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Gegenfeuer - in memoriam Pierre Bourdieu

von Andrea Noll - ZNet Kommentar 20.07.2003

Zur Unzeit - hätte sein Tod im letzten Jahr wohl mehr zur Unzeit kommen können? Pierre Bourdieu, Soziologe und Philosoph, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Intellektuellen Europas, starb im Januar 2002 im Alter von 72 Jahren. Bourdieu, Kämpfer für eine demokratische Kontrolle ökonomischer Prozesse und Initiator einer “Internationalen der Intellektuellen”, war Herold einer Europa weiten (und weltweiten) Sozialbewegung. Bourdieu engagierte sich in der Illegalen-Bewegung (‘sans papiers’) und der französischen Bauernbewegung. Erinnern Sie sich noch, wie José Bové in Millau einen MacDonald demontierte? Im Juni verhaftete ihn ein französisches Polizeikommando auf seinem Bauernhof im Larzac und verfrachtete ihn per Hubschrauber ins Gefängnis von Villeneuve-lès-Maguelone, wo er eine zehnmonatige Freiheitsstrafe wegen Vernichtung von Gen-Feldern absitzen soll.

Während der französischen Streiks im Jahr 1995 stellte sich Pierre Bourdieu vor die Bahnarbeiter und Gewerkschafter am Gare de Lyon und verkündete im Namen französischer Intellektueller: “Bei den Bemühungen um die Neuordnung des öffentlichen Dienstes haben Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler usw. eine entscheidende Rolle zu spielen. Zunächst einmal können sie dazu beitragen, das Monopol der technokratischen Orthodoxie in den Medien zu brechen. Aber sie können auch organisiert und dauerhaft - also nicht nur in Form gelegentlicher Treffen in Krisenzeiten - mit denen zusammenarbeiten, die in der Lage sind, der Zukunft der Gesellschaft eine Richtung zu geben, also in erster Linie den Verbänden und Gewerkschaften.”

EU-Europa brennt. Sie haben die Brandfackel an unsere sozialen Fundamente gelegt. Und die Verantwortlichen wissen genau, sie müssen schnell agieren, wollen sie den europäischen ‘welfare state’ abfackeln. Der neuseeländische Ökonom Brian Easton spricht in diesem Zusammenhang von einer “Blitzkriegs”-Strategie. Neuseeland ist das Land mit der wohl dramatischsten Transformierung eines Sozialstaats in einen neoliberalen Horrorstaat (‘Rogernomics’). Pierre Bourdieu war sich bewusst: Um die Flamme des Neoliberalismus zu löschen, reicht alles Wasser des Rheins nicht, nicht das der Seine, und auch das der Donau nicht. Was hier gebraucht wird, ist ein echtes Gegenfeuer in Form einer europaweiten Sozialbewegung. Bourdieu starb, bevor die westeuropäische Krise ihren Höhepunkt erreichen konnte.

Vive la France!

La République Francaise ist etwas Besonderes - und das nicht erst, seit der französische Präsident Jacques Chirac Bushs Irak-Invasion sein großes ‘Nein’ entgegenschmetterte. Dem ehemaligen französischen Präsidenten Valery Giscard d’Estaing übertrug man die Präsidentschaft des sogenannten ‘Konvents zur Zukunft Europas’, das aktuell eine neue Verfassung für die stetig wachsende und immer mächtiger werdende EU ausarbeitet. Frankreich ist das Land Rousseaus und Voltaires, das Land der ‘Pariser Kommune’ und der Französischen Revolution (1789). Letztere stellt mit ihren Idealen - Liberté, Egalité und Fraternité - einen Meilenstein unserer Zivilisation dar. Plötzlich war der Staat nicht mehr Privateigentum müßiggängerischer (aristokratischer) Eliten sondern Gemeingut des Volkes. Im Laufe der Revolution wurde das französische Volk zum Souverän und sollte die Kontrolle übernehmen. In der Französischen Revolution wurde für Europa das Konzept des ‘Citoyen’ / der ‘Citoyenne’ (siehe ‘citizen’) geboren. Dem ‘citoyen’ stellte Bourdieu kontrastiv den ‘Konsumenten’ gegenüber, von Bourdieu als “kommerzielles Bürger-Substitut” bezeichnet.

Heute sehen sich die Citoyens Frankreichs in einem Sozialkampf gegen die Zerstörung ihres Staats. Kann es Egalité geben ohne soziale Rechte? Liberté, wenn ökonomische Eliten die demokratischen Prozesse kontrollieren? Und was Fraternité betrifft, so schreibt Bourdieu in ‘Gegenfeuer’: “Man kann gegen den Nationalstaat streiten und dabei doch seine ‘universellen’ Aufgaben verteidigen”, S.49. Unsere Betten brennen - und das buchstäblich. Renten, Gesundheitsversorgung, Sozialleistungen, Staatssektor - in EU-Europa ist nichts mehr sicher.

Aber im Gegensatz zu anderen EU-Bürgern kämpfen die Franzosen. Mai/Juni gingen Millionen gegen die neuen Pensionspläne der Regierung Raffarin auf die Straße. Was vor allem überrascht, dass die meisten Bürger Frankreichs die Streiks ganz okay finden - selbst wenn sie das öffentliche Leben lahmlegen. Im Vergleich hierzu schaffte es Maggie Thatcher in Großbritannien praktisch mit links, Gewerkschaften und Sozialstaat zu erledigen. Im Land der reichsten Frau der Welt (sie trägt eine Krone) sterben Menschen auf der Warteliste für eine Dialysebehandlung.

Und was ist mit Deutschland? Die derzeitige Wirtschaftskrise hat die Menschen verstummen lassen. Sie schicken sich in die vermeintlich “unvermeidlichen Reformen”. Wobei Re-formieren hier das Auf-den-Kopf-stellen des gesamten Gesellschaftskonzepts ist. Die deutsche IG-Metall - mit fast 3 Millionen Mitgliedern die zweitgrößte Einzelgewerkschaft der Welt - musste Ende Juni eine historische Niederlage hinnehmen, als ein Streik um Arbeitszeitverkürzungen dramatisch scheiterte. Inzwischen haben Politiker, die Medien und Konzern-Deutschland zur Hexenjagd auf die deutschen Gewerkschaften geblasen. Vergiften die Gewerkschafter nicht unsere Brunnen? Zumindest “machen sie die Wirtschaft kaputt” - oder wer sonst wäre wohl schuld an der hohen Arbeitslosigkeit?

Der Zauberer von Oz

Zwei Franzosen, eine Generation: Auf der einen Seite Pierre Bourdieu, der Entzauberer, der zornige alte Mann der französischen Sozialbewegung, auf der anderen Giscard d’Estaing, Spiritus Rector der künftigen EU-Verfassung und Herold eines neoliberalen Europa. Über ihn schrieb Bourdieu 1996: “Eine Wohnungspolitik etwa, wie sie unter Giscard d’Estaing 1970 beschlossen wurde, hat langfristige soziale Kosten verursacht, die nirgendwo aufgeführt sind (…) Diese Vergehen bleiben ungesühnt, weil sie vergessen werden” (‘Gegenfeuer’, S.48). Beide Männer verbindet - sie sind bzw. waren für einen supranationalen Staat Europa. Bourdieus Vorstellung: Die Sozialbewegungen Europas, Gewerkschaften und Demokraten organisieren sich auf europäischer Ebene und formen den Demokratisch-Sozialen Staat Europa - im Sinne der Res Publica. Giscard d’Estaing hingegen sieht in der EU die ‘United States of Europe’ (na, klingelt’s?) heraufdämmern. Giscard steht für das, was Bourdieu mit ‘Modell Tietmeyer’ bezeichnete (Hans Tietmeyer, Präsident der Deutschen Bundesbank a.D.). Bourdieu: “Hans Tietmeyer ist überzeugt, daß die sozialen Errungenschaften der Investoren, also ich meine, ihre ökonomischen Errungenschaften, eine Fortführung des derzeitigen sozialen Sicherungssystems nicht überleben würden. Deshalb muß man dieses System dringend reformieren, denn die ökonomischen Errungenschaften der Investoren können nicht warten” (‘Gegenfeuer’, S.54).

Aber was ist die EU tatsächlich? E-who? Brüssel ist eine Festung - eine mit Milchglasscheiben. Brüssel ist eine Vorstandsetage, in der sich Lobbyisten, hohe Regierungs-Offizielle und Technokraten die Klinke in die Hand geben, in der sie ihre nächsten Schritte beraten. Übrigens, seit Juli hat der Italiener Silvio Berlusconi das rotierende Amt des EU-Ratspräsidenten inne. Gleich am ersten Tag nutzte er die Gelegenheit und produzierte einen mittleren Skandal, als er den deutschen Sozialdemokraten Martin Schulz vor versammeltem EU-Parlament (indirekt) als KZ-Wächter bezeichnete. Der deutsche ‘Spiegel’ betitelte den Medien-Mogul jüngst gar als ‘Paten’ (Berlusconi/Italien - das ist so, als regierte Rupert Murdoch Australien!). Aus Italiens Justiz und politischem System hat Berlusconi bereits eine Lachnummer gemacht. Nun ist also die “demokratische” EU an der Reihe.

Aber zaubert Giscard d’Estaing mit seinem Verfassungskonvent nicht eine ganz neue, eine bessere EU aus dem Hut? Ist er nicht dabei, einen demokratischen, transparenten supranationalen Staat zu erschaffen? Ganz im Gegenteil. Giscard ist unser Zauberer von Oz. Während ihn die Mainstream-Medien als großen Magier feiern - sitzt da in Wirklichkeit ein altes, gebrechliches Männchen hinter den Kulissen und zieht die Fäden als trauriger Handlanger Konzern-Europas.

Die ‘neue EU’ hat keine Sozial-Agenda (jedenfalls keine, die den Namen verdient), auch keine ökologische. Dafür sollen wir (mittelfristig) eine koordinierte EU-Außenpolitik bekommen - eine, die “mit einer Stimme spricht” - mit der Jack Straws? Oder der des zu Jack Straw mutierten Joschka Fischer? Hand aufs Herz, einmal abgesehen von einer betonten Rolle der Vereinten Nationen liest sich das neue außenpolitische Strategiepapier der EU wie die Neuauflage von George Bushs Präventivschlags-Agenda. Pierre Bourdieu würde in bitteres Lachen ausbrechen angesichts dieser Anti-Bürger-Verfassung. Wie anti-demokratisch das Gebilde EU wirklich ist, sieht man, wenn man die Leute auf der Straße befragt - EU-Bürger. Wagen Sie den Versuch, fragen Sie die Leute, was sie über EU-Institutionen und -Konzepte oder über die geplante neue Verfassung wissen. Wetten, viele haben nicht die blasseste Ahnung, was in Brüssel vor sich geht - außer, dass es sehr, sehr gut für uns ist, die Medien sagen’s ja. Sollte es tatsächlich zu einem Referendum über die EU-Verfassung kommen, wird eine überwältigende Mehrheit Giscards Entwurf zustimmen - ohne die leiseste Ahnung, um was es dabei eigentlich geht.

Man behauptet, die neue EU trete Kompetenzen an das EU-Parlament ab. Welches Parlament? Wäre interessant zu erfragen, wer überhaupt weiß, dass wir uns ein EU-Parlament in Straßburg leisten. Oder erinnern Sie sich noch, für wen Sie bei der letzten Europawahl gestimmt haben - bzw. wann die war? Ein Teil des Problems ist die fehlende Medienberichterstattung zum Thema EU-Innenleben. Die EU ist soetwas wie der tote Winkel. Selbst über das Leben der ugandischen Berggorillas wird medienseits mehr berichtet als über das Innenleben der EU - von hehren Sonntagsreden einmal abgesehen.

Nehmen wir als Beispiel Deutschland. Bei uns wird jede nationale Parlamentsdebatte mit geradezu exzessivem Überschwang im TV gesendet, unsere Regierungspolitik tagtäglich in der Presse breitgetreten und debattiert - Potemkinsche Dörfer, denn die Entscheidungsprozesse auf supranationaler, also EU-Ebene, gehen derweil unbemerkt und hinter verschlossenen Türen vor sich. Und diese Entscheidungen beeinflussen unser Leben oft weit nachhaltiger als politische Entscheidungen auf nationaler oder Länderebene. Wer aber entscheidet in der EU wirklich? Fragen Sie die Damen und Herren, die in der WTO entscheiden.

Licht und Schatten

Kennen Sie den Witz von dem Betrunkenen, der nachts auf der Straße seinen Schlüssel sucht? Ein Passant sieht ihn unter der Straßenlampe: “Hey, was suchen Sie da?” “Ich habe meinen Hausschlüssel verloren”. “Unter der Laterne?” “Nein, nein, dadrüben in der dunklen Ecke.” “Aber warum um Himmelswillen suchen Sie ihn dann hier?” “Weil hier mehr Licht ist!” Nein, ich gehe nicht mit allen Konzepten Bourdieus d’accord. Die Idee, Europas Intellektuelle könnten die Speerspitze einer neuen Sozialbewegung - auf europäischer / globaler Ebene - bilden, halte ich für etwas zu euphorisch, ebenso das Hohelied auf die Soziologie: zuviel elitäres Denken, zuviel Elfenbeinturm. Auch Bourdieus Skeptizismus gegenüber der europäischen Linken teile ich nicht. Natürlich kann man die dogmatische Linke kritisieren - vor allem den ‘realexistierenden Sozialismus’ Marke Moskau. Aber im Hinblick auf soziale Rechte / sozialen Fortschritt, wie sie in Westeuropa seit dem Zweiten Weltkrieg errungen wurden, gilt: Man kann die Verdienste der politischen Linken gar nicht hoch genug einschätzen. Die (undogmatische) Linke muss Teil unserer Sozialbewegungen sein - sonst enden diese als Eintagsfliegen. In diesem Sinne hat Bourdieu den Schlüssel manchesmal vielleicht am verkehrten Ort gesucht - dort, wo eben mehr Licht war.

Staatsnotstand - oder: von alten und neuen Revolutionen

Die ‘alte Revolution’ war natürlich ein Projekt der Franzosen. Die ‘neue Revolution’ hingegen, so Bourdieu, war eine konservative, ein amerikanisches Produkt (und wir sprechen hier nicht von der Amerikanischen Revolution 1777). Mit ‘konservativer Revolution’ meint Bourdieu die ‘Chicagoer Schule’ - Milton Friedman mit seinen ‘Chigago Boys’. Bei Chicago denke ich automatisch an Upton Sinclairs ‘Der Dschungel’ und Brechts ‘Heilige Johanna der Schlachthöfe’. (Aber es gibt auch das andere Chicago - das, der Haymarket-Märtyrer (1. Mai), das, der progressiven Bewegungen von heutzutage.)

Das Feuer der konservativen Revolution hat den Atlantik übersprungen und versengt den Alten Kontinent. Was wir brauchen, ist ein Gegenfeuer - eine große, beständig-brennende, starke Flamme, die das Niederbrennen der westeuropäischen Sozialstaaten und deren sozialer/demokratischer Errungenschaften aufhält. Generationen von europäischen ‘citoyens’ haben hart für diese Errungenschaften gekämpft (und wären bereit, diese auch mit den neuen EU-Bürgern zu teilen). Zudem müssen wir dringend verhindern, dass die neue EU den Großen Bruder überm Teich und dessen Imperial-Gehabe imitiert. Leider sind wir - als Nato-Partner - in die Militärstrukturen des American Empire eingebunden. Wir müssen alles daransetzen, nicht zu John Waynes Hilfssheriffs zu verkommen.

Was die Mitglieder der progressiven Bewegungen Europas dringend begreifen müssen: Auf nationaler Ebene können wir unsere Schlachten nicht mehr gewinnen. Verwandelt sich der Zauberer in einen Löwen, kann man ihm nicht als Kätzchen entgegentreten. Andererseits brauchen wir aber auch nicht das Rad neuzuerfinden. Schon seit dem Mittelalter kämpfen die Menschen Europas für ihre sozialen Rechte. Ziehen wir also die Lehren aus ihren Kämpfen, verbinden wir Altes mit Neuem - linke Parteien mit den traditionellen und den neuentstehenden sozialen Bewegungen (Attac), Gewerkschaften, usw. - schmieden wir ein Bündnis für eine neue und gewaltfreie Revolution des langen Atems aller ‘citoyens’ Europas - für ein echtes Gegenfeuer! In memoriam Pierre Bourdieu.

Pierre Bourdieu hat viele Bücher geschrieben. Hier eine kleine Auswahl:
‘Gegenfeuer’, Pierre Bourdieu, UVK, 1998
‘Gegenfeuer 2’, Pierre Bourdieu, UVK, 2001
Das Elend der Welt, Pierre Bourdieu, 1997
‘Die feinen Unterschiede’, Pierre Bourdieu, Suhrkamp, 2002

Quelle: ZNet Deutschland vom 20.07.2003. Orginalartikel: “Counter-fire - in memoriam Pierre Bourdieu”

Veröffentlicht am

20. Juli 2003

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