Doppelter Cäsarenwahn. Die Kanzleragenda - ein Fortschrittsweg ohne AlternativeVon Friedhelm Hengsbach SJ. Wer die so genannte Agenda 2010 getextet hat, muss von einem doppelten Cäsarenwahn befallen sein. Der eine Wahn besteht darin, die Kürzung der Sozialleistungen für einen geradlinigen Weg aus der verfestigten Massenarbeitslosigkeit zu halten. Der größere Wahn ist indessen die Überzeugung, dieser Weg sei ohne Alternative. Warum sollte der Verdacht, dass Sozialhilfeempfänger nicht arbeitswillig seien, und dass arbeitsfähige Arbeitslose es als Zumutung empfinden, sich qualifizieren und vermitteln zu lassen, jetzt bestätigt werden, nur weil er am rot-grünen Kabinettstisch verbreitet wird? Caritas und Diakonisches Werk haben wiederholt erklärt, dass die öffentliche Meinung durch eine selektive Wahrnehmung vernebelt ist. Wieso sollte die soziale Demontage, die unter der konservativ-liberalen Regierung keine nennenswerten Beschäftigungsimpulse ausgelöst hat, den Durchbruch auf dem Arbeitsmarkt bringen, nur weil ein SPD-Kanzler sie anordnet? Die Nötigung der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger stellt nicht zusätzliche Arbeitsplätze in Millionenhöhe bereit, der gelockerte Kündigungsschutz erzeugt kein Beschäftigungswunder, sondern tauscht sichere, angemessen entgoltene Arbeitsverhältnisse gegen prekäre und niedrig entlohnte aus. Die Selbstbeteiligung der Patienten beseitigt nicht die kollektiven Steuerungsdefizite des Gesundheitssystems. Das riskante Angebot zusätzlicher kommunaler Verschuldung ist kein Ersatz für eine föderale Finanzreform zu Gunsten der Kommunen. Eine unterschwellige Logik der so genannten Agenda weist die Verantwortung für gesellschaftliche Krisen den betroffenen Individuen zu. Arbeitslose, Empfänger von Sozialhilfe und Patienten haben angeblich durch individuelles Fehlverhalten ihre Situation mit verursacht. Folglich lassen sich Teile dieser Risiken aus der solidarischen Haftung herausnehmen und der privaten Vorsorge zuordnen. Haushalte mit geringem Einkommen verarmen und werden ausgegrenzt. Oder es werden gigantische Verschiebebahnhöfe zwischen den staatlichen und öffentlichen Haushalten eingerichtet. Die Marktsteuerung dringt verstärkt in die öffentliche Sphäre ein. Grundrechtsansprüche gegenüber dem Staat werden in private Tauschverhältnisse umformuliert. Die Alternative zur Agenda des Kanzlers besteht darin, deren Logik vom Kopf auf die Füße zu stellen. Die korrekte Denkfolge und Reaktionskette verläuft von den Finanzmärkten zu den Gütermärkten zu den Investitionen, zu den Arbeitsmärkten und dann zur sozialen Sicherung. Das politische Projekt eines ökologischen Umbaus der Wirtschaft, das den weiten geografischen Raum der EU-Beitrittsländer ausfüllt, lenkt umfassende Investitionen in ein umweltverträgliches Verkehrs- und Energiesystem sowie eine biologisch orientierte Landwirtschaft. Öffentliche Impulse locken private Gewinnerwartungen, die mehr Investitionen anregen, als die unendliche Lohnnebenkostendebatte jemals simuliert hat. Die gesellschaftliche Solidarität sollte nicht eingeschnürt, sondern gestärkt werden. Bisher ruhten die solidarischen Sicherungssysteme vorwiegend auf der Erwerbsarbeit, der lebenslangen Partnerbindung einer Frau an ihren erwerbstätigen Mann und auf dem Normalfall eines Haushalts mit zwei Kindern. Diese Grundlagen sind längst brüchig geworden. Also wäre es angebracht, die Grundlage der Solidarität zu erweitern: Allen Bürgerinnen und Bürgern, die ihren Lebensmittelpunkt innerhalb des Geltungsbereichs der Verfassung eingerichtet haben, steht das Recht auf einen Mindestanteil am Volkseinkommen und Volksvermögen zu, der ihnen ermöglicht, sich an den Prozessen der Meinungsbildung und Entscheidung in einer demokratischen Gesellschaft zu beteiligen. Darüber hinaus sichert ihnen die Beteiligung an der gesellschaftlich nützlichen Arbeit einen angemessenen Lebensstandard. Die Finanzierung dieser erweiterten Solidarität darf nicht allein den Schultern der abhängig Beschäftigten aufgeladen werden. Nicht allein die Löhne, sondern alle Einkommens- und Vermögensarten sind gemäß der Leistungsfähigkeit der Wirtschaftssubjekte beitragspflichtig. Die progressive direkte Besteuerung mit einem Familiensplitting an Stelle des Ehegattensplitting ist solidarischer als die Mehrwertsteuer oder andere indirekte Steuern. Diese würden nämlich die Haushalte mit Kindern überdurchschnittlich belasten. Die öffentlichen Leistungsansprüche im Risikofall müssen nicht beitragsorientiert sein; sie könnten gedeckelt und mit privaten Ansprüchen kombiniert werden. Quelle: Erziehung und Wissenschaft, Heft 6/2003. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag. Veröffentlicht amArtikel ausdrucken |
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