Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Am Rande der Vernunft

Von Laurie King-Irani

Electronic Intifada / ZNet 16.05.2003

Die Autorin ist eine der 4 GründerInnen von ‘The Electronic Intifada’. Sie lehrt Sozial-Anthropologie in British Columbia (Kanada) und ist Nordamerika-Koordinatorin der ‘International Campaign for Justice for the Victims of Sabra und Schatila’ (www.indictsharon.net).

Am Rande der Vernunft

Worauf es hinausläuft: ein gezackter Zaun, ein gepanzerter Jeep, ein Heckenschützen-Turm, ein einsames, kugelnarbiges Haus, das einer verängstigten Familie kaum Schutz bieten kann. Das Haus steht am Rande von Rafah, am Rande von Palästina, am Rande der menschlichen Moral, am Rande dessen, was zu ertragen ist. Eine Windsbraut peitscht Staub, Sand und Müll durch die kurze, furchendurchzogene Straße bis zur Grenze. Alte Zeitungsfetzen überwinden die Grenze, segeln raus aus dieser Hölle, über den Zaun. Die Menschen hingegen können nirgendwo hin. Aber sie können auch nicht wirklich hierbleiben. Im besetzten, abgeriegelten Rafah verlangt allein schon das Leben den Menschen unglaubliche Stärke und dauernden Mut ab. Will man Gaza entkommen, muss man dem Leben selber entkommen. Die langfristige Militärabriegelung läßt Tod als einzigen Aus-Weg erscheinen.

Am Rande des Gazastreifens ist alles nichtig: Pfeifen und Trommeln politischer Kundgebungen und Jahrestags-Paraden, all die Tinte, die für Geschichtsbücher vergossen wurde, für Polit-Dokumente, für Zusammenfassungen und polemische Traktate; seriöse Newsbytes ebenso wie ‘Sturm und Drang’ sowie der ganze Medienberichterstattungs-Spin - all das ist hier nichtig. Rede oder brülle, schreie oder rationalisiere, halte Predigten oder analysiere, was immer du möchtest, am Ende minimalisiert sich alles auf diesen einzigen Fakt: Ein Ehepaar - Frau und Mann - klammern sich mit ihren 3 kleinen Kindern an die vergebliche Hoffnung eines Heims, eines Stücks Normalität - in einer vollkommen ruinierten Nachbarschaft aus zerstörten Häusern. Diese Familie besitzt keine Waffen, sie besitzt keine Papiere, sie hat weder Geld noch Beziehungen. Sie steht unter Dauerbewachung und Dauerbedrohung durch patrouillierende Panzer, durch Riesenbulldozer, durch herumschwirrende Drohnen und tödliche Helikopter.

Die Rede ist vom israelisch-palästinensischen Konflikt, der ‘Palästina- Frage’, der ‘Nahostkrise’. Soweit haben uns Diplomatie, Care-Pakete, politische Anreize, Prinzipienerklärungen, internationale Konferenzen und Dialoggruppen also gebracht: bis zu diesem gezackten Zaun hier, bis zu diesem zerstörten Haus unter einem staubverdüsterten Himmel. Ja, genau das ist es: eine 24/7 Non-Stop-Freakshow der Menschenrechtsverletzung, der groben Verstöße gegen internationales Recht und gegen die 4. Genfer Konvention. Ein Genozid auf Zahlungsplanbasis. Man braucht keinen College-Abschluss und keine Politexperten oder Zeitungskolumnisten, auch keinen speziellen ethnischen oder religiösen Hintergrund, um zu begreifen, dass das, was hier vor sich geht, absolut und auf obszöne Weise falsch ist. Jeder mit Augen im Kopf kann sehen, jeder mit einem Herzen kann fühlen und jeder bei klarem Verstand kann begreifen, Menschen dürfen nicht so leben, niemals - schon gar keine Kinder.

Das hier ist falsch, es ist Terrorismus, es ist böse.

Wundert es, dass die israelische Regierung bzw. deren Besatzungsarmee keine fremden Zeugen haben will - keine fremden Augen, Herzen, Köpfe - die in Rafah herumstochern, hier, am Rande des Randes, wo die Menschenwürde ein kürzeres Verfallsdatum hat als die letzten Häuser, die noch stehen, mit ihren granatennarbigen Fassaden. Wenn man hier etwas zerbrechen hört, ist es entweder eine Kinderhoffnung oder das Geschirr einer Familie, der Stolz eines Mannes, oder es ist eine Frau, die ihren Verstand verliert, oder es sind die Gesetze der internationalen Gemeinschaft, die zerschellen. Fragt nicht, hört nichts, denkt nicht nach. Es geht euch nichts an. Aber wenn keiner die massiven Rechtsverstöße und kalkulierten täglichen Grausamkeiten hier sieht, sind sie dann wirklich passiert? Wenn niemand diesen Wesen hier, die im toten Winkel der Heckenschützen-Fadenkreuze leben, zugesteht, dass sie Menschen sind, gibt es dann überhaupt soetwas wie Menschenrechte? Wenn niemand das Seufzen der Hinterbliebenen hört, niemand die Schreie derer, die ihren Verstand verlieren durch jene tägliche Vergewaltigung des Denkens, die sich Okkupation schimpft, ist dann tatsächlich etwas verlorengegangen?

Dies hier ist ein rationales Zeitalter, und wir, die wir in den USA leben und fernsehen, sind bekannt als rationale Menschen. Was wir nicht sehen, hören, riechen, schmecken oder tasten, bezweifeln wir folglich, wir würzen es mit Salz, betrachten es skeptisch und filtern es durch unser so charakteristisches alltagskluges Misstrauen. Schließlich sind wir keine Idioten. Wir lassen nicht mit unseren Gefühlen spielen - geben nichts auf gefühlsduselige Jammerberichte aus zweiter Hand über angeblich unterdrückte Menschen, die irgendwo leiden, in einer Stadt, deren Namen wir nicht mal aussprechen können. Wir erlauben uns kein Urteil, bevor wir nicht wissen, was Sache ist. Erst dann entscheiden wir. Vielleicht macht Christiana Amanpour oder Ted Koppel ja mal eine Sondersendung dazu…

Kluge Entscheidung der Israelischen Armee, Auge, Herz und Verstand der Leute aus Rafah fernzuhalten. Laut neuer Anordnung*, müssen alle Besucher eine Verzichtserklärung unterzeichnen, mit der sie der Israelischen Armee einen Vorab-Freibrief für Mord und Körperverletzung ausstellen. Das läßt vermuten, es wird in Zukunft nicht mehr sehr viele Herzen, Augen und Gehirne geben, die in Gaza Einkehr halten. Am liebsten wäre es ihnen, wenn auch die Füße den Weg nicht mehr fänden an diesen Ort - an diesen Abgrund der Unmenschlichkeit und Verzweiflung. Am liebsten wäre es ihnen, das Denken der Welt ginge weiterhin abstrakt mit dem “Konflikt” um, handelte ihn mit abstrakten Vorschlägen, hypothetischen Lösungsansätzen und diplomatischen Szenarios ab. Sollen sie ruhig aus der Ferne ihre ‘Straßenkarten’ (Road Maps) entwerfen - solange sie, verdammt noch mal, der wirklichen, der sandigen Straße meilenweit fernbleiben - die an den gezackten Rand von Rafah führt. Und mögen sie den Weg verfehlen zum gähnend riesigen Grab eines Menschen, zur Wunde eines Menschen oder zu dessen zerstörtem Heim. Mögen sie nie den Weg finden zum zerstörten internationalen Rechtssystem, zur gescheiterten Vision eines Landes, das einst für sich den Anspruch erhob, ein “Licht unter den Nationen” zu sein. Man will, dass die Leute fernbleiben und weiterhin glauben, sie hätten nichts mit dem zu tun, was heute Nacht mit dieser Familie geschieht, mit diesen Eheleuten, die heute Abend die zerschossene Haustür ihres kaputten Heims in Rafah abschließen werden. Dann werden die Eltern wieder in der Dunkelheit kauern und versuchen, ihre drei kleinen Kinder vor den herumschwirrenden Kugeln zu schützen, vor dem hereinbrechenden Artilleriefeuer und den Angriffen der kreisenden Apache-Helikopter. Vater und Mutter werden alles zum Einsatz bringen, was sie haben: ihre müden Körper, in denen Herzen schlagen, die Liebe und Leid empfinden - mehr, als gezackte Zäune und Militärbefehle umzingeln können.

Anmerkung d. Übersetzerin:
*Siehe hierzu auf unserer ZNet-Seite: ‘Israel und das ‘Wir-haben-das-Recht- euch-zu-killen-Visum’ für Gaza’ von Ali Abunimah und Nigel Parry


Quelle: ZNet Deutschland vom 21.05.2003. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: “The Edge Of Reason”

Veröffentlicht am

22. Mai 2003

Artikel ausdrucken