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Deutschland am Scheideweg - zu faul, zu alt, zu krank? Nein, zu geschäftsfreundlich

von Andrea Noll - ZNet Kommentar 06.06.2003

Rom, 503 vor Christus. Die Volksmehrheit der unterprivilegierten Plebejer initiiert einen Generalstreik. Die Männer begeben sich auf den sogenannten ‘heiligen Berg’. Roms Eliten (Patrizier) entsenden ihren Senator Menenius Agrippa, er soll verhandeln. Menenius erzählt den Streikenden eine Geschichte: “Einst erhoben sich die Hände des menschlichen Körpers gegen dessen Bauch”: “Wir leisten die ganze Arbeit, und dieser Faulpelz verzehrt den Profit”. Die Hände beschlossen, in Streik zu treten und den Bauch nicht mehr zu füttern. Folge: der Körper hungerte aus, auch die Hände verhungerten”. Die Plebejer verstanden Menenius Botschaft; sie beendeten den Streik und kehrten nach Rom zurück.

Worin bestand die Botschaft? Es ist dieselbe Botschaft, die uns Deutschen derzeit von morgens bis abends in den Ohren dröhnt - via Fernsehen, Radio, Presse. Sie lautet: Sorgt dafür, dass die Bäuche der großen Bosse prall gefüllt sind, dann blüht auch euer Staatsorganismus. Wir sitzen alle im selben Boot. Gebt Konzern-Europa das größte Stück vom Kuchen, und ihr Plebs werdet immer noch gut fahren mit den Krumen vom Tische des Reichen. Oder wollt ihr arbeitslos werden? Bei fast 5 Millionen Arbeitslosen in Deutschland die Kardinalsdrohung schlechthin. Aber die Metapher vom ausgehungerten Bauch hat einen entscheidenden Haken. Der Bauch unserer Konzerne ist nämlich nicht leer sondern bis hart an die Kotzgrenze gefüllt. Sie wollen ein echtes ‘(gangster’s) paradise’ für Konzerne sehen? Dann willkommen in Deutschland: fette Subventionen für fette Unternehmen - niedrige Steuern bzw. überhaupt keine! Wie sagt DGB-Vizechefin Ursula Engelen-Kefer treffend: “Es ist doch absurd, dass eine Krankenschwester mehr Steuern bezahlt als BMW”. Dazu muss man wissen: BMW ist einer der größten Autokonzerne Deutschlands.

Im sozialdemokratisch-grün-regierten Deutschland sind die Arbeiter und Angestellten die ‘Plebejer’, also die ‘Hände’ - beziehungsweise der Geldbeutel. Diese Gruppe ist es, die unseren Staat im Grunde finanziert - via Lohnsteuer, Mehrwertsteuer, Sozialabgaben. Die Arbeitgeber tragen sukzessive immer weniger bei. Steuern für große Firmen und Gewerbe sowie für Reiche sind bei uns Peanuts - Vermögenssteuer Fehlanzeige. Aber je gigantischer unsere Arbeitslosigkeit desto unfinanzierbarer dieses System der einseitigen Lastenverteilung. Und wieder sollen die deutschen Plebejer die Zeche zahlen.

Deutschland am Scheideweg.

Unser Flächentarifsystem ist umkämpft, Macjobs und Zeitarbeit sind im Kommen, unser Sozialversicherungssystem wird gefährdet. Schröders ‘Agenda 2010’ hat alle Ingredienzien, um Konservative aufjubeln zu lassen. Nichts weniger als die Zerschlagung des Sozialstaats steht auf dem Programm - was einer Katastrophe historischen Ausmaßes gleichkäme. Unsere Sozialversicherung datiert zurück ins Jahr 1883; damals sah sich Reichskanzler Otto von Bismarck zum handeln genötigt, weil die Sozialisten zu aktiv geworden waren. Bittere Ironie, dass ausgerechnet die Sozialdemokraten diese Errungenschaft nun zerschlagen! Schröder bzw. seine Koalition aus Sozialdemokraten und Grünen argumentieren: Der deutschen Wirtschaft geht es schlecht. Falsch. Unser Export floriert, der Euro ist stabil. Schwierigkeiten macht allerdings der Binnenmarkt. Die Preise sind im Verhältnis zu den sinkenden Reallöhnen (plus hoher Mehrwertsteuer!) zu hoch, hinzu kommt die massive Arbeitslosigkeit. Ergebnis: die Kaufkraft ist im Sinkflug. Dies eine klassische Situation für eine Intervention à la Keynes: ‘deficit spending’. Ankurbelung des Marktes mittels staatlicher Investitionsprogramme sowie finanzielle Entlastung für Normalbürger - dann blüht die Marktkonjunktur, und die Arbeitslosenrate sinkt. Aber unsere Regierung zäumt das Pferd vom Schwanz auf. Eine völlig verquere Situation, die an Neuseeland vor 20 Jahren erinnert, als ausgerechnet eine sozialdemokratische Regierung die Hunde des Neoliberalismus auf die Bürger los ließ. Oder denken wir nur an Blairs Großbritannien unter ‘New Labour’ (in mancher Hinsicht hat Blair selbst Frau Thatcher ‘ausgethatchert’).

Deutschland im Jahr 2003 - ein nach wie vor reiches Land, Mitglied der EU und der OECD - dennoch beschleicht einen das Gefühl, man lebe in Asien oder Lateinamerika - in einer Volkswirtschaft in den Klauen des IMF und dessen gefürchteter Strukturanpassungsprogramme: strenge Haushaltskontrolle, drastische Absenkung der Sozialstandards. Die Situation in Westdeutschland ist schlimm - die in Ostdeutschland (ehemalige DDR) dramatisch. Dort hat man mittlerweile eine Arbeitslosenquote von über 20 Prozent. Wenn weiter gekürzt wird, werden die Menschen in dieser Region verzweifeln - oder abwandern. Ein Wirtschaftsanalyst: “Die Hände werden gehen, die Köpfe bleiben”. Da haben wir sie wieder - Senator Menenius Körper-Metapher. Aber: Wenn die Hände aus Ostdeutschland abwandern, wer füttert dann die gierigen Mägen?

Wer füttert den Staat?

Warum das Ganze? Weshalb sollte ein vergleichsweise reiches Land wie Deutschland den Niedergang seiner östlichen Regionen riskieren? Und warum den sozialen Konsensus riskieren, der Deutschland bzw. der Bundesrepublik 50 Jahre lang gute Dienste geleistet hat - oder etwa nicht? Ein Grund ist die Konzernglobalisierung und der wachsende Einfluss der Konzerne auf unsere Politik. Nicht umsonst deckt sich die Regierungspolitik unserer Sozialdemokratie mittlerweile fast Eins zu Eins mit der Arbeitgeber-Agenda des BDI. Eine ebenso große Rolle spielt nach meinem Dafürhalten die Erweiterung der EU - von derzeit 15 auf möglicherweise 25 Mitgliedstaaten. In einer kürzlichen TV-Diskussion rutschte dem BDI-Vertreter folgende entlarvende Bemerkung heraus: “Ja glauben Sie denn, die EU werde die deutschen Sozialstandards bis nach Litauen ausdehnen!” Will er damit etwa andeuten, man solle die Sozialstandards des Baltikum auf uns ‘ausdehnen’? Fest steht, die EU-Erweiterung ist ein perfekter Vorwand, um in den ‘alten’ Mitgliedsstaaten die “antiquierten Sozialstaatszöpfe” abzuschneiden - bei Beitritt post-sozialistischer Länder wie Polen, Tschechien oder eben des Baltikums.

In Ländern wie Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland, Schweden oder Österreich sehen sich Bürger und Gewerkschaften einem Kampf um den Erhalt von Sozialstandards gegenüber, um die sie jahrzehntelang hart ringen mussten. Viele Bürger und Gewerkschaften glauben, diese Standards seien es nicht nur wert, im ‘alten’ Europa verteidigt zu werden, sondern wollen sie auch auf die neuen Mitgliedsstaaten übertragen wissen. Auf diese Weise soll die Europäische Union zu einem Modell wirklicher Demokratie und wirklicher Partizipation weiterentwickelt werden. Eine demokratische EU - wäre eine gute Sache - stattdessen flattert am Horizont die Fahne Konzern-Europas. Die Plebejer des ‘alten’ Europa stehen mit dem Rücken zur Wand. Sie kämpfen, um zu retten, was noch zu retten ist von ihren Sozialstaaten. Nehmen wir nur Österreich. Dieses Land erlebte im Mai seinen ersten Generalstreik seit 50 Jahren, nachdem die dortige Mitte-Rechts-Regierung eine “Reform” der Pensionssysteme plant. Auch in Frankreich Generalstreiks. In Deutschland stehen wir derselben Art von “Reformen” gegenüber. Aber was heißt hier “Reformen”. Man nennt einen Totengräber ja auch nicht ‘Reformator’. Denn, diese Reformen sind das Ende - das Ende von sozialer Sicherheit, das Ende der sozialdemokratischen Idee, das Ende Ostdeutschlands, das Ende der Hoffnungen der Menschen in diesem Land.

Und was ist mit dem ‘neuen’ Europa? Nehmen wir als Beispiel Polen*. Das nicht-mehr-sozialistische Land Polen steckt in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten; die Arbeitslosigkeit ist hoch, viele Menschen leben und überleben auf ihrer kleinen Scholle (60 Prozent der Fläche Polens ist agrikulturell genutzt). Natürlich würde die EU die polnische Landwirtschaft sofort grundlegend und marktwirtschaftlich restrukturieren. Ich schaudere, wenn ich an die Folgen für die kleinen Subsistenzbauern denke. Hinzu kommt: der Kurs des polnischen Zloty ist niedrig (4,25 Zloty = 1 Euro). Dieses Währungsgefälle hilft den Menschen wirtschaftlich zu überleben. Der Grenzhandel floriert. Was aber, wenn Polen eines Tages in die Eurozone eintritt? Fast alle ‘neuen’ EU-Mitglieder sind ärmere Länder - Länder, deren Situation noch viel, viel schlimmer kommen könnte.

Kehren wir zur deutschen Tristesse zurück. Unsere Regierung argumentiert folgendermaßen: Erstens, unsere hohen Leistungsstandards in der Sozialversicherung verteuern deutsche Arbeit. Entlastete/niedrigere Löhne würden dafür sorgen, dass das Land aufblüht und die Arbeitslosigkeit sinkt. Nach dieser Logik müssten Mexiko und Afghanistan die reichsten Länder der Welt sein, weil dort die Löhne am schlanksten sind. Zweites Argument pro Absenkung deutscher Sozialstandards: Wir Deutschen seien zu faul, zu alt, zu krank und das Sozialversicherungssystem überfordert. Richtig, das System ist überfordert - der Grund liegt allerdings woanders. Zuwenige Menschen müssen zuviel einzahlen (die einfachen Leute nämlich, die Beschäftigten). Nicht die Ausgabenseite ist das Problem unserer Sozialversicherungssysteme vielmehr der fehlende bzw. einseitige Influx. Das System müsste auf breitere Basis gestellt werden. Drittes Argument: Durch Kürzung von Sozialleistungen sei das Staatsdefizit zu beheben, und wir erfüllten endlich die Maastricht-Kriterien. Aber auf was läuft Sozialkürzung bei uns regelmäßig hinaus? Den armen Plebejern kürzt man ihre Leistungen und verschiebt das Geld stattdessen in die ‘Bäuche’ - will heißen, auf die Konten unserer modernen, steuerbefreiten Patrizier: ‘Konzern-Wohlfahrt’ wird unser Staatsdefizitproblem aber wohl kaum lösen. Nächstes Argument: Wenn unsere Unternehmer eines Tages wirklich total satt und zufrieden sind, werden sie uns zum Dank viele (und bessere) Arbeitsplätzchen backen. Falsch - neue Arbeitsplätze, zumindest anständig bezahlte Vollzeitstellen, stehen nicht auf der Agenda der Arbeitgeber. Diese Leute lieben unsere Arbeitslosensituation im Grunde. Sie macht es ihnen möglich, mehr und mehr Plebejer in Macjobs zu drängen, die Löhne zu senken und das Flächentarifsystem anzugreifen - und damit die Gewerkschaften. Denn: sind Flächentarifvertrag und Kündigungsschutz erst abgeschafft (natürlich nur im Interesse neuer Arbeitsplätze!), ist den deutschen Gewerkschaften das Rückgrat gebrochen. Das ist auch der Grund, weshalb die deutschen Gewerkschaften (ansonsten eher fußlahm) derzeit so massiv kämpfen und sich mit der Sozialdemokratie, ihrem traditionellen Verbündeten, anlegen. Die Situation erinnert an die 80ger Jahre, als Großbritanniens Margaret Thatcher die britischen Gewerkschaften zermalmte. Die deutschen Gewerkschaften kämpfen noch. Aber ihre Organisierung auf europäischer Ebene lässt zu wünschen übrig. Ob sie den Kampf auf nationaler Ebene gewinnen können - unwahrscheinlich. Die deutsche Linke, die PDS beispielsweise, kämpft mit Herzblut gegen Schröders ‘Agenda 2010’ an. Die PDS ist relativ stark auf kommunaler und regionaler Ebene (im Osten). Auf nationaler Ebene allerdings steckt die Partei in der Krise; sie ringt mit den Folgen ihres katastrophalen Abschneidens bei der Bundestagswahl 2002.

Auch innerhalb der eigenen Parteien treffen Schröder und Fischer auf teilweise unerwartet starken Widerstand. Ein profilierter Kritiker innerhalb der SPD ist Oskar Lafontaine - von Tony Blair einst als ” gefährlichster Mann Europas” bezeichnet. 1999, auf dem Höhepunkt seiner politischen Karriere (SPD-Vorsitzender sowie Finanzminister in Schröders Kabinett), traf Lafontaine eine Gewissensentscheidung und trat von allen Ämtern zurück. Auslöser war Gerhard Schröders anti-sozialdemokratische Steuerpolitik. Lafontaine ist ein brillanter Analytiker im Sinne der Keynes’schen Wirtschaftslehre und ein eloquenter Redner. Derzeit besitzt Lafontaine (dessen politische Karriere auf Eis liegt) etwas, was Schröder fehlt: viel Zeit. Lafontaine nutzt sie, um Bücher zu schreiben wie ‘Das Herz schlägt links’ (eine Körper-Metapher, die unbestreitbar ist!). Er tritt in den Medien auf und erläutert dort keynesianische Wirtschaftsalternativen. Die deutschen Medien des Mainstream - ganz auf Schröders Linie - machen sich über die Verteidiger des Sozialstaats lustig, nennen sie Traditionalisten, Träumer, Leute, die das Rad der Zeit zurückdrehen wollen. Falsch, sagt Lafontaine, Schröder ist derjenige, der das Rad zurückdreht - bis ins Jahr 1850, in die Zeit der Industriellen Revolution, als es unsere Sozialversicherungssysteme noch nicht gab. Die Medien bezeichnen den Sozialstaat als “alten Hut”. Gut möglich, aber spätestens an einem Regentag weiß man einen alten Hut zu schätzen.

Warum ist Menenius Agrippas Staatskörper-Metapher so grundfalsch? Jeden Organismus zeichnet aus, dass seine Einzelorgane eng miteinander verbunden sind. Sie funktionieren in enger Abstimmung, im Verbund miteinander. Der Mensch lebt nur, weil seine Organe harmonisch und kooperativ agieren; kein Organ lebt auf Kosten des andern, kein Körperteil versucht, über das andere zu herrschen: ein gutes Beispiel für eine funktionierende partizipative Demokratie, oder nicht? Unsere Eliten (und sicher auch die im alten Rom) ähneln eher Parasiten - Parasiten am Körper des Staats und seiner Wirtschaft. Je fetter die ‘Mitesser’ desto ausgemergelter der Staatsorganismus. Und einen Parasiten stört auch nicht, wenn sein Wirt abstirbt. Ein Floh beispielsweise springt flugs auf den nächsten Wirtsorganismus über. So etwas nennt man Konzern-Globalisierung.

Deutschland hat etwas zu verlieren. Deutschland steht am Scheideweg.

*Am 7./8. Juni wird in Polen über den EU-Beitritt abgestimmt.

Quelle: ZNet Deutschland vom 09.06.2003. Orginalartikel: “Germany At The Crossroads: Too lazy, too old, too sick? No, too business-friendly.”

Veröffentlicht am

11. Juni 2003

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