When the Saints go marching outVon Arundhati Roy - ZNet 02.09.2003 28. August 1963 - 40 Jahre später erinnern wir uns an die Worte Martin Luther King Juniors: “Ich habe einen Traum, dass eines Tages diese Nation aufstehen und nach dem echten Sinn ihres Glaubensbekenntnisses leben wird: Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich erschaffen sind…” Wir begehen den 40. Jahrestag des “Marsches auf Washington”, anlässlich dessen Martin Luther King diese berühmte Rede - “I have a dream” - hielt. Was ist aus jenem Traum geworden - wäre vielleicht an der Zeit, darüber, erneut, nachzudenken. Interessant zu sehen, wie Ikonen, deren Zeit vorbei ist, kommerzialisiert werden, wie man sie sich aneignet (manche machen freiwillig mit, andere nicht), so dass sie jener Ungerechtigkeit, jener Bigotterie und jenen Vorurteilen nützen, die sie einst bekämpften. In einer Welt, in der alles käuflich ist, warum nicht auch Ikonen? Oder sollte in einer Ära, in der die gesamte Menschheit, alle Kreatur auf Gottes Erden, in der Falle sitzt - eingekeilt zwischen IWF-Scheckbuch und amerikanischen Cruise Missiles - ausgerechent den Ikonen der Ausbruch gelingen? Martin Luther King ist Teil einer Dreieinigkeit. Beim Gedanken an ihn drängen sich automatisch zwei andere mit ins Bild: Mohandas (Mahatma) Gandhi und Nelson Mandela: die drei Hohenpriester des gewaltlosen Widerstands. Gemeinsam repräsentieren sie (mehr oder weniger) die gewaltlosen Befreiungskämpfe des Zwanzigsten Jahrhunderts (oder sollten wir besser von “verhandelten Lösungen” sprechen?): Es ging um Kolonialisierte versus Kolonialherren, Ex-Sklaven versus Sklavenbesitzer. Heute benutzen die Eliten genau jener Völker und Gesellschaften, in deren Namen die Freiheitskämpfe damals geführt wurden, diese Männer als Maskottchen, um neue “Master” anzulocken. Mohandas, Mandela, Martin. Indien, Südafrika, USA. Geplatzte Träume, Verrat, Alpträume. Ein Schnappschuss der sogenannten “Freien Welt” von heute. Letzten März ermordeten im indischen Gujarat - Gandhis Gurajat - rechtsgerichtete Hindu-Mobs 2000 Muslime, in einer erschreckend effizienten Orgie der Gewalt. Frauen wurden gruppenvergewaltigt und bei lebendigem Leibe verbrannt, muslimische Gräber und Schreine dem Erdboden gleichgemacht, mehr als 150 000 Muslime aus ihren Häusern vertrieben. Die wirtschaftliche Grundlage der (muslimischen) Gemeinschaft wurde zerstört. Augenzeugenberichte und mehrere Beweissicherungs-Kommissionen beschuldigen die Regierung des Bundesstaats und die Polizei, mit der Gewalt unter einer Decke zu stecken. Ich selbst war bei einer Versammlung, auf der eine Gruppe Opfer nicht aufhörte zu flehen: “Bitte, rettet uns vor der Polizei! Das ist alles, was wir wollen…” Im Dezember 2002 wurde dieselbe Landesregierung wiedergewählt. Narendra Modi, dem viele vorwerfen, die Unruhen dirigiert zu haben, wurde zum zweitenmal Ministerpräsident von Gujarat. Am 15. August - Unabhängigkeitstag - zog er vor tausenden Jubelnden eigenhändig die indische Flagge hoch. Ein bedrohliches Symbol war auch die schwarze Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) Mütze, die er trug. Sie weist ihn als Mitglied der nationalistischen Hindu-Gilde aus - die sich nicht scheut, Hitler und dessen Methoden zu bewundern. In Indien leben 130 Millionen Muslime - die anderen Minderheiten sind: Dalits, Christen, Sikhs und Adivasis - unter dem (drohenden) Schatten des hinduistischen Nationalismus. Narendra Modi schäumt derzeit über vor politischer Karrierehoffnung - und er versteht es meisterlich, den politischen Moment zu nutzen. Also lud er Nelson Mandela nach Gujarat ein. Mandela sollte Hauptgast bei der Feier zu Gandhis Geburtstag, am 2. Oktober, sein. Glücklicherweise wurde die Einladung abgelehnt. Und was ist mit Mandelas Südafrika - dem “Kleinen Wunder”, “Gottes Regenbogen-Nation”? Die Südafrikaner sagen, das einzige Wunder das sie sehen, sei, wie rasch der Regenbogen privatisiert und zerstückelt wurde, an die Meistbietenden verhökert. Der ANC (African National Congress) kam 1994 an die Macht. Schon zwei Jahre später beugte er fast ohne Vorbehalte das Knie vor dem Gott des Marktes. Nicht schnell genug konnte man Argentinien als Vorzeigemodell des Neoliberalismus ablösen und institutionalisierte ein massives Privatisierungs- und Strukturanpassungsprogramm. Das Regierungsversprechen, Agrarland an 26 Millionen Landlose zu verteilen, verstaubt in der Abteilung schwarzer Humor. 60% der Bevölkerung sind nach wie vor landlos, während fast das gesamte Agrarland den 60 000 weißen Farmern gehört (wen wundert’s, dass George Bush bei seinem kürzlichen Südafrika-Besuch Thabo Mbeki als seinen “Weichensteller” in Bezug auf Simbabwe bezeichnete). In Post-Apartheid (Südafrika) hat sich das Einkommen der 40% ärmsten schwarzen Familien um rund 20% verringert; 2 Millionen wurden aus ihren Wohnungen vertrieben, und täglich sterben 600 Personen an Aids. 40% der Bevölkerung sind arbeitslos - Tendenz dramatisch steigend. Die Konzernprivatisierung der Grundversorgung hat dazu geführt, dass heute Millionen Menschen von der Wasser- und Stromversorgung abgekoppelt sind. Vor 14 Tagen besuchte ich Teresa Naidoo in ihrem Heim in Chatsworth, Durban. Tags zuvor war ihr Mann an Aids gestorben. Sie hat kein Geld für einen Sarg. Sie und ihre beiden kleinen Kinder sind ebenfalls HIV-positiv. Die Regierung stellt ihr das Wasser ab, weil sie ihre Wasserrechnung nicht bezahlen kann und auch die Mietrückstände ihrer kleinen Sozialwohnung nicht. Ihre Probleme - und die Millionen anderer in ähnlicher Situation - werden von der Regierung als “Kultur der schlechten Zahlungsmoral” abgetan. Folgendes wäre eigentlich ein internationaler Skandal: Die gleiche Regierung fordert - offiziell - vom Richter eines US-Gerichtshofs, er solle ein abschlägiges Urteil fällen, denn vor dem Gericht wird verhandelt, ob Firmen für ihre Rolle, die sie während der Apartheidszeit spielten, Reparationen zahlen müssen. Begründung: Reparationen - in anderen Worten, Gerechtigkeit - würde ausländische Investitionen behindern. Folglich müssten die Ärmsten Südafrikas die Schulden der Apartheid bezahlen - auf dass jene, die während der Apartheid massive Profite durch die Ausbeutung der Schwarzen einstrichen, durch die Benevolenz von Nelson Mandelas “Rainbow Nation of God” noch mehr profitieren. Präsident Thabo Mbeki lässt sich von seinen Kabinettskollegen noch immer mit “Genosse” anreden. Orwells Parodie - in Südafrika ist sie Realsatire. Und was wäre noch über Martin Luther Kings Amerika zu sagen? Vielleicht sollte man einfach die Frage stellen: Wäre King heute noch am Leben, würde er sich sein unangefochtenes Plätzchen im Pantheon Großer Amerikaner warmhalten? Oder würde er vielmehr vom Postament heruntersteigen, alle hohltönenden Hosiannas von sich abschütteln, auf die Straße geh’n und seine Leute noch einmal zusammentrommeln? Am 4. April 1967, ein Jahr vor seiner Ermordung, sprach Martin Luther King in der Riverside Church von New York City. An jenem Abend sagte er (ich muss ihn paraphrasieren, denn seine öffentlichen Reden sind inzwischen Privatbesitz), es werde ihm nie mehr möglich sein, sich gegen die Gewalt derer zu äußern, die in den Gettos leben, ohne sich zuerst gegen die eigene Regierung anzuäußern - von King als der größte Lieferant von Gewalt (purveyor of violence) in der modernen Welt bezeichnet. Hat sich in den 30 Jahren zwischen 1967 und 2003 etwas getan, was King veranlasst hätte, seine Meinung zu ändern? Oder würde er sich heute nur doppelt bestätigt fühlen - nach all den offenen und versteckten Kriegen und Massentötungen, in die Regierungen seines Landes - nacheinander republikanische und demokratische - verwickelt waren? Eines darf nicht vergessen werden: Martin Luther King startete nicht als Kämpfer. Er war einer, der überzeugen wollte, ein Gläubiger. 1964 bekam er den Friedensnobelpreis. Die Medien priesen ihn als beispielhaften Schwarzenführer - im Vergleich zum militanteren Malcom X etwa. Erst drei Jahre später brachte Martin Luther King den rassistischen Krieg der US-Regierung in Vietnam erstmals öffentlich mit der Rassismuspolitik im eigenen Land in Verbindung. In einer kompromisslosen und kämpferischen Rede im Jahr 1967 verurteilte King die amerikanische Invasion in Vietnam. Herzergreifend eloquent, wie er die grausame Ironie der Fernsehbilder schildert - Bilder, die zeigen, wie schwarze und weiße Jungs in brutaler Solidarität die Hütten eines armen Dorfes niederbrennen; sie töten, sie sterben gemeinsam für eine Nation, die sie (daheim) nicht einmal am selben Tisch sitzen ließe. Seine Verurteilung des Vietnam-Kriegs wurde King als Verrat ausgelegt. Frühere Verbündete geißelten ihn, die amerikanische Presse attackierte ihn aufs Übelste. Die Washington Post: “Er schmälert (damit) seinen Nutzen für seine Sache, für sein Land und sein Volk”. Und die New York Times konterte die zunehmende Antikriegsstimmung des schwarzen Amerika mit dem herrlichen Gegenargument: “In Vietnam”, so die Times, “bekam der Neger zum erstenmal die Gelegenheit, seinen Teil zum Kampf seines Landes beizutragen.” Was sie verschwieg, war die Tatsache, dass - so Martin Luther King - proportional zur US-Bevölkerung doppelt soviele Schwarze wie Weiße in Vietnam starben. Und sie verschwieg auch Folgendes: Als die Bodybags (Leichensäcke) in die Heimat zurückkehrten, wurden einige der toten schwarzen Soldaten auf segregierten Friedhöfen des Südens beerdigt. Was würde Martin Luther King wohl dazu sagen, dass laut Bundesstatistik Afro-Amerikaner 21% der Gesamtstreitkräfte stellen und 29% der Angehörigen der US-Armee - aber nur 12% der US-Bevölkerung? Würde er es vielleicht positiv bewerten - als eine wirklich gelungene “Fördermaßnahme benachteiligter Gruppen”? Und was würde Martin Luther King dazu sagen, dass, nachdem er so hart für das Wahlrecht kämpfte, heute 1,4 Millionen Afro-Amerikaner (13% aller Schwarzen im Wahlalter) aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ihre bürgerlichen Ehrenrechte verloren haben? Und die wichtigste Frage: Was würde Martin Luther King jenen schwarzen Männern und Frauen sagen, die 1/5 der amerikanischen Gesamtstreitkräfte und fast 1/3 der US-Armee stellen? Den schwarzen Soldaten, die in Vietnam kämpften, hatte er geraten, Amerikas Rolle in Vietnam begreifen zu lernen, sie sollten darüber nachdenken, aus Gewissensgründen zu verweigern. Anlässlich einer großen Antikriegs-Demonstration in Manhattan im April 1967 umschrieb Stokely Carmichael die Wehrpflicht so: “Weiße schicken Schwarze in einen Krieg gegen Gelbe, um (ein) Land zu verteidigen, das sie den Roten gestohlen haben”. Hat sich seither etwas geändert? Außer natürlich, dass sich die Wehrpflicht zu einer Pflicht der Armen gewandelt hat - eine etwas andere Art des Zwangs also. Würde Martin Luther King heute sagen, die Invasion und Okkupation des Irak oder Afghanistans unterscheide sich moralisch in irgendeiner Form von dem Einmarsch, den die US-Regierung damals in Vietnam veranstaltete? Würde er verkünden, es sei moralisch, es sei gerecht, sich an diesen Kriegen zu beteiligen? Und würde er sagen, es sei okay, dass eine US-Regierung einen Diktator wie Saddam Hussein über Jahre hinweg politisch und finanziell unterstützte - in einer Zeit, nämlich in den 80gern, als er seine schlimmsten Exzesse an Kurden, Iranern und Irakis beging, aber ein Verbündeter gegen den Iran war? Würde Martin Luther King sagen, es war in Ordnung, einen Krieg gegen den Irak zu beginnen - als Saddam Hussein zu bocken anfing -, dass es in Ordnung war, mehrere hundert Tonnen angereichertes Uran auf Felder abzuschießen oder die Wasserversorgungssysteme zu ruinieren und ein Regime der Wirtschaftssanktionen einzuführen, das einer halben Million Kinder das Leben kostete; war es in Ordnung, UN-Waffeninspekteure dazu zu benutzen, den Irak zur Entwaffnung zu zwingen, und war es in Ordnung, der Öffentlichkeit vorzumachen, es existiere ein Massenvernichtungswaffen-Arsenal - minutenschnell einsetzbar - und als das Land dann am Boden lag, eine Invasionsarmee hineinzusenden, um es zu besiegen, zu besetzen, um das Volk zu demütigen und die natürlichen Ressourcen, die Infrastruktur unter die eigene Kontrolle zu bringen und US-Konzernen wie Bechtel hunderte Millionen Dollar schwere Verträge zuzuschanzen? Damals, als Martin Luther King sich gegen den Vietnamkrieg aussprach, stellte er eine Verbindung her, vor der heute viele zurückschrecken - explizit sprach er von einer Beziehung zwischen Rassismus, wirtschaftlicher Ausbeutung und Krieg. Würde King daher den Leuten heute sagen, es sei schon okay, wenn die US-Regierung ihre Grausamkeit exportiert - wenn sie ihren Rassismus, ihre ökonomische Gängelei, ihre Kriegsmaschinerie in arme Länder exportiert? Würde er sagen, die schwarzen Amerikaner sollten um ihr faires Stück an der American Pie kämpfen - und je größer der Kuchen, desto größer ihr Anteil - auch wenn die Menschen Afrikas, Asiens, des Nahen/Mittleren Ostens oder Lateinamerikas die bittere Zeche des “American Way of Life” zahlen? Würde King das Aufpfropfen des Großen Amerikanischen Traums auf seinen eigenen unterstützen? Sein Traum war ja ein völlig anderer, ein sehr schöner Traum. Oder würde er es nicht vielmehr als Entweihung seines Vermächtnisses und all dessen betrachten, wofür er stand? Der Kampf schwarzer Amerikaner für ihre Bürgerrechte hat uns einige der größten politischen Kämpfer, Denker, öffentlichen Redner und Autoren unserer Zeit beschert: Martin Luther King, Malcom X, Fannie Lou Hamer, Ella Baker, James Baldwin und nicht zu vergessen den magischen, mythischen, absolut tollen Muhammad Ali. Wer hat sie beerbt? Leute wie Colin Powell, Condoleeza Rice oder Michael Powell? Sie stellen das exakte Gegenteil einer Ikone, eines Vorbilds dar. Dem Anschein nach verkörpern sie zwar den schwarzen Traum vom materiellen Erfolg, in Wirklichkeit aber den Großen Betrug. Sie sind die livrierten Türsteher am Portal des glänzenden Ballsaals, die diesen Ballsaal gegen die Angehörigen der dunkleren Rassen bewachen - diese können dagegen drücken und sich anstrengen, wie sie wollen. Die Rolle, der Sinn dieser Leute besteht darin, von der Bush-Administration vorgeführt zu werden. Schließlich hat sie für ihre rassistischen Kriege und afrikanischen Safaris ein paar braune Einsprengsel nötig. Sollten sie die neuen Ikonen des schwarzen Amerika sein, müssen die alten außer Dienst gestellt werden - sie gehören einfach nicht in dasselbe Pantheon. Sollten sie die neuen Ikonen des schwarzen Amerika sein, dann ist das, was Mike Marqusees in seinem wunderschönen Buch “Redemption Song” beschreibt (das quälende Bild eines alternden Muhammad Ali mit Parkinson, der für eine Rentenversicherung wirbt), Symbol dessen, was aus Black Power geworden ist - weltweit, nicht nur in den USA. Dieser Text war Grundlage eines 15-minütigen Radio-Essays auf ‘Radio 4’/ BBC. Arundhati Roy ist Autorin von “Der Gott der kleinen Dinge” Quelle: ZNet Deutschland vom 10.09.2003. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: “When The Saints Go Marching Out” Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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