Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Selig sind die Friedensstifter

In einer engagierten Predigt aus dem Jahr 1980 setzt sich Dorothee Sölle mit dem biblischen Vers "Selig sind die Friedensstifter" auseinander. Es ist ein glühendes Plädoyer gegen Militarismus und für das Leben.

Von Dorothee Sölle - Predigt im Lübecker Dom am 6. September 1980

Liebe Gemeinde,

wir haben eben miteinander gesprochen: "Selig sind die Friedfertigen." Lassen Sie mich noch zwei andere Übersetzungen dieses Verses ihnen auf den Weg geben - die eine, die sehr wörtlich ist, heißt: "Selig sind die Friedensstifter, sie werden Gottes Söhne heißen." Und eine andere, die vielleicht das etwas dunkle Wort "Selig" ein bißchen klarmacht: "Freuen dürfen sich alle, die Frieden schaffen, sie werden Kinder Gottes sein."

Ich möchte Ihnen erzählen von einem motorradbegeisterten Theologiestudenten, den ich vor einiger Zeit getroffen habe, ein Student der neuen Sorte ohne humanistischen Hintergrund, aber mit viel praktischer Leidenschaft, ohne Barock-Musik, aber mit "Rock gegen Rechts". Dieser Student Rüdiger hat mir erzählt über seine Erfahrungen in der Bundeswehr. Ich habe versucht, das hinterher möglichst wörtlich aufzuschreiben. Und das ist, was er gesagt hat: "Da gehst du kaputt, oder du machst mit. Da kommst du in die Kaserne. Plötzlich ist dein privater Raum ganz klein, ganz beschränkt. Ich hatte mir vorher ein Zimmer erkämpft zu Hause, es hat lange gedauert, jetzt kann ich nichts mehr aufhängen, kein Platz. Ich lebe aufs nächste Wochenende hin, will meine Freundin sehn. Immer nur in dem Kasten wäre vielleicht einfacher als halb zu Hause, halb dort. Aber das ist es nicht nur, was einen zerreißt. Da wird einem ein ABC-Krieg erklärt, wie das läuft, atomar, bakteriologisch, chemisch und so, und zugleich beruhigt man uns, alles nicht so schlimm, man soll sich nur unter den nächsten Hügel ducken, falls einer da ist, dann feststellen, wo die atomare Explosion war, dann melden. Alle wissen, daß das Stuß ist; man macht aber weiter mit. Man hält das nur aus mit viel Dealen und mit Alkohol. Die Bundeswehr", sagt Rüdiger, "versteht das nicht; entweder paßt du dich an, läßt alles mit dir machen, denkst einfach nicht weiter, Angriffskriege für die NATO, klar!, das ist nichts Neues, alles schon eingeplant, entweder machst du da mit, dann bist du kaputt, auch für später, am Arbeitsplatz lebst du dann auch so, läßt alles mit dir machen, wenn nur die Kohlen stimmen, oder du machst nicht mehr mit, fängst an, verstehst du, und das läuft dann nicht nur über die Informationen, da bist du mit deinen Emotionen ganz schön drin, da hast du eine wahnsinnige Wut im Bauch und heulst, da kapierst du was für dein Leben, fängst an!"

Rüdiger kam, wie Tausende, zur Bundeswehr. "Eine Alternative war gar nicht drin, von zu Hause aus!", sagte er. Er fing an, sich einzumischen, verweigerte, wurde abgelehnt, verweigerte wieder. Heute studiert er Theologie. Was mich an seiner Erzählung faszinierte, war der Punkt der Einmischung. Das Zimmer, was er sich erkämpft hatte, war plötzlich weg. "Das kann dir doch genauso passieren, wenn du Ersatzdienst machst", gab ich ihm zu bedenken. Da sagte er mir: "Das ist doch was ganz anderes. Da weißt du doch, wofür du das tust." Sich einmischen, sich wehren, wissen, wofür man lebt, das gehört zu den wichtigsten Erfahrungen des Lernens. Ohne Einmischung wäre Rüdiger ganz normal seinen Weg weitergegangen. Er wäre jetzt "tot", wie er das nennt. Das heißt: Er funktionierte in irgendeinem Büro, an irgendeinem Arbeitsplatz. Er grübelt immer noch darüber nach, warum die Mehrzahl seiner Kumpels nicht mit ihm gegangen ist, als er anfing, sich einzumischen, warum sie solche Angst vor ihren Emotionen hatten, warum sie sich lieber totstellten, das versteht er nicht. Und je länger ich darüber nachdenke, um so weniger verstehe ich das.

Ich glaube, daß die Übersetzung unseres Bibelverses "Selig sind die Friedfertigen", wie wir sie von Luther kennen, eine Gefahr in sich trägt, nämlich die des friedlichen Dabeisitzens, die des berühmten Schneiders aus Sachsen, der über seinem Geschäft den Spruch anbrachte, der auf seinen Landesfürsten gemünzt war: "Unter deinen Flügeln kann ich ruhig bügeln." Wenn das der Sinn von "Selig sind die Friedfertigen" ist, und in weiten Kreisen des deutschen Protestantismus ist das der Sinn von "Selig sind die Friedfertigen", dann ist das eine Verfälschung dessen, was Jesus gemeint hat, dann ist diese Übersetzung nicht richtig, dann müssen wir eine andere Übersetzung lernen, die mit "Frieden machen", wie es im Urtext heißt, "Frieden stiften", "am Frieden arbeiten" zu tun hat. Und das ist: sich einmischen. Wie wird man denn einer, der Frieden macht? Ich glaube, sich einmischen hat einmal damit zu tun mit dem Ich, das jemand nicht mehr versteckt und anonym hält. Als Rüdiger das nicht mehr aushielt, da kannte man ihn in der Kaserne. Als er die Zurückhaltung seiner Gefühle aufgab, da wurde er sichtbar, da war er ein "Spinner" geworden.

Wer sich einmischt, gibt ein Stück von seinem eigenen Leben zum Beispiel in eine Institution hinein, die damit keineswegs rechnet, die nicht auf Einmischung hin konstruiert ist. Sich geben heißt, sich bekannt machen. Von Jesus heißt es in den Evangelien, daß er die Dämonen nicht leben ließ, weil sie ihn kannten. Er war kenntlich geworden. Er hat sich eingemischt in die Krankheiten anderer, die doch deren Angelegenheiten sind, in die Herrschaft der Dämonen, die doch das Sagen haben. Institutionalisierte Herrschaft ist eine dämonische Angelegenheit, ist unkontrollierbar geworden und kommt einher wie das allmächtige Schicksal persönlich. Macht wird dabei ausgeübt durch das Verbot, sich einzumischen. Was für ein Krieg das ist, ob er zur Verteidigung eines angegriffenen Nachbarlandes oder zur Eroberung des wichtigsten Lebensmittels, nämlich des Öls, passiert, das geht dich nichts an, ob A-, B- oder C-Waffen, darüber hast du nicht zu befinden. Aber sich einmischen heißt, sich kenntlich machen, daß die Leute wissen, das ist der, der immer die Klappe aufreißt, der Spinner, das ist die, die auch nie zufrieden ist. Das riskieren, heißt: sich einmischen und nicht alles mit sich machen lassen. Das andere Element bei der Einmischung ist das Mischen, dieses Durcheinander, diese Verwirrung der Kompetenzen. Jesus hat immerzu Mischmasch produziert: Nicht die Bluts- und Familienbande waren wichtig, sondern wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder, Schwester und Mutter: Das heißt: Private und öffentliche Angelegenheiten werden gerade durcheinandergebracht. Grenzen der Nähe, der Intimität zu wenigen und der Ferne und der Gleichgültigkeit zu den vielen werden nicht respektiert. Alles gerät in den Mischmasch, Religion, Glauben hat plötzlich mit Politik zu tun, psychisch Kranke haben plötzlich mit Normalen zu tun, nicht wie bislang nur mit Experten, Demokratie hat dann mit Einmischung zu tun und nicht mit Kompetenzabgrenzung und Einschüchterung durch die Experten.

Wenn wir lernen wollen, selber zu verändern und Friedensmacher zu werden, dann müssen wir lernen, selber hinzugeben und zu vermischen, wir müssen dabei lernen, uns selber aufzugeben, bekannt zu machen und diese Einteilungen unserer Welt, die alles in bestimmte Ordnungsschemata pressen, aufzugeben. Denn diese Einteilungen führen uns genau dahin, wo wir jetzt sind, nämlich in die Nähe eines dritten Weltkriegs. Unsere Zeit, das heißt die Zeit nach dem NATO-Beschluß vom Dezember 1979 zur Aufrüstung, ist ja oft mit 1914 verglichen worden. Die internationalen Spannungen haben ein Ausmaß erreicht, daß nur eine ganz kleine Dummheit eines der Führenden, nur ein kleiner Computerirrtum schon reicht, um die Weltkatastrophe auszulösen.

Ich meine, daß wir alle uns ändern müssen, wenn wir etwas daran tun wollen. Ich meine, daß wir alle uns ändern müssen. Ich glaube, die Frage, ob erst der einzelne oder erst die gesellschaftlichen Strukturen verändert werden sollten, ist eine relativ dumme Frage.

Wer sich einmischt, versucht, die Umwelt zu verändern, und dabei macht er die Erfahrung, daß er oder sie sich selber verändert, aber nur durch solche Einmischung ist Veränderung möglich. Denn jede andere Form von Lernen ist eigentlich nur so viel wert, wie wenn man Kaffee in eine Tasse schüttet. Das macht die Tasse im Augenblick zwar voll, aber sie bleibt trotzdem dieselbe Tasse. Wenn Lernen nicht mehr ist, als das, dann haben wir uns nicht verändert, und dann können wir auch nichts verändern. Solange ich in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Kirche, in der Politik als eine Tasse behandelt werde, solange ich das zulasse, kann ich mich nicht verändern, weil ich mich nicht eingemischt habe. Auch Gott kann durch Gebote oder Versprechen nichts ändern. Heilen, Heilmachen, Neuwerden geschieht nicht durch Infusion, sondern durch Einmischen.

Der christliche Fachausdruck für diese Einmischung, Gottes Einmischung in die Welt, heißt Inkarnation - das Wort wurde Fleisch, Gott mischte sich ein, in Jesus Christus, in die Ökonomie, in die Politik, in die Art, wie wir die Geisteskranken behandeln und in die Rüstung. Gott wollte etwas verändern, das hatte er und das hat er nötig. Lieben bedeutet nicht, jemandem etwas schenken, etwas Kostbares, wozu der andere keinen Zugang hat, das wäre immer noch ein ganz einseitiges Verhältnis, wobei der eine Mensch der Schenker ist, der andere Mensch die Tasse, in die etwas hineingetan wird. Lieben bedeutet, mit den Fähigkeiten des anderen etwas zu produzieren. Gott behandelt uns nicht wie leere Tassen, auch wenn die Theologen manchmal so daherreden. "Die Friedensstifter werden Gottes Kinder heißen." Normalerweise wird man Sohn oder Tochter nicht durch Handeln, sondern durch Geborenwerden. Wir haben deswegen auch normalerweise keinen Einfluß, wessen Kind wir werden, aber in diesem Fall, in der Sache Gottes, ist das anders. Diejenigen, die Frieden machen, werden Kinder Gottes. Wir haben einen Einfluß darauf, wir sind mit im Spiel: Wir, als die, die sich einmischen könnten, handeln mit. Die, die wie Gott handeln, das heißt Frieden herstellen, werden seine Kinder genannt. So verstehe ich diese Seligpreisung. Gott fing an, mit uns zusammen etwas herzustellen, etwas Neues, das wir Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit nennen. Er fing dieses Reich Gottes an; ohne unsere Kooperation kommt er da nicht weiter. Weil er sich aber eingemischt hat, darum können wir uns auch einmischen und weiter daran arbeiten.

Ich möchte das noch einmal negativ ausdrücken, um es klarzumachen: Wenn und solange wir uns nicht einmischen, sind wir ohne Gott. Damit meine ich gar nichts Besonderes, Religiöses, sondern ich meine ganz den normalen Alltag, in dem wir ohne Hoffnung, ohne Kraft, ohne Einmischung nur so weiter funktionieren. "Da gehst du kaputt", wie Rüdiger das gesagt hat. Oder: Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt - wer sich nicht einmischt, lernt nichts mehr. Wer nichts lernt, stirbt. "Warum wollt ihr sterben?" fragt der Prophet Hesekiel. "Werft von euch all die Missetaten, die ihr gegen mich begangen habt und schafft euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Warum wollt ihr denn sterben, Haus Israel? Macht euch ein neues Herz." Es wird klar, wenn wir konkret werden. Die größte Missetat gegen den, der Gerechtigkeit und Frieden will, in unserer Welt ist der Militarismus, den wir dulden und in den wir uns nicht einmischen.

Dabei meine ich gar nichts Utopisches, sondern etwas durchaus Realistisches. Ich rede über unsere nächsten Nachbarn, nämlich ein kleines Volk an unserer Grenze. Ich rede über die Holländer, die sich in anderer Weise einmischen als unser Land, für die offenbar ein Weltkrieg genügt hat, während bei uns zwei nicht mal langen. Die Holländer haben sich eingemischt in Sachen Frieden - "Abrüsten ja - Modernisierung nein!" - stand auf den Plakaten ihrer Demonstrationen vor dem Beschluß der NATO.

Das niederländische Parlament hat die Stationierung von Mittelstreckenraketen abgelehnt, und das ist ein Stückchen Regenbogen am Himmel. Dafür soll man dankbar sein, daß es so etwas gibt, daß Menschen in Europa verstanden haben, worauf es ankommt, was auf uns zukommt und was wir dagegen tun können. Wieviel Einmischung muß da gewesen sein, wieviele junge Leute müssen da Erfahrungen gemacht haben wie die, die Rüdiger beschreibt. Wie viele Gespräche, Kongresse, Radiosendungen und Artikel, Aktionen, Gottesdienste, Gebete müssen da gewesen sein? Wieviel Einmischung in die Behauptung von Experten, daß mehr Raketen mehr Sicherheit wären, wo sie in Wirklichkeit mehr Gefahr nach sich ziehen, als ob es nicht genügte, jeden einzelnen Russen elfmal killen zu können, als ob das nicht sicher genug wäre. Nun, die Holländer haben sich eingemischt, so wie sie vor Jahren einmal aufgehört haben, den Kaffee aus Angola zu trinken, sie sagten, er schmeckt nach Blut, sie haben das jeder Rentnerin erklärt, so geht das jetzt ähnlich. Das macht mich verrückt zu denken, daß dieses Volk etwas schafft, das mein Volk mit einer viel blutigeren Geschichte, einer entsetzlichen Geschichte, nicht schafft, daß hier die Menschen immer noch diesen Nachrüstungsbeschluß als eine Nebensache behandeln, gar nicht verstanden haben, was da eigentlich passiert ist an massivster Aufrüstung und Militarisierung unserer gesamten Gesellschaft.

Ohne Einmischung ins jetzt kann uns auch die Vergangenheit nichts nützen. Wir haben dann nichts aus ihr gelernt. Unsere Toten sind umsonst gestorben, wenn wir uns nicht einmischen. Gegen wen rüsten wir denn auf? Gegen die Russen? Sind die Russen wirklich der Feind - oder ist Washington der Feind? Ist es nicht die Rüstung selber, die uns verschlingt? Rüsten wir nicht eigentlich auch gegen die Hungernden in der Dritten Welt? Wem verweigern wir denn die Hilfe? Wem überlassen wir denn die Welthandelsbedingungen, den in diesen Welthandelsbedingungen eingeplanten Hungertod?

In einem Flugblatt der amerikanischen Friedensbewegung habe ich den Satz gelesen: Die Bomben fallen jetzt! Daraus habe ich viel gelernt. Zuvor meinte ich immer, Aufrüstung, das sei eine Art Vorbereitung auf das, was vielleicht später, vielleicht nie kommt. Aber wenn man sich klarmacht, was es bedeutet zu sagen: Die Bomben fallen jetzt!, dann wird deutlich, daß die Aufrüstung, die unser Geld, unsere Steuern, unsere Intelligenz, unsere Anstrengung verschlingt, daß die auch unser eigenes Land zerstört und daß sie die Dritte Welt nicht zum Frieden oder zur Gerechtigkeit, zum Sattwerden kommen läßt. In der gesamten Welt arbeiten heute von hundert Wissenschaftlern etwa die Hälfte direkt oder indirekt für die Rüstung. 50 Prozent der Intelligenz arbeitet daran, den Overkill zu verbessern, bessere Bomben, bessere Mordpläne auszudenken. Die Amerikaner haben für dieses Gemisch aus Wirtschaftsinteressen, wissenschaftlicher Forschung und Militärmacht den Ausdruck "das industrielle militärische System" oder kurz: "das System" geprägt. Wenn ich ein Wort aus der Bibel suche, dann möchte ich eigentlich lieber sagen: das Tier, das große Tier aus dem Abgrund, das Tier mit den sieben Köpfen: mehr Energie, mehr Fortschritt, mehr Overkill, mehr Profit, mehr Weltmarkt, mehr Folter, mehr Lebensstandard. Ich habe Angst vor diesem Tier mit den sieben Köpfen. Weil ich Angst habe, mische ich mich ein. Ich versuche Widerstand zu organisieren. Deswegen stehe ich hier! Unterwerfung tötet, sie tötet jeden einzelnen von Ihnen. Sie können seelisch sterben an der Unterwerfung, an dem Mitmachen, an dem Sich-nicht-Einmischen, an dem Es-wieder-mal-nicht-gewußt-Haben.

Wir leben schon jetzt in einem Krieg gegen das wirkliche Leben. Wir leben im Krieg mit der Natur, die wir ausplündern. Wir leben im Krieg mit unseren eigenen Bedürfnissen nach einem einfachereren Leben, die wir verdrängen oder verschieben müssen. Wir leben in dem Kalten Krieg, der zwischen den Reichen und den Armen stattfindet und bei dem die Armen auf der Strecke bleiben. Die Bomben fallen jetzt!

Jetzt verhungern die von uns Ausgeplünderten und Im-Stich-Gelassenen. Sie fallen auf dem, was die Naivität früherer Zeiten manchmal "das Feld der Ehre" genannt hat.

Einmischung, das bedeutet: Widerstand organisieren. Seit dem November vorigen Jahres mit den NATO-Beschlüssen zur diesmal "Nachrüstung" genannten Aufrüstung vollzieht sich in unserem Land eine Militarisierung der Gesellschaft, die sie an vielen, vielen kleinen Beispielen, genau nachvollziehen können. Die Menschen sollen den dritten Weltkrieg als eine Möglichkeit annehmen. Sie sollen sich mit dem Gedanken vertraut machen; aus der eher verschwiegenen und gesellschaftlich nicht besonders anerkannten Rolle, die die Bundeswehr bislang hatte, soll jetzt die Bundeswehr ins volle Licht der Öffentlichkeit gerückt werden.

Ein paar Fakten dieser Militarisierung unseres Landes möchte ich nennen: Plötzlich wird die Frage "Frauen ins Militär?" publizistisch hochgespielt, ein geschickt lanciertes Interview bringt diese Frage ins Rollen, sie wird diskutiert, man bemüht dabei einige feministische Argumente, daß es doch besonders gleich sei, wenn auch die Frauen sich in diesen Handwerken ausbilden könnten etcetera.

Ein weiteres Faktum: Rekrutenvereidigungen finden öffentlich und unter großer Beteiligung der Medien pomphaft statt. Es ist etwas Wichtiges, etwas, worauf man noch stolz sein muß, man meint, es muß damit ins rechte Licht gerückt werden.

Ein weiteres Faktum: Eines der wichtigsten Bedürfnisse der Militärs wird wiederentdeckt, nämlich Orden zu tragen. Bislang war dieses Bedürfnis wohl nicht so wichtig, aber nun wird es wieder ausgegraben, eine kleine symbolische Geste, die tief bezeichnend ist für das, was an Militarisierung in unserem Land zur Zeit abläuft.

Weiter: Kriegsdienstverweigerer werden diskriminiert. Ihr Gewissen wird als überprüfbar eingestuft, alle Versuche, die von der Friedensbewegung unternommen worden sind, um zu erklären - gemäß einer protestantischen Auslegung von dem, was Gewissen ist -, daß das Gewissen nicht überprüfbar ist, sind abgeschmettert. Gewissen werden immer noch geprüft von Militärs. Wenn ich mir überlege, was in unserem Volk eigentlich gutläuft, was menschlich gerechtfertigt ist, worauf wir stolz sein können, so wäre eines der ersten Dinge, die ich nennen würde, unsere Zivildienstleistenden, diese Tausende von jungen Leuten, die den Dreck wegmachen, ohne die eine ganze Reihe von sozialen und karitativen Institutionen überhaupt nicht mehr funktionieren könnten, die also wirklich "Helden der Nation" sind, die mehr Mut, mehr Kraft, mehr Ausdauer beweisen als viele andere. Von ihnen spricht in diesem Zusammenhang natürlich niemand.

Der Militarismus, der in unserem Land wächst, vernichtet die Lebenschancen der Dritten Welt. Er bedroht die Zukunft unserer Kinder, aber er zerstört auch unser gegenwärtiges Leben. Er nimmt uns die Fähigkeit, Söhne und Töchter Gottes zu werden, Friedensstifter zu werden. Wenn wir den Militarismus zum Gott machen, für den kein Opfer zu klein ist, wenn Sicherheit unser goldenes Kalb ist, das wir anbeten und für das wir alles aufgeben, dann wenden wir uns von dem lebendigen Gott ab, dann fürchten und lieben wir den Militarismus. Aber indem wir das tun, belügen wir uns selber und zerstören unser eigenes Leben. Man kann nicht ungestraft mitmachen, mitdulden, Amen sagen, oder ruhig "unter deinen Flügeln weiterbügeln".

Einmischung heißt Widerstand organisieren. Was wir heute brauchen, was wir für die nächsten Jahre brauchen, ist eine breite, umfassende, von, sagen wir, der Mitte bis nach links gehende, Menschen umgreifende Widerstandsbewegung gegen den Militarismus.

Für den Frieden eintreten, gewaltfrei und illegal, sich einmischen, Partei ergreifen für das Leben. Ich glaube, wir können heute fast am meisten lernen aus den Befreiungskämpfen der Dritten Welt. Ich habe aus dem Widerstand in Chile ein Flugblatt in die Hand bekommen, das dort unter Lebensgefahr verbreitet wird. Diese Chilenen denken über ihre eigene Situation nach, wie sie unter dieser Diktatur leben, was dabei mit ihnen geschieht. Ich glaube, wir können vieles von dem, was sie dort sagen, für unsere Situation übernehmen, denn sie sagen: "Misch dich ein! Verweigere die Kooperation mit dem Tod! Wähle das Leben!" Dann sagen sie, und damit möchte ich schließen: "Laß nicht zu, daß man dir deine Seele austauscht! Amen!"


Fürbittegebet

Selig sind die Friedensstifter

Jesus, unser Bruder,
du zerbrichst das Gewehr
und machst die dir folgen
furchtlos und kämpferisch
Die über uns herrschen,
sprechen von nachrüsten
und meinen aufrüsten
sie sagen Verteidigung
und meinen Intervention und ersten Schlag
sie sagen Frieden
und meinen Öl
Jesus, laß uns werden wie du und die Lüge nicht dulden
wir wollen den Militarismus nicht dulden
über uns nicht, neben uns nicht, in uns nicht.

Herr, erbarme dich …

Jesus, unser Bruder,
du störst das Geschäft mit den Waffen
du hast dich eingemischt
du hast Widerstand organisiert
wir haben uns vor dem Elend der Armen versteckt
in einem waffenstarrenden Luxuspalast wohnen wir
Wir rüsten auf und lassen verhungern.
Jesus, laß uns werden wie du
und das Sterben nicht dulden
wir wollen dem Militarismus nicht dienen
nicht mit Worten, nicht mit Geld und nicht mit Lebenszeit

Herr, erbarme dich …

Jesus, unser Bruder,
du legst die Tötungsindustrie lahm
du treibst den Wunsch nach Totsicherheit aus unsern Herzen
du machst uns frei uns zu wehren;
die Militärs in unserm Land
wollen wieder Orden tragen
es kostet nur einhundertfünfzigtausend Mark
dich auszuliefern hat einmal
nur dreißig Silberlinge gekostet.
Jesus, lehr uns verstehen, was Leben ist,
wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt
laß uns deine Brüder und Schwestern werden,
die Frieden machen.

Herr, erbarme dich …

 

Mehr zu Dorothee Sölle siehe auf der Lebenshaus-Website (Linksammlung unten) sowie unter folgendem Link:

Veröffentlicht am

04. Mai 2003

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