zu verkaufen”. Es gibt Sachen, die man weder kaufen noch verkaufen kann. The world is not for sale. Das Leben auf dieser von Gott geliebten Erde steht nicht zum Verkauf an.

Diese neue Bewegung möchte ich vergleichen mit den frühen Kämpfen für die Abschaffung der Sklaverei im 18. Jahrhundert: es war eine im Wesentlichen gewaltfreie, von Quäkern und anderen Christen initiierte Bewegung. Heute entsteht etwas Ähnliches, vor unsern Augen, auch bei uns. Wir können ja alle wissen, wie die Globalisierung von oben neue Formen der Sklaverei ermöglicht, die unsere T-Shirts so billig macht. Damals hat es 100 Jahre gebraucht, um die Sklaverei abzuschaffen, um Kinderarbeit zu beenden und Mindestlöhne einzuführen.

Dieser Kampf wartet auf uns. Wir können aus der Geschichte der Gewaltfreiheit für das, was heute notwendig ist, lernen. Mahatma Gandhi nannte diese Form der Freiheit “die größte Macht, die der Menschheit in die Hand gegeben ist, mächtiger als die mächtigste Zerstörungswaffe”. Wir sollten versuchen, an diese Kraft zu glauben.

Eine der vielen neuen Bewegungen in den USA heißt “Justice, not Vengeance”, Menschen wie Rosa Parks, Alice Walker, Gloria Steinen machen da mit. Großstädte wie San Francisco und Seattle erklären sich zu “hassfreien Zonen”. Gerechtigkeit ist die Antwort auf den Terror, die wir brauchen. Gerechtigkeit ist langsam, nachdenklich, geduldig and langfristig, Rache ist oft schnell und ihre Ergebnisse allzu kurzfristig. Die Rachsucht hat keine Vision hinter sich und keine Zukunft vor sich. Das sind Botschaften, die wir aus Amerika hören und wir sollten sie hier einbürgern. Mit ändern Worten: Wenn wir uns nicht ändern, wird sich nichts bessern. Jesus meinte, wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert untergehen.

Die wesentlichen Lebensbedingungen in unserer Welt haben sich, für die 80% in einem Maß verschlechtert, das wir alle nicht mehr ertragen sollten.

Aufstehen für den Frieden! heißt heute “Aufstehen für die Gerechtigkeit”, die die Grundbedingung für Frieden ist. 1983 war ich in Vancouver auf der ÖRK-Weltversammlung. Beeindruckend war für mich, dass die Menschen aus dem Süden uns auf die Reihenfolge aufmerksam gemacht haben: Gerechtigkeit und Frieden gehören zusammen, aber Gerechtigkeit kommt zuerst.

Die Globalisierung von oben ist ein barbarisches System der Verelendung der Mehrheit der Menschen und der Zerstörung der Erde.

Wir brauchen eine andere wirtschaftliche Globalisierung: Von unten. Im Interesse der Erde, im Interesse der Ärmsten.

Mehr zu Dorothee Sölle siehe auf der Lebenshaus-Website (Linksammlung unten) sowie unter folgendem Link:

www.dorothee-soelle.de

Veröffentlicht am

10. Dezember 2001

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