Staat der WohlfahrtVon Andrea Noll - ZNet Kommentar 24.11.2002 Kennen Sie den Witz von dem Mann, der einen Freund auf der Straße trifft und stöhnt: “O Gott - du glaubst gar nicht, wieviel fette Wurst ich tagtäglich verdrücken muss, um meine Frau und die Kinder von der Wurstpelle sattzukriegen!” ‘Brosamen vom Tische des Reichen’ - mühsam ernährt sich das deutsche Eichhörnchen - sprich, wir alle. Glücklich, wer Daimler-Chrysler-Aktien besitzt - fette Aktienpakete - Porsche oder Krauss-Maffei-Wegmann - Sie wissen schon, jener berüchtigte Waffenschmied aus München (Paul Celan in seiner ‘Todesfuge’: “Der Tod ist ein Meister aus Deutschland”). Wir andern müssen uns mit der mageren Wurstpelle unseres abgespeckten Sozialstaats begnügen. Einst durchpflügte das stolze Schiff ‘Wohlfahrtsstaat’ die wütenden Wogen des westeuropäischen Kapitalismus (Sie erinnern sich: sichere Jobs, ein funktionierendes Sozialversicherungssystem, staatliche Infrastruktur und richtige, echte Staatsunternehmen wie Post und Bahn). Die Sache funktionierte von der Nachkriegs-Ära bis Anfang der 80ger Jahre… ‘Wohlfahrtsstaat’ - per definitionem ein ideales Versorgungsmodell, bei dem der Staat umfassende Verantwortung für das Wohl seiner Bürger akzeptiert Anorexia Unser früherer Kanzler Helmut ‘King’ Kohl, der Deutschland 16 Jahre lang ‘regierte’, provozierte 1993 einen Mini-Volksaufstand, als er uns de facto alle miteinander und kollektiv zu einem übersättigten Haufen Faulpelze erklärte. Kohl, ein Mann gut und gern seine 170 Kilo schwer und praktisch am Esstisch festgewachsen, hatte damals tatsächlich die Chuzpe, das arbeitende Deutschland als “kollektiven Freizeitpark” zu beschimpfen. (Hintergrund: Gewerkschaften hatten Arbeitszeitverkürzungen angeregt). Der Ausdruck ‘kollektiver Freizeitpark’ wurde prompt zum offiziellen ‘Unwort des Jahres 1993’ gekürt. Aber zu Kohls Gunsten muss gesagt werden, seine verzerrte Weltsicht ist durchaus typisch für uns Deutsche. Insbesondere was unsere ökonomische Realität angeht, leiden wir an einem äußerst verzerrenden Knick in der Optik - man könnte die Krankheit auch als ‘Paradoxes Wahrnehmungssyndrom’ bezeichnen. Wir sehen unsere fetten deutschen Konzern-Katzen (fat cats), und was ist unsere erste Reaktion: “Oh Gott - wie unterernährt, die armen Miezen! Praktisch kurz vorm Verhungern!” Dabei werden Deutschlands Großunternehmen gemästet wie Weihnachtsgänse - mit Subventionen und Vergünstigungen aller Art. Und was das Wort ‘Steuern’ heißt, haben diese Leute schon längst vergessen können. Und - sind sie’s zufrieden? Kein Gedanke. Erst kürzlich hat Josef Ackermann von der ‘Deutschen Bank’ wieder angedeutet, entweder die Bundesregierung verhalte sich etwas kooperativer, oder das Symbol deutschen Wohlstands werde sich leider gezwungen seh’n, das Land Richtung London zu verlassen. Und das deutsche Volk zittert. Durch die Massenmedien noch bestärkt in seiner widersinnig verzerrten Wahrnehmung, sieht es die Katastrophe bereits herannahen und unsere ‘ausgemergelten’ nationalen Wirtschaftsgiganten mit knurrendem Magen Richtung Ausland entflieh’n. In Wirklichkeit ist die Situation genau umgekehrt: Immer mehr Arbeitende - oft zehntausende auf einen Schlag - werden ‘gedunloppt’, das heißt, rausgeschmissen, damit Fusionen besser flutschen und Aktien Flügel bekommen. Dennoch nehmen wir unsere ‘verschlankte’, mit Hungerlöhnen abgespeiste Arbeiterschaft oftmals immer noch als überfütterten Dickwanst-Verein mit Vollkaskomentalität wahr - kurz: als Fall für die Diätklinik. Die Arbeitslosenquote in Deutschland liegt mittlerweile bei knapp unter 10 Prozent - 1982 lag sie noch bei 6,7 Prozent (allein in den ‘neuen Bundesländern’ haben wir inzwischen um die 20 Prozent Arbeitslose; dabei kennt man das Problem dort überhaupt erst seit 1989). Im Jahr 2000 ‘beauftragte’ der Deutsche Bundestag die derzeitige Bundesregierung mit der Erstellung des ‘Ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung’. Fazit des Berichts: “Die Bestandsaufnahme (…) der Entwicklung in Deutschland (…) macht in fast allen Lebensbereichen deutlich, dass soziale Ausgrenzung zugenommen und Verteilungsgerechtigkeit abgenommen hat”. Wie sehr der Kapitalismus bereits die Axt an unsern Sozialstaat gelegt hat, verdeutlichen die Report-Daten bzgl. der Sozialhilfeentwicklung: Seit 1973 stieg die Zahl der ‘Bezieher’, laut Bericht um 400 Prozent - die ‘neuen Bundesländer nicht mitgerechnet. Die Sozialhilfequote bei Kindern unter 18 habe sich seit 1982 verdreifacht - wieder nur die ‘alten Bundesländer’ gerechnet. ANOREXIA. Wer an dieser oft tödlich endenden Störung leidet, krankt an einer Fehlwahrnehmung des eigenen Körpers. Magersüchtige können vor dem Spiegel steh’n - nur Haut und Knochen - und erblicken darin eine überernährte, adipöse Person - jemand, der dringend abgespeckt gehört. Arbeitende in Deutschland arbeiten immer mehr und bekommen immer weniger. Die Leistungen der Sozialversicherungen gehen zurück, Rente inbegriffen. Nichtsdestotrotz nehmen sich Deutschlands Arbeitende nach wie vor häufig als krass privilegiert und ‘überbezahlt’ wahr - “uns geht’s zu gut!’ - als Belastung für die Arbeitgeber bzw. als fatalen Ballast für das ohnehin schon halb abgesoffene Sozialstaatsschiff. Noch weit drastischer die Situation der mittlerweile 4 Mio Arbeitslosen. Das neue sogenannte ‘Hartz-Konzept’ behandelt sie quasi als Verbrecher. Und immer mehr Menschen zwingt man in Jobs, von denen man nicht leben und nicht sterben kann, in Zeitarbeit und unterversicherte sogenannte Macjobs. Überall in Westeuropa das gleiche Bild des Grauens. Sei es nun der Post-Thatcherismus Großbritanniens oder das verheuchelte holländische ‘Polder-Modell’, sei es der Ausverkauf des nationalen Sektors in Frankreich oder die Axt an die einst so widerstandsfähige schwedische Wohlfahrtsstaats-Fichte. Die Europäische Gemeinschaft, die EU, bietet im Grunde überhaupt keine soziale Agenda - jedenfalls keine funktionsfähige (derzeit findet unter dem sattsam bekannten (Konservativen) Valéry Giscard d’Estaing ein ‘EU-Verfassungskonvent’ statt, wobei eine Art ‘Konstitution’ für das amorphe Staatengebilde EU entworfen werden soll - wie’s derzeit aussieht, eher eine Veränderung zum Schlechteren hin). Die meisten (wenngleich nicht alle) nationalen Gewerkschaften sind antiquiert - lahme Schnecken, die es nicht schaffen werden, sich auf EU-Ebene effektiv zu reorganisieren. Manche versuchen’s erst gar nicht, lassen sich lieber von ihren nationalen Regierungen zu faulen Kompromissen ‘überreden’. Die ‘EU der Gewerkschaften’ gegen die ‘EU der Konzerne’ - das ist wie ein Rennen zwischen einem VW und einem Porsche. Erst kürzlich hat jemand die deutschen Gewerkschaften als ‘suizidal’ bezeichnet - zumindest stellen sie ‘eine Gefahr für sich selbst’ dar. Schwer zu beantworten die Frage, ob zumindest die Linke es schaffen wird, sich auf europäischer Ebene zu reorganisieren. Hier in Deutschland setzen wir große Hoffnung in die PDS. Gerade erst (als Partei) mit einem Fußtritt zum deutschen Bundestag hinausbefördert (siehe ZNet-Artikel: ‘German luck’ von Boris Kagarlitsky), scheint sich die Partei inzwischen berappelt zu haben. Auf ihrem jüngsten Parteitag hat sie es geschafft, ihren linken Flügel, ihre basisdemokratischen Ansätze, neu zu stärken. Die PDS - ohnedies eher heterogenes, pluralistisches Projekt und Jahrmarkt der Möglichkeiten denn rigide Partei - enstand 1990, als Teile der alten DDR-SED mit Teilen der sozialistischen Bewegung Westdeutschlands verschmolzen. Die ‘Partei des Demokratischen Sozialismus’ - sie kombiniert auf vorteilhafte Weise die miesen Erfahrungen von beiden Seiten der ‘Mauer’. Wir im Westen mussten die bittere Erfahrung machen, dass (repräsentative) Demokratie nicht funktioniert, die im Osten machten die bittere Erfahrung, dass Sozialismus (Marke ‘Honecker’) nicht funktioniert. Also wurden beide miese Erfahrungen in einem dialektischen Prozess fusioniert, und heraus kam als Synthese das Konzept des ‘demokratischen Sozialismus’: Demokratie am Arbeitsplatz, Demokratie auf kommunaler Ebene, Demokratie in den Länderparlamenten und möglichst auch auf Bundesebene, und das kombiniert mit möglichst viel Sozialismus - auf diese Weise soll dem Sozialstaat neues Leben eingehaucht werden. Auf ihrem Oktober-Parteitag zitierte die PDS Pierre Bourdieu - inzwischen leider verstorben - und seine Neoliberalismuskritik (die ‘Höllenmaschine’). Man kam zu folgender Überzeugung: “Es ist zu prüfen, ob und wie basisdemokratische Modelle der Bürgermitbeteiligung (Bsp. Porto Allegre) auf Deutschland übertragbar und neu umzusetzen sind” (zitiert aus ‘Beschluss der 1. Tagung des 8. Parteitags’, 12.-13. Okt. 2002 in Gera). Bleibt zu hoffen, dass diese Modelle auch auf europäischer Ebene ‘übertragbar’ und ‘umsetzbar’ sind (immerhin hat die PDS einige Sitze im EU-Parlament). Wohlfahrt Gut möglich, dass der europäische Wohlfahrstaat am Ende ist - nicht so die Wohlfahrt! Nach wie vor gibt es Leute, die sehr wohl ‘wohl fahren’. Die westeuropäischen Regierungen haben lediglich ihre Agenda ausgetauscht. Anstatt also das Wohl der Mehrheit ihrer Bürger im Auge zu haben (was die Schaffung einer Infrastruktur für halbwegs anständige, versicherte Jobs, von denen man auch runterbeißen kann, bedeuten würde, den Erhalt sozialer Dienstleistungen und sozialer Standards sowie Hilfen für arme Familien und die Bekämpfung der Obdachlosigkeit), richtet sich das Augenmerk der westeuropäischen Regierungen inzwischen zusehends auf die ‘Bedürftigkeit’ Konzern-Europas, auf die Stillung des Riesenappetits unserer Großunternehmen - mittels Steuererleichterungen und Subventions- bzw. Vergüngstigungshäppchen aller Art. Inzwischen muss man wohl schon von ‘Konzern-Wohlfahrt’ sprechen - im Gegensatz zu ‘Bürger-Wohlfahrt’. Unternehmen, die nicht einen einzigen müden europäischen Cent an Steuern (im wahrsten Sinne des Wortes:) beisteuern, werden ohne Ende subventioniert, während man von steuerzahlenden Bürgern andererseits verlangt, den Gürtel enger zu schnallen. So funktioniert das Schema des Neoliberalismus, und es wird solange funktionieren, wie die Leute zulassen, dass es funktioniert - solange sie nämlich nicht aus ihrem Selbstbetrug aufwachen und die Realität wahrnehmen, wie sie tatsächlich ist - und sich nicht mehr auf das verlassen, was die Massenmedien und unsere Politiker ihnen in paradoxer Verzerrung vorgaukeln. Ein Bekannter eines Freundes von mir arbeitet für ein großes deutsches Transportunternehmen. Kürzlich erreichte ihn ein bitterböser Brief seines Arbeitgebers: “Wir bitten Sie dringend, zur Einhaltung ihrer vertraglichen Pflichten, auf Ihren Gesundheitszustand zu achten und ihn zu erhalten”, stand da wörtlich. Soll wohl heißen: Wenn du dich nochmal krankmeldest, lieber Mitarbeiter, fliegst du! Der Mann hat über 20 Jahre lang für die Firma geschuftet und dabei seine Gesundheit ruiniert. Würde er den Brief wörtlich nehmen, müsste er auf der Stelle seinen harten, gesundheitsschädlichen Job kündigen. Schizophrener Zynismus. Erinnert irgendwie fatal an das Schicksal von Boxer, dem Pferd in Orwells ‘Animal Farm’ (‘Farm der Tiere’), oder nicht? Erst, wenn die Menschen begreifen, wie sehr sie reingelegt werden, werden sie aufwachen und hoffentlich so richtig wütend. Und dann werden sie sich vereinen, sich organisieren und endlich bereit sein, für echten Sozialismus und echte Demokratie zu kämpfen - für einen echten Staat der Wohlfahrt eben. Quelle: ZNet Deutschland vom 24.11.2002. Orginalartikel: “State of Welfare” Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
|