Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Was hat uns Gandhi heute zu sagen?

sternstein2.jpgvon Wolfgang Sternstein

Gandhi war durch und durch ein Reformer. Würde ich nach einem Bild gefragt, das geeignet wäre, sein Lebenswerk zu veranschaulichen, würde ich einen Baum mit ausgedehntem Wurzelwerk, starkem Stamm und weit ausladender Krone wählen.

Das Wurzelwerk steht für Gandhis Religion. Aus ihr erwächst der Stamm seiner Ethik im steten Wechselspiel von Selbstveränderung und Umweltveränderung. In der Krone fächert sich seine Ethik auf in Gesundheits- und Lebensreform, Reformpädagogik, Sozialreform, Wirtschaftsreform, politische Reform und Kulturreform. Es ist unmöglich, sein Reformprogramm auf so engem Raum darzustellen. Ich beschränke mich deshalb auf die für uns besonders wichtigen Aspekte: die Sozial-, Wirtschafts- und politische Reform.

Doch zunächst einige Worte zu seiner Religion. In den abrahamischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) ist Religiosität häufig verbunden mit Buchstabengläubigkeit, Dogmatismus, Fundamentalismus und Fanatismus, Toleranz dagegen häufig mit Gleichgültigkeit, Skepsis und Atheismus. Das besondere an Gandhis Religiosität ist die Verbindung von Glaubensleidenschaft und religiöser Toleranz. Für ihn sind die großen Weltreligionen so wahr wie seine eigene, der Hinduismus. Er ist daher kritisch gegenüber jeder Art von Mission. Ihm geht es darum, daß der Hindu ein besserer Hindu, der Christ ein besserer Christ und der Moslem ein besserer Moslem wird. Wie auf dem Gipfel eines Berges alle Wege zusammenlaufen, so treffen sich auch alle Religionen in der einen Wahrheit, die Gott ist.

Gandhi hat sich ein Leben lang für die Armen, die Unterdrückten und die Verachteten eingesetzt. Er lehrte die Unberührbaren, die Frauen, die Textilarbeiter von Ahmedabad und die Indigobauern von Champaran, last not least seine von weißen Rassisten in Südafrika diskriminierten und von den Engländern unterjochten Landsleute die Methoden des gewaltfreien Widerstandes. Er selbst stand stets an vorderster Front im Kampf gegen soziale Diskriminierung, politische Unterdrückung, wirtschaftliche Ausbeutung und kulturelle Entfremdung.

Und doch ist das nur die halbe Wahrheit. Denn ebenso wichtig war ihm das, was er das konstruktive Programm nannte, d.h. der Aufbau einer neuen, auf Freiheit, sozialer Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität gegründeten Gesellschaft. Der gewaltfreie Kampf und das konstruktive Programm waren ihm so wichtig wie das rechte und das linke Bein. Beide braucht man, wenn man vorankommen will. Ohne das konstruktive Programm droht der Widerstand in Resignation, Frustration, Haß und Gegengewalt zu versinken. Ohne den gewaltfreien Widerstand gegen das Unrecht droht die konstruktive Aktion zur Idylle, zum kleinen Glück im Winkel zu verkommen.

Es ist hier nicht Raum genug, um auf Gandhis Dorfentwicklungsprogramm einzugehen. Dieses Programm hatte das Ziel, die menschlichen Grundbedürfnisse: Nahrung, Kleidung, Wohnung, Bildung und Hygiene im Rahmen der Dorfgemeinschaft durch eigene Arbeit zu befriedigen. Es ist ein Programm, das gegenüber dem tödlichen Fortschrittsglauben an die Industrialisierung in den armen Ländern heute so aktuell ist wie nie zuvor. Doch hat Gandhi auch unserer moralisch verkommenen, geistig und seelisch verelendeten Überflußgesellschaft einiges zu sagen: nämlich daß ein Zusammenhang besteht zwischen dem Reichtum der Reichen und der Armut der Armen. Beide sind das Ergebnis eines halben Jahrtausends Kolonial- und Wirtschaftsgeschichte. Beide sind Symptome einer kranken Gesellschaft. Die einen leiden unter dem Überfluß, die anderen unter dem Mangel. Für beide gibt es folglich Heilung durch eine Politik des Ausgleichs zwischen Reichen und Armen, Mächtigen und Machtlosen, Angesehenen und Verachteten, Gebildeten und Ungebildeten.

Zum Schluß möchte ich noch ein besonders heikles Thema ansprechen. Gandhi wird häufig von Pazifisten als einer der Ihren reklamiert. Das trifft nur bedingt zu. Die europäischen Pazifisten hatten es schwer mit Gandhi und er mit ihnen. Das wird deutlich an der Kontroverse um seine Kriegsbeteiligung zwischen dem holländischen Pazifisten und Anarchisten Bart de Light und Gandhi. Gandhi hat sich, daran besteht kein Zweifel, mehrmals am Krieg beteiligt (Burenkrieg, “Zuluaufstand”, Erster Weltkrieg), wenn auch nicht als bewaffneter Kämpfer. Doch machte das in seinen Augen keinen wesentlichen Unterschied. Gandhi hat es nie als Fehler bezeichnet, sondern als einen notwendigen Schritt in seiner inneren Entwicklung gerechtfertigt. War er folglich ein “Bellizist”, d.h. einer, der zum Krieg als einem letzten Mittel des Widerstands gegen Unrecht und Gewalt ja sagt? Auch das nicht. Gandhi war weder Pazifist noch Bellizist, und zugleich war er beides.

Was ist mit dieser Rätselrede gemeint? Gandhi vereinte in sich die positiven Aspekte des Pazifismus - den Gewaltverzicht - und des Bellizismus - die Entschlossenheit zum Widerstand gegen Unrecht und Gewalt -, und er vermied deren negativen Aspekte, die Hilflosigkeit des Pazifisten angesichts der Gewalt und die moralische Fragwürdigkeit der Gegengewalt beim Bellizisten. Mit anderen Worten, Gandhi war ein gewaltfreier Kämpfer oder - noch zugespitzter ausgedrückt - ein gewaltfreier Soldat. Gandhi lehnte den Ehrentitel “Mahatma” (große Seele) ab. Er nahm aber demütig für sich in Anspruch, ein Satjagrahi, d.h. ein gewaltfreier Krieger zu sein. Das bedeutet aber auch: Der Weg vom Soldaten zum Satjagrahi ist nicht weiter als der Weg vom Pazifisten zum Satjagrahi. Das haben die Pflugschärfer in den USA, Australien und Europa begriffen. Doch die Soldaten der Bundeswehr haben es (noch) nicht begriffen.

Wer vom Leben und Werk Gandhis aus einen Blick auf die Bürgerinitiativen-, Alternativ-, Ökologie-, Friedens- und Dritte Welt-Bewegung der Bundesrepublik wirft, kann nicht umhin festzustellen: Sie haben den kleinen und doch so großen Inder, der vor 50 Jahren von einem fanatischen Hindu-Nationalisten ermordet wurde, noch längst nicht eingeholt.


Sarvodaja und Swadeshi

Thesen von Wolfgang Sternstein

1. Die Spaltung der Welt in reiche und arme Regionen ist das Ergebnis von 500 Jahren Kolonial- und Wirtschaftsgeschichte. Dem nüchternen Blick des Historikers stellt sie sich dar als eine einzige Kette von Verbrechen an der Menschheit.

2. Die reichen Industrieländer verfügen über ein Fünftel der Weltbevölkerung und verbrauchen vier Fünftel der Ressourcen. Die übrigen vier Fünftel der Weltbevölkerung müssen sich mit dem Rest begnügen.

3. Die Kluft zwischen Reich und Arm vertieft sich auch heute noch ständig. Zynisch ausgedrückt: Die Reichen werden reicher, die Armen kinderreicher.

4. Die Globalisierung der Weltwirtschaft beschleunigt diesen Prozess noch einmal gewaltig, wie wenn eine Rakete eine ausgebrannte Stufe abwirft und eine neue zündet.

5. Der technische Fortschritt (Steigerung der Arbeitsproduktivität) ist eine Funktion des weltwirtschaftlichen Ungleichgewichts. D.h. nimmt das Ungleichgewicht zu, beschleunigt er sich, nimmt es ab, verlangsamt er sich und kehrt sich schließlich um. Statt Arbeit durch Kapital (energiegetriebene Maschinen) zu ersetzen, würde Kapital durch Arbeit ersetzt.

6. Die armen Regionen leiden unter Kapitalmangel, die reichen unter Kapitalüberfluss. Beide sind krank. Eine Politik des Ausgleichs würde beide von ihrer Krankheit heilen.

7. Gandhis Wirtschaftskonzept, das er Sarvodaja (Wohlfahrt für alle) nennt, strebt den Ausgleich zwischen Armen und Reichen, Mächtigen und Machtlosen, Angesehenen und Verachteten, Gebildeten und Ungebildeten an.

8. Sarvodaja heißt: Jeder Mensch hat die Pflicht zu arbeiten, sofern er arbeitsfähig ist, und das Recht auf die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse, welche sind: Nahrung, Kleidung, Bildung, Wohnung, Hygiene.

9. Gandhi ist ein kompromissloser Gegner des westlichen Kapitalismus und des östlichen Kommunismus, die er unter dem Begriff Industrialismus zusammenfasst.

10. Er warnte seine Landsleute eindringlich davor, den Weg der Industrialisierung Indiens zu gehen. Wenn ihr Indien industrialisiert, werdet ihr untergehen, rief er ihnen zu.

11. Statt maschineller Massenproduktion will er Produktion durch die Massen. Das ist die Grundlage seines Konzeptes der Dorfindustrie auf handwerklicher Basis, in deren Mittelpunkt das Spinnrad steht.

12. God provides enough for everybody’s need, but not for everybody’s greed. Gott sorgt dafür, dass alle Menschen ihre Grundbedürfnisse befriedigen können, nicht aber ihre Gier. Wer daher mehr nimmt als er wirklich braucht, nimmt es anderen weg.

13. Swadeshi ist das antikapitalistische Prinzip schlechthin. Es bedeutet: Ziehe das, was in deiner nächsten oder weiteren Umgebung erzeugt wird, dem vor, was von weither hergeschafft werden muss, selbst wenn es ein wenig teurer ist.

14. Die Höhe einer Kultur bemisst sich am Lebensstandard der ärmsten, nicht dem der Reichen oder dem größten Glück der größten Zahl.

15. Selbstbeherrschung bzw. freiwillige Selbstbeschränkung ist das Geheimnis eines gesunden und glücklichen Lebens.


Dr. Wolfgang Sternstein, Hauptmannsreute 45, 70192 Stuttgart
Tel.: 0711-29 38 74, Fax: 0711-120 46 57, Email: sternstein@uwi-ev.de

Wolfgang Sternstein ist Friedens- und Konfliktforscher, seit 1975 in der Bürgerinitiativen-, Ökologie- und Friedensbewegung aktiv, Teilnahme an mehr als fünfzig gewaltfreien Aktionen, ein dutzendmal vor Gericht wegen Aktionen des zivilen Ungehorsams, zuletzt wegen mehrerer Entzäunungsaktionen am EUCOM, der Kommandozentrale für die amerikanischen Streitkräfte in Europa, achtmal im Gefängnis, weil er sich weigerte, die Geldstrafen zu bezahlen, insgesamt ein Jahr und zwei Monate.

Veröffentlichungen zur Theorie und Praxis der gewaltfreien Aktion.

Wolfgang Sternstein ist Mitglied im Lebenshaus Schwäbische Alb e.V.

Veröffentlicht am

14. Juli 2003

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