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“Wenn die Menschen schweigen, so werden die Steine schreien”

Seit 12 Jahren findet jedes Jahr während der Ökumenischen Friedensdekade “Eine halbe Stunde des Schweigens für alle Opfer von Gewalt und Euthanasie” an der Gedenkstätte in Mariaberg statt. Diese Gedenkstätte wurde als Mahnung und Erinnerung an 61 Menschen aus den Mariaberger Heimen in Gammertingen (Kreis Sigmaringen) errichtet, die 1940 Opfer der Euthanasie durch die Nazidiktatur wurden.

Michael Schmid hat bei der Veranstaltung am 9. November 2003 zu Beginn und am Ende ein paar Worte an die Anwesenden gerichtet:

Ich begrüße Sie am heutigen 9. November 2003 zu unserer Veranstaltung hier an der Gedenkstätte in Mariaberg. Diese findet im Rahmen der bundesweiten Ökumenischen Friedensdekade mit dem Motto “Teufelskreise durchbrechen” statt.

Der 9. November - das ist ein sehr geschichtsträchtiges Datum, das gut mit Teufelskreisen zusammenpasst!

Am 9. November 1938 haben die Nazis jüdische Geschäfte und Synagogen zerstört und in Brand gesetzt. Auf den Tag genau vor 65 Jahren erlebte der antisemitische Terror im Nazideutschland einen grausamen Höhepunkt. Mit dieser Pogromnacht wurde auch sichtbar für alle der letzte Schritt vor der systematischen, staatlich sanktionierten und betriebenen Vernichtungspolitik gemacht.

Die Nazis sahen sich aus ihrem rassistischen Denken heraus gerechtfertigt, schwächere Minderheiten als gefährlich für die Entwicklung der eigenen Rasse anzusehen und sie deshalb zu töten. Als solche Minderheiten galten außer Juden auch Slawen, Sinti, Roma, sowie psychisch und geistig kranke Menschen. Sie alle wurden zu Objekten der Vernichtung.

Wir stehen hier an der Gedenkstätte in Mariaberg. 1940 wurden von den Mariaberger Heimen 61 Menschen mit geistiger Behinderung abgeholt. Sie wurden nach Grafeneck gebracht und dort ermordet. Wie über 10.000 weitere Menschen an diesem Ort auf der Schwäbischen Alb auch, der dadurch zu einem regelrechten Ort des Schreckens geworden ist.

Die Namen dieser 61 Opfer der Euthanasie durch die Nazi-Diktatur sind hier in den Steinplatten der Gedenkstätte in Stein eingemeißelt. Ihr Tod und der Tod von vielen Millionen Menschen verpflichtet uns, allem Denken und Tun zu widerstehen, das menschliches Leben in lebenswert und lebensunwert einteilen will.

Während der Nazidiktatur hatte sich der Teufelskreis der Gewalt und des Terrors Deutschland in Millionen Hirne und Herzen gebrannt! Aus zerschlagenen Scheiben wurde schließlich eine zerschlagene Welt.

Aber auch heute gibt es unzählige Teufelskreise der Gewalt, in denen Menschen zu Opfern gemacht werden. Auch diesen Opfern von Gewalt wollen wir heute gedenken, also:

  • Opfern von Kriegen und Terror;
  • aber auch Opfern von struktureller Gewalt, z.B. jenen Menschen die aufgrund ungerechter Wirtschaftsstrukturen im Elend leben oder verhungern;
  • und den Opfern von nicht unbedingt so ohne weiteres sichtbarer seelischer Gewalt, z.B. in Form von Stalking und anderer Formen der Unfairness und des Psychoterrors. Auch diese Gewalt verletzt oder mordet sogar.

“Wenn die Menschen schweigen, so werden die Steine schreien”.

Dieser Satz aus dem Lukasevangelium (Lk 19,40) steht hier ebenfalls in die Steinplatten eingemeißelt. Wir schweigen jetzt eine halbe Stunde und lassen uns von den Steinen anschreien, in welche die Namen jener Opfer der Euthanasie aus Mariaberg eingraviert sind. Wir schweigen, um uns zu besinnen, um dann gegenüber Unrecht und Gewalt nicht schweigen zu müssen.

(Nach dem Schweigen)

Es gibt unendlich viele Teufelskreise voller Gewalt und Unrecht und Entsetzen. Ich habe am heutigen 9. November an den 9. November 1938 erinnert. Es gibt aber an einem 9. November auch noch ein ganz anderes, sehr positives Ereignis in Deutschland, an das es sich zu erinnern lohnt. Am 9. November 1989 wurde aufgrund des gewaltlosen Protests in der DDR die Mauer in Berlin geöffnet. Damit fiel eine Grenze, die Deutschland mit Gewalt in zwei Teile geteilt hatte und es fiel der der eiserne Vorhang, der Europa teilte. Hunderttausende in Leipzig und Dresden und Berlin und in vielen anderen Städten haben damals mit ihren gewaltlosen Demonstrationen ein gewalttätiges Regime weggefegt. Dieses Ereignis zeigt uns, dass Teufelskreise überwindbar sind. Gewalt muss nicht immer das letzte Wort haben. Wenn Menschen mutig sind und der Gewalt widerstehen, dann können sie etwas bewegen.

Eine andere, bessere, gerechtere und zukunftsfähige Welt ist machbar. Das können wir nicht alleine machen. Nur wenn wir unsere eigenen Teufelskreise verlassen - unsere Teufelskreise, in denen wir uns um uns selber drehen, oder andere bekämpfen, oder andere alleine dastehen lassen, oder die Teufelskreise, in denen wir uns als Profiteure eines auf Gewalt aufbauenden Wirtschaftssystems befinden und stillschweigend mitmachen - nur wenn wir diese Teufelskreise verlassen und gemeinsam für eine bessere Welt kämpfen, dann wird es eine solche auch geben können. Eine Welt, in der ein gutes Leben für alle Menschen und unsere gesamte Mitwelt möglich ist. Vielen Dank fürs Mitmachen!

Veröffentlicht am

09. November 2003

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