Interview: Von der Verzweiflung zur Revolution
Chris Spannos interviewt Michael Albert - ZNet 19.06.2003
Spannos:
Das neue 21. Jahrhundert ist geprägt durch die totale Kapitalismus-Globalisierung, es ist geprägt durch die Terroranschläge des 11. September - und anschließend wurde Afghanistan bombardiert -, es ist geprägt durch die koloniale Besatzung des Irak und den Umstand, dass der 11. Sept. kontinuierlich zur Stärkung der Eliten-Positionen missbraucht wird. Welche Bedeutung kommt demgegenüber einem revolutionären Konzept im neuen Jahrhundert zu?
Albert:
Ich halte Ihre Liste für zu einseitig - wenn schon, muss man auch jenen größten koordinierten internationalen Protest in unserer Geschichte erwähnen oder die Entstehung des Weltsozialforums und die damit verbundenen regionalen und lokalen Foren überall auf der Welt. Oder denken wir nur an die zahlreichen Graswurzel-Netzwerke weltweit oder die neuen Organisierungs-Initiativen in vielen Ländern rund um den Erdball. Anders gesagt: dass Bush in Amerika im Sattel sitzt, macht diese Zeit sicher zu einer der übelsten, aber gleichzeitig sind die Volksbewegungen global sehr stark im Kommen oder erneuern sich - und das wiederum macht es zu einer der besten Zeiten. Die Relevanz des Revolutionären ist ja ganz offensichtlich. Das Wort ‘Revolution’ bedeutet fundamentaler Wandel bezüglich definierender Institutionen. Wir brauchen diesen Wandel, denn unsere derzeit definierenden Institutionen erzwingen Hierarchie bezüglich Macht, Geld und Status. Man enthält den Menschen das tolle erfüllte und fruchtbare Leben vor, das sie eigentlich führen könnten, während einige Wenige herrschen und reich werden - diese Leute besitzen mehr bzw. maßen sich mehr an, als irgendein Mensch je beanspruchen sollte. ‘Revolution’ ist nach wie vor relevant, denn anstelle unserer jetzigen hierarchisch geprägten Institutionen - Gesetzgebung, Judikative, Wirtschaft, Familie, Sozialisation, Bildung - bzw. Institutionen hinsichtlich Sexualität, Religion, Rasse, ethnischer Zugehörigkeit, usw., braucht es neuer sozial verankerter Wege, wie wir den Bedürfnissen der Menschen und auch ihren Potentialen gerechtwerden. Wir müssen Werte fördern wie Gerechtigkeit, Diversität, Solidarität, Gleichheit vor dem Gesetz, Nachhaltigkeit und Selbstverwaltung.
Spannos:
Als ob die US-amerikanischen Interventionen der letzten Jahrhunderte nicht schon übel genug gewesen wären, erleben wir jetzt noch größere Hemmnisse, die zu einem noch massiveren Gefühl der Hilflosigkeit führen. Warum den Kampf nicht einfach aufgeben, warum kann das nicht die Option sein?
Albert:
Natürlich war die US-Intervention im Irak ein Niedermachen wehrloser Leute - einfach grotesk. Dennoch dürfen wir nicht vergessen, die USA sahen sich diesmal gezwungen, die Zahl ziviler Opfer so gering wie möglich zu halten. Dies nicht etwa, weil die imperialen Führer unseres Jahrhunderts ein größeres Herz und eine reinere Seele hätten als die des letzten. Nein, vielmehr fürchteten sie die Reaktion unserer Sozialbewegungen, falls sie noch mehr Blut vergießen. Ehrlich gesagt, sehe ich heute keine größeren Hemmnisse als in vergangenen Zeiten. Die Institutionen sind so ziemlich dieselben, allerdings: das Volk hat viel mehr Bewusstsein - hierzuland und weltweit. Die Agenda unserer Bewegungen, so meine Einschätzung, dreht sich nicht mehr nur um periphere Symptome, es geht vielmehr um das System als Ganzes. Und beim Instruieren der Leute, wenn man versucht, Bewusstsein zu wecken, ist es immer weniger das Problem, ihnen klarzumachen, dass Unrecht existiert. Immer stärker geht es darum, zu verdeutlichen, dass es eine neue Vision gibt, die man mit uns teilen kann. Für uns verändert das natürlich die Aufgabenstellung - wirklich eine totale Verbesserung. Ich denke, es gibt viele Gründe, weshalb den Kampf an den Nagel hängen, nicht die Option ist. Auf ein paar davon kann ich hier eingehen. Jeder oder jede, der/die resigniert, reduziert die Wahrscheinlichkeit ein klein wenig, dass wir unser Ziel - eine bessere Welt zu schaffen - erreichen. Oder war es früher etwa eine Option, den Kampf gegen Sklaverei aufzugeben? Den Kampf für das Frauenwahlrecht? Den Kampf für Gewerkschaften, für den 8-Stundentag, gegen Kolonialismus und den Jim-Crow-Rassismus? Hätte man den Kampf gegen Apartheid in Südafrika etwa aufgeben sollen? Warum sollte es also heute eine Option sein, den Kampf aufzugeben, wenn es um Verstöße gegen Menschenwürde, gegen Freiheit und Empowerment geht? Man muss aus seinen Möglichkeiten das Beste machen - schon dieser sehr menschliche Grund beinhaltet eine riesen Verpflichtung gegen Resignation. Aber es gibt noch einen triftigeren Grund, sich der Resignation zu widersetzen. Es geht nicht nur darum, dass es sich aufseiten der Engel besser kämpft als auf der des Teufels. Nein, wir können und werden gewinnen. Die Frage ist allenfalls wann. Was ich damit sagen will, es ist nicht nur richtig, Widerstand zu leisten, es ist auch klug und produktiv. Man leistet damit einen wesentlichen Beitrag zum Siegen - sowohl kurz- als auch langfristig. Aktivist sein bedeutet keineswegs einen Stein bergauf rollen, wir heben keine sinnlosen Gräben aus, pfeifen nicht gegen den Wind, widersetzen uns nicht der Schwerkraft. Aktivist sein bedeutet vielmehr, Teil der mit Abstand wichtigsten, mutigsten und produktivsten Sache in der Menschheitsgeschichte zu sein. Diese Sache hat tiefe Wurzeln und ihre Zukunft heißt Sieg. Defaitisten, die glauben, aufgeben sei ein Weg - wollen die damit etwa sagen, die Gegner der Sklaverei hatten unrecht? Haben die Arbeiter unrecht, die tagtäglich für bessere Löhne und (Arbeits-)Bedingungen kämpfen, sind sie alle schief gewickelt? Waren es die, die darauf beharrten, Schwarze, Frauen und Latinos seien auch Menschen - hatten die alle unrecht? Ist es falsch, für Befreiung zu kämpfen - war es das früher, wird es das künftig sein? Wollen die Defaitisten uns wirklich weismachen, Lohnsklaverei müsse endgültig hingenommen werden? Wollen sie uns weismachen, es verstoße gegen Natur und gesunden Menschenverstand, wenn Menschen Kontrolle über ihr eigenes Lebens erlangen wollen - anstatt wie die meisten heutzutage dem dominanten Willen einiger Weniger ausgeliefert zu sein? Wollen sie uns wirklich einreden, die Menschen seien unfähig, Systeme zu entwickeln und umzusetzen, in denen weder Armut noch Hunger noch Tod durch vermeidbare Krankheiten noch Verstöße gegen Menschenwürde und Respekt vorkommen? Woher dieser Pessimismus? Es gab Zeiten, da peitschten Pharaonen ihre Sklaven dazu, für sie Grabmäler zu errichten, Kaiser zwangen ihre Bauern gegen Löwen zu kämpfen - nur so, um ihren kaiserlichen Spaß zu haben -, Sklavenbesitzer lynchten ihre Pflanzarbeiter, um die andern gefügiger zu machen - war es damals etwa eine Option, den Widerstand aufzugeben? Was sollte sich daran heute geändert haben? Oder hat einer irgendwo eine Kristallkugel gefunden, die verkündet, egal, wie hart die Menschheit kämpft, es wird nie eine bessere Zukunft geben?
Spannos:
Wir kämpfen für globale Gerechtigkeit - für Veränderung im Kleinen wie im Großen. Was ist der Unterschied zwischen revolutionärem Wandel und einem, der ein existentes System lediglich verändern will?
Albert:
Jedesmal, wenn wir eine Änderung der bestehenden Bedingungen erreichen - etwa höhere Löhne, Förderprogramme, Gesetze gegen Gewalt gegen Frauen bzw. Homosexuelle, bessere Arbeitsbedingungen, neue Sozialwohnungs- oder Bildungsprogramme, das Ende eines Kriegs oder dessen Verhinderung, vielleicht sogar das Ende des IWF (Internationaler Währungsfonds) bzw. dessen Substituierung - dann bewirken wir damit einen äußerst wichtigen Wandel, durch den sich das Leben der Leute verbessern wird, was wir allerdings nicht bewirken, ist ein Wandel der zugrundeliegenden definierenden Beziehungen. Wir kümmern uns um ein Übel, lassen in dem Fall die Wurzel aber ungeschoren. Diese Wurzel wird emsig bemüht sein, unsere Korrekturen rückgängig zu machen und entgegen unserer Bemühungen versuchen, den alten Zustand wiederherzustellen. Es geht nicht darum, die wichtigen Dinge, die erreicht wurden - nennen wir sie ‘Reformen’ - kleinzureden. Indem wir sie verachten, verweigern wir uns dem, was die Leute heutzutage nötig haben, wir verweigern uns den Möglichkeiten und Mitteln für eine grundlegend bessere Zukunft. Um was es vielmehr geht, ist, die Dinge möglichst nicht über den Reform-Weg zu erreichen. Die Begriffe und Bilder, die wir wählen, die Art, wie wir unsere Bewegung organisieren und unsere programmatischen Zielsetzungen wählen, das alles muss sich am Ziel orientieren, uns stärker und immer stärker zu machen. Unser Hunger nach Veränderung muss mit jedem kurzfristigen Ziel, das wir erreichen, größer werden. Das ist die Idee: Wir kämpfen zielorientiert für höhere Löhne, für neue Bildungsprogramme oder andere wichtige moderne Zielsetzungen - auf eine Weise, die bewusstseinsfördernd wirkt, die Wünsche und Erwartungen weckt, um neue Organisationen zu gründen. Die (erreichten) Innovationen werden dafür sorgen, dass wir, nachdem ein Sieg errungen ist, nicht einfach wieder nach Hause gehen, sondern versuchen, weitere Siege zu erringen - wozu wir dann auch eine bessere Ausgangsposition haben. Es ist ein wenig, wie wenn man immer eine Stufe höher klettern will, sich besseres Terrain sichern für die nächste Runde im Kampf. Es ist ein Kampf um die Trajektorie des Wandels. Sie führt uns zu den grundlegenden Zielen, die wir verfolgen und verschmelzt mit ihnen.
Spannos:
Die Imperien von heute verfügen über eine niedagewesene militärische und politische Macht. Sie halten ganz klar das Machtmonopol. Was hat eine Bewegung des revolutionären Wandels diesem offensichtlich hoffnungslosen Ungleichgewicht entgegenzusetzen?
Albert:
Ja, sie besitzen tatsächlich ein Machtmonopol auf Gewalt - so ziemlich, jedenfalls. Aber ein wirkliches Machtmonopol ist etwas ganz anderes. Kurz nach den weltweiten Demonstrationen am 15. Februar stand in der New York Times, es existierten zwei Supermächte - die US-Regierung und das US- Militär einerseits, und auf der anderen Seite stünde die weltweite öffentliche Meinung. Die Times sagt also explizit, dass diese öffentliche Meinung schon jetzt substanzieller ist als alle Armeen und Regierungen der Welt, ausgenommen die der USA. So sollten wir das auch sehen. Bewegungen, die für grundlegende Veränderung eintreten, verfügten von jeher nicht über die militärischen und massenkommunikativen Möglichkeiten ihrer Gegner. Das ist bei uns heute nicht anders. In den USA hatten die Gegner der Sklaverei, die Suffragetten, die Bewegung für die 40-Stunden-Woche und viele andere praktisch null Militärmacht. Ihre Macht lag vielmehr im wachsenden Zulauf, im wachsendem Verständnis, das man ihnen entgegenbrachte, in ihrer wachsenden Organisierung. Wir können die militärische Macht herausfordern, indem wir Situationen schaffen, in denen ihnen Gewaltanwendung mehr schadet denn nutzt. Warum haben die Regierungen weltweit am 15. Februar nicht einfach auf die Demonstranten feuern lassen? Weil dieses ‘Feuer frei!’ mehr Widerstand erzeugt hätte, als unterdrückt. Der massiven Feuerkraft des Staats und anderer konzentrierter Zentren des Einflusses müssen wir eine wachsende Zahl Dissidenten entgegensetzen - Dissidenten, deren Engagement und Bewusstsein immer größer wird.
Spannos:
Die neuen Bewegungen wie Friedensbewegung und die Bewegungen gegen Konzernglobalisierung - soetwas war noch nie da in der Geschichte. Dennoch sind sie rein zahlenmäßig nicht zu vergleichen mit der riesen Zahl derer, die zu keiner Demo gehen, die ganz in ihrem hektischen Alltag aufgehen. Wie können wir diese Leute erreichen? Wie können wir “den Zeiger antippen”, sodass das Zahlenverhältnis sich verkehrt?
Albert:
Die Frage ist doch: Warum geht eine bestimmte Person nicht zur Demo? Dafür kann es viele verschiedene Gründe geben. Erster Grund - eine Person weiß nichts von den Ungerechtigkeiten oder deren Ursachen und unternimmt daher auch nichts dagegen. Um dieser illusionistischen Einstellung entgegenzuwirken, müssen wir Informationsmaterial stellen. Wir müssen Kampagnen starten und die Mainstream-Medien zwingen, die Ungerechtigkeiten unserer Zeit substantieller und wahrheitsgemäßer bloßzulegen. Wir sollten uns auf die altbewährte Art - erst einer, dann zwei - organisieren aber daneben eben auch unsere Kommunikationsmittel weiterentwickeln, die es uns erlauben, eine Menge Leute auf einmal zu informieren. Dann sind da noch die Leute, die sehr wohl begreifen, wie massiv die Ungerechtigkeiten heutzutage sind, sich sogar mit deren sozialen Ursachen auskennen, vielleicht sogar selber darunter leiden; trotzdem machen sie um Demonstrationen und andere Widerstandsformen einen weiten Bogen. Ein Grund dafür könnte zum Beispiel sein, jemand glaubt, es existiere keine positive Alternative zu den bestehenden Institutionen - es gäbe keine Institutionen, die zu einer besseren Welt ohne Härte und Leid beitragen könnten. Vielleicht glaubt man, diese besseren Institutionen seien zwar rein technisch möglich, aber eben nicht realistisch. Die Verteidiger der Hierarchien seien einfach zu mächtig und stark. Diese Zweifel können wir nur ausräumen, indem wir eine klare Vision über taugliche und funktionierende Institutionen - im Sinne einer besseren Welt - verbreiten. Wir müssen zudem Szenarien für einen Aktivismus anbieten, der zu dieser besseren Welt beitragen kann. Es genügt nicht, über das zu jammern, was schiefläuft, wir brauchen eine Vorstellung davon, wie’s richtiglaufen könnte. Die Einstellung, es gibt sowieso keine Alternative oder man kann zum Beispiel nichts gegen den Bürgermeister unternehmen, ist Grundlage der Hoffnungslosigkeit, sie ist der Hemmschuh des Aktivismus. Wenn man andererseits sieht, wie wenig die Bewegungen auf inspirierende, verbindende Visionen und Strategien bzw. auf deren Entwicklung geben, überrascht einen nichts mehr. Aber dieses Defizit hat einen großen Vorteil: man kann es beheben. Wenn wir dieses Manko beheben, wird die Wirkung meiner Ansicht nach enorm sein.
Spannos:
Viele Leute würden sicherlich ‘ja’ sagen zu einem Leben ohne Rassismus, Patriarchat, Klassenunterschiede, wildgewordene Hierarchien und Umweltzerstörung. Aber da scheint eine große Lücke zu klaffen: Wenn es darum geht, wogegen wir sind, herrscht Konsens, nicht aber bei der Frage, wofür wir eigentlich sind, wie wir uns das alles vorstellen. Was ist der Unterschied zwischen beidem? Und was bringt es, sich ein “Leben nach der Revolution” vorzustellen?
Albert:
Warum sollten wir eigentlich nicht eine tolle Vision entwerfen, sie diskutieren, debattieren, dann zum Gemeingut machen und anschließend ebenso breitangelegte Strategie-Pläne entwerfen, wie wir diese Vision verwirklichen wollen? Ist doch klar, dass es keinen Sinn macht, dauernd zu reden, man werde zu einer Revolution aufbrechen, aber immer hält einen irgendetwas auf, und man weicht der Frage aus, wo die Reise eigentlich hingehen soll bzw. mit welchem Transportmittel man zu reisen wünscht. Denkbar wäre, die Leute haben einfach Angst, eine Vision, die man angeboten bekommt, könnte etwas Autoritäres an sich haben. Wenn eine Vision angeboten wird, so glaubt man, heißt das: hier, das ist das Ziel - folgt ihm! Und ein strategisches Szenario anbieten sei gleichbedeutend mit: hier, das ist der Weg - Abmarsch! Weshalb die Leute so denken, kann ich nicht sicher sagen. Warum bedeutet eine Vision oder eine Strategie nicht einfach nur, hier ist mein Zielvorschlag, mein methodischer Ansatz - kritisiert ihn, debattiert ihn, verbessert ihn, wenn nötig, ersetzt ihn durch einen andern, aber auf irgendetwas sollten wir uns einigen, etwas, das uns verbindet, das wir gemeinsam angehen können - das sich aber weiter verbessern läßt, wenn wir auf dem Weg sind? Stattdessen sagen die Leute: unsere Ziele müssen sich aus der Praxis ergeben. Ja sicher müssen sie das. Jeder auch nur einigermaßen brauchbare Vorschlag stützt sich - egal, ob es sich um Ökonomie, Regierungsform, innerfamiliäre Beziehungen, Kultur, usw. handelt -, auf die praktischen Erfahrungen vieler Jahrhunderte und wahrscheinlich auf viel persönliches Engagement. Wird die Situation in 10, 20 oder 100 Jahren etwa eine komplett andere sein? Wenn man davon ausgeht, dass man irgendwann zu einem Handlungsversuch bereit ist, warum dann nicht gleich jetzt? Es ist auch nicht so, dass neue Ideen möglichst in einer Million Köpfe auf einmal sprießen müssen - dass eine Million Leute sie global und unisono zu Papier bringen -, als Urschrei sozusagen. Das ist Blödsinn. Eine potentiell künftige Vision wird natürlich erstmal von einem einzigen Menschen ausgesprochen oder von einigen wenigen. Der Schlüssel ist: Ideen, die auftauchen, hervorquellen, müssen von einem Menschen klar und schlüssig zum Ausdruck gebracht werden, dann muss man sie aufnehmen und bewerten, dann debattieren undsoweiter und zwar in Zirkeln, die sich immer mehr erweitern. Es geht also keineswegs um Belehrung oder Proklamation von oben herab, vielmehr, man eignet sich an - diejenigen, eignen sich an, die sich die Zeit nehmen, diese Ideen nachzuvollziehen, die daran feilen und sie verbessern. Ich denke, gerade die Angst vor dem Autoritären in Bezug auf Vision sollte uns Ansporn sein - und nicht etwa Hindernis - Visionen öffentlich zu formulieren.
Eine andere Möglichkeit (warum Menschen nicht demonstrieren) - das hat wieder mit dem zu tun, was Sie mich vorhin gefragt haben: kann sein, den Leuten mangelt es an Hoffnung. Wenn Leute bis zu einem gewissen Grad Angst haben, es könnte vielleicht gar keine bessere Welt geben, wen wundert’s da, dass sie das Thema verdrängen, weil das für sie eine horrende Tatsache wäre. Aber auch das ist natürlich als Haltung falsch - jedenfalls führt es zu keinem positiven Ergebnis, denke ich. Natürlich gibt es noch andere Gründe. Aber ganz entscheidend ist, sich klarzumachen, dass die Dinge sich endlich ändern - auch die Aktivisten scheinen in dieser Sache einen Schritt weiter zu sein. Immer und immer wieder vertreten wir den Slogan: ‘Eine andere Welt ist möglich’ - bis wir die Frage nach mehr Substanz stellen. Dann fragen wir uns und beschäftigen uns damit, wie könnte das wohl aussehen - welche speziellen Institutionen wären nötig? Ich denke, diese Umorientierung hat bereits begonnen - und sie wird massivst Wirkung zeigen.
Spannos:
Unter sozialer Veränderung versteht jeder etwas anderes: Frauen, Männer, Kinder, Arbeitende, Leute mit unterschiedlicher sexueller Orientierung, aus verschiedenen Ethnien, Kulturen, Religionen, usw.. Wie kann es bei so vielen unterschiedlichen Interessensgruppen zu einer Revolution kommen?
Albert:
Um zu leben, müssen Menschen bestimmte Funktionen erfüllen. Wir pflanzen uns fort, wir sozialisieren uns, ernähren uns. Wir produzieren, vertreiben, konsumieren. Wir feiern, identifizieren uns, definieren. Wir machen Gesetze, haben eine Justiz, gemeinsame Programme. Um diese und weitere Funktionen zu erfüllen, kommen wir zusammen, wir handeln im Kollektiv. Wir schaffen dauerhafte Strukturen, die für uns unterschiedliche Rollen bereithalten; wir füllen sie aus, sie bestimmen uns andererseits. Das führt dazu, dass wir unterschiedlich über das Leben denken, über unsere persönliche Situation. Falls die Gruppen, denen wir als Teil angehören, hierarchisch gegliedert sind, stehen unsere Interessen und Lebenssituationen im Gegensatz zueinander. Das wiederum führt zu Bewegungen und Kämpfen. Es kommt stets darauf an, wer wir sind. Die Vision einer einzigen gleichgesinnten Bewegung steht also in gewissem Gegensatz zur menschlichen Diversität. Aber weshalb sollten wir nicht solidarisch leben können, nur weil wir divers und autonom sind? Unterschiedliche Interessensgruppen sollten durchaus die Speerspitze einer Agenda bilden, die ihr Kernanliegen vertritt - Geschlechterbeziehung, Rasse, Klassenanliegen oder anderes - aber warum können sie nicht gleichzeitig erkennen, dass sie auch von anderen Bewegungen mit anderen Prioritäten Unterstützung erwarten können bzw. sie diesen in einem wechselseitigen Prozess anbieten - dass dies ein übergeordnetes Bedürfnis ist? Meiner Meinung nach ist soetwas durchaus leistbar, es sollte das zweite Grundmuster unseres heutigen Aktivismus sein (neben ‘Vision’ - die sollten wir zunehmend in den Mittelpunkt stellen). Ich denke, das könnte massive Auswirkungen auf die Effektivität unserer Bewegungen haben.
Spannos:
Trotz dieser Sehnsucht nach einem radikalem Wandel gab es die ganzen letzten Jahrhunderte (nur) gescheiterte und vereitelte Revolutionen. Im Gegensatz zu den historischen Versuchen: Was macht eine künftige erfolgreiche Revolution aus?
Albert:
Ich denke, Sie sprechen hier vor allem den Marxismus-Leninismus an. Diese Anstrengungen schlugen nicht etwa fehl, weil es an Unterstützung vonseiten der Volksmassen mangelte. Was die Massenbewegungen, die dahinter standen, jedoch nicht wollten, war eine neue Machtkonzentration - ebenso übel wie die alte, in mancher Hinsicht vielleicht noch übler. Was die Massen wollten, war Befreiung. Was sie bekamen, waren Gulags. Was also ist schiefgelaufen? Meiner Meinung nach entscheidend: Es genügt nicht, rhetorisch nach Befreiung zu rufen - selbst wenn das Herz leidenschaftlich bei der Sache ist. Du willst Befreiung, aber deine Bewegung greift zu Mitteln bzw. schafft spezifische Institutionen, die exakt der konträren Logik entsprechen - was beispielsweise Macht und Selbstverherrlichung betrifft. Dann kannst du lange das hohe Lied der Befreiung singen, aber die Strukturen, an deren Schaffung du mitbeteiligt bist, entziehen dieser Befreiung mehr und mehr die Basis. Die Bolschewistische Revolution aber auch andere schufen die Institutionen, die sie wollten, aber diese Institutionen standen in Gegensatz zu dem, was rhetorisch angestrebt wurde. Was wir verändern müssen bei neuen Runden unseres Kampfes, wir müssen besser begreifen, wie wichtig es ist, dass unsere institutionellen Mittel und Ziele in Einklang stehen mit unseren höchsten Ansprüchen. Und diese Ansprüche müssen wir weiter zum Ausdruck bringen, mit noch mehr Leuten teilen. Was darunter zu verstehen ist, werden unterschiedliche Leute im Detail sicherlich unterschiedlich bewerten. Die Geschichte wird diese Unterschiede jedoch nivellieren. Ich persönlich bin der Meinung, es ist vor allem wichtig, partizipative und selbstverwaltete Strukturen zu schaffen. Unsere Mittel hierzu - wenn wir uns organisieren, unsere Muskeln spielen lassen -, müssen schon jetzt mit unseren Zielen vereinbar sein, diese Werte verkörpern. Ich bin Anhänger der sogenannten Partizipativen Ökonomie und der damit verbundenen politischen Vision (auch für andere Bereiche des Lebens) die sich langsam herauszukristallisieren beginnt. Daher bin ich zusätzlich auch für organisierte Räte und Versammlungen - also für Entscheidungsfindungsprozesse, bei denen (neben anderen Kriterien) vor allem eine Rolle spielt, wie sehr jemand von einer Entscheidung betroffen ist; im proportionalen Verhältnis hierzu wird dieser Akteur, diese Akteurin dann ein Mitspracherecht erhalten. Ich denke, das alles unterscheidet unsere Anstrengungen sehr wohl von vielen andern in der Vergangenheit.
Spannos:
Die 60ger und die Bewegung der Neuen Linken haben sich natürlich unschätzbare Verdienste im Hinblick auf den sozialen Wandel erworben. Welche Fortschritte haben wir gemacht? Was sind unsere Defizite?
Albert:
Um Himmelswillen - was für gewaltige Fragen! Ich dachte, jetzt zum Schluss kommt es noch etwas mundgerechter. Ich denke, es gibt Verschiedenes, was an Fortschrittlichem geleistet wurde, und das ist ja auch überall sichtbar. In den Bereichen Geschlechterbeziehung, Rassenbeziehung, Autorität, ja selbst im Bereich Ökonomie, sind Erfolge zu verzeichnen. Was schiefläuft, ist meiner Ansicht nach am massivsten die Sache mit Strategie und Vision - siehe oben - und etwas, was ich mit zuwenig ‘Klebrigkeit’ bezeichnen möchte. Was ich damit sagen will, wir leisten zuwenig im Bereich Bewegungs-Aufbau. Bewegungen sollten die Menschen mehr und mehr in ihren Bann ziehen. Stattdessen haben die Leute eher die Tendenz, nach einer Weile wieder auszusteigen. Dass die Leute ‘kleben’ bleiben, erfordert von uns meiner Ansicht nach, dass wir Bewegungen schaffen, die den unterschiedlichen Interessengruppen Rechnung tragen und den Leuten mehr als bisher den Rücken stärken, ihnen das Leben in praktischer Hinsicht erleichtern. Unsere Bewegungen machen den Leuten das Leben ja manchmal noch schwerer als die Gesellschaft.
Spannos:
Was wir wollen: am Menschen orientierte Werte und menschliche Institutionen. Was wir brauchen: revolutionären sozialen Wandel. Wie können die derzeitigen verschiedenen Bewegungen uns von hier nach dort bringen - jetzt, noch in diesem Jahrhundert?
Albert:
Was heißt, noch in diesem Jahrhundert? Ich weiß nicht, ich kann nur für mich sprechen, aber ich möchte viel früher zu grundlegend neuen Institutionen kommen. Aber das ist schon wieder so eine große Frage. Die Antwort lautet, so denke ich, grob gesprochen: Unsere Bewegungen müssen Visionen entwickeln - Visionen, bezüglich dessen, was wir wollen. Auf diese Weise können wir Unterstützung inspirieren, Unterstützung motivieren. Und unsere Bewegungen müssen ein breites Szenario für unseren Kampf entwickeln: Welche Ziele wollen wir erreichen. Die Leute müssen sehen, ihre Anstrengungen machen sich wirklich bezahlt, führen zu Veränderung. Unsere Bewegungen werden sich mit unterschiedlichen Interessensgruppen polen müssen. Gleichzeitig müssen wir uns über die Werte klarwerden, die wir vertreten wollen. Wir müssen mehr über sie wissen, um mehr über unsere Ziele zu wissen und um schon jetzt etwas für uns erreichen zu können. Zudem ist wichtig, dass unsere Bewegungen eine Reihe von Reformsiegen erringen - auf nicht-reformistischem Wege. Gleichzeitig müssen wir - im Sinne von Partizipation und Entscheidungsfindung - parallel sowohl breite Bewegungs-Strukturen als auch Graswurzel-Mechanismen schaffen. Das alles stellt für mich die generelle Antwort dar - dazu müssen wir zu immer neuen inspirierenden Siegen kommen, die in einer Trajektorie des Wandels zu grundlegend neuen, neudefinierten Institutionen führen. Aber diese ganz allgemeine Antwort muss natürlich durch unsere eigenen Erfahrungen und Gedanken - in jeder Hinsicht - ergänzt werden.
Spannos:
Michael, vielen Dank.
Albert:
Gleichfalls vielen Dank. Ist natürlich sehr gern geschehen.
Aus der ZNet-Bio von Michael Albert:
Michael Albert ist ZNet-Redakteur und Ko-Redakteur / Ko-Gründer von ‘ZMagazine’. Er ist langjähriger Aktivist, Autor, Redner, usw.. Albert ist Mitbegründer des Verlags ‘South End Press’, er hat zahlreiche Bücher und Artikel (siehe ZNet) verfasst. Gemeinsam mit Robin Hahnel entwickelte er die Wirtschaftsvision Partizipative Ökonomie (Participatory Economics = Parecon). Diese Vision stellt die Fundamente der Wirtschaftstheorie infrage. Es geht um eine Gesellschaft, die weder durch den Markt noch durch Zentralismus bestimmt ist, weder durch Wettbewerb noch durch Kontrolle. Die Vision beschreibt eine Gesellschaft, in der man nach partizipativen Kriterien plant und teilt.
Einige Bücher von Michael Albert:
- Parecon: Life after Capitalism
- Looking Forward (Ko-Autor Robin Hahnel)
- The Political Economy of Participatory Economics
- A Quiet Revolution in Welfare
- Stop the Killing Train
- Thinking Forward
Quelle:
ZNet Deutschland
vom 24.06.2003. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel:
“From Despair to Revolution”