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Verteidigungspolitische Richtlinien: Lizenz zum weltweiten Töten

Mit den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien wird die Bundeswehr zur geografisch unbegrenzt operierenden Interventionsarmee

Von Jügen Grässlin

Die von CDU-Verteidigungsminister Volker Rühe 1992 vorgelegten Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) wurden von den damaligen Oppositionsparteien SPD und GRÜNE vehement kritisiert. Zu Recht, denn auf der Basis der damaligen VPR konnte der Prozess der Umstrukturierung der Bundeswehr von einer Verteidigungs- zu einer Interventionsarmee eingeleitet werden. Mit den neuen VPR hat die Rot-Grüne-Bundesregierung im Mai 2003 das aggressivste Bundeswehrprogramm seit dem Zweiten Weltkrieg verabschiedet und damit Rühes Salamitaktik nahezu vollendet. Unter dem Deckmantel “humanitärer Interventionen” wird die weltweite Kriegsbeteiligung der Bundeswehr wieder zum Mittel der Politik.

1. Von der Verteidigungs- zur Interventionsarmee
- die Verteidigungspolitischen Richtlinien 1992

Die vom christdemokratischen Verteidigungsminister Volker Rühe im November 1992 erlassenen Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) standen unter dem Eindruck des Endes der Blockkonfrontation zwischen Warschauer Pakt und NATO. Rühe erkannte, dass “für Deutschland die existentielle Bedrohung des Kalten Krieges irreversibel überwunden” war. “Der bedrohliche Fall einer groß angelegten Aggression ist höchst unwahrscheinlich geworden”, hieß es in den damaligen VPR. Allerdings wachse “die Wahrscheinlichkeit weniger bedrohlicher Konflikte im erweiterten geographischen Umfeld”.(1)

Unverblümt definierte Rühe die “vitalen Sicherheitsinteressen”, zu denen auch wirtschaftliche - wie die “Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung” - zählten.(2) Um ein flexibles Eingreifen zu ermöglichen, musste die Bundeswehr von einer Verteidigungs- zu einer Interventionsarmee umstrukturiert werden. Fortan galt: “die Eignung der Streitkräfte zum Kriseneinsatz muss auf breiter Grundlage verbessert werden”. Hierzu sollten die zum Kampfeinsatz befähigten Krisenreaktionskräfte (KRK) aufgebaut werden, die sich an den “realen Bedingungen von Krieg, Gefahr und menschlichem Elend orientieren, unter denen Soldaten künftig ihren Dienst leisten wollen”.(3)

Der Umstrukturierungsprozess wurde unter dem Deckmantel “humanitärer Friedensmissionen” vollzogen. Im Widerspruch zum Grundgesetz gewöhnte Verteidigungsminister Rühe die damals überwiegend militärkritisch eingestellte Öffentlichkeit in Form einer schrittweise umzusetzenden “Salamitaktik” an Bundeswehreinsätze außerhalb des NATO-Territoriums heranzuführen.

Mit den rechtswidrigen Out-of-Area-Einsätzen im Persischen Golf (Minensuchverband “Südflanke”, 1991), in Kambodscha (UNTAC - “Engel von Phnom Penh”, 1991), im ehemaligen Jugoslawien (UNPROFOR - Luftbrücke Sarajewo, 1992 und Awacs-Luftüberwachung in Bosnien-Herzegowina, 1993), in Somalia (Hilfsgüter und Logistik, 1992 und UNOSOM II - Nachschub- und Transportbataillon in Belet Huen, 1993) schufen die liberal-konservative Bundesregierung und die Hardthöhe Sachzwänge als Vorbereitung für deren nachträgliche Legitimation durch das Bundesverfassungsgericht. Diese erfolgte im Nachhinein durch das umstrittene Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts am 12. Juli 1994.

In der ersten Hälfte der Neunziger Jahre kritisierten SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN vehement die voran schreitende Aushebelung des Grundgesetzartikels 87a, wonach der Bund “Streitkräfte zur Verteidigung” aufstellt. Rühe wusste um die zum damaligen Zeitpunkt klare öffentliche Ablehnung von Out-of-Area-Kampfeinsätzen der Bundeswehr. So galt es, die militärische Komponente herabzuspielen und zur “flexiblen Krisen- und Konfliktbewältigung im erweiterten geographischen Umfeld Friedensmissionen und humanitäre Einsätze” durchzuführen.

In den kommenden Jahren folgten die Bundeswehreinsätze in Bosnien (Tornados in Piacenca zur Informationsbeschaffung für NATO-Luftschläge, 1995), der gestaffelte IFOR-I-Einsatz im ehemaligen Jugoslawien (bei dem Volker Rühe seine Salamitaktik zielstrebig umsetzte und erstmals Kampftruppen der Bundeswehr in ein Krisengebiet out of area entsandte), der Kroatien-Einsatz (deutsches Kontingent für IFOR I und IFOR II, 1995 und 1996, letztlich auch Kampftruppen mit schwerer Bewaffnung).

Die CDU/CSU-FDP-Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl scheiterte nicht zuletzt ihrer aggressiven Außen- und Militärpolitik. Im September 1998 wurden SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN in die Regierungsverantwortung gewählt, auch weil sie ihren Wählern die nicht nur einen Macht-, sondern auch einen Politikwechsel versprochen hatte. In ihrem Wahlprogramm verkündeten die GRÜNEN, dass sie “die Umstrukturierung der Bundeswehr zu einer internationalen Interventionsarmee durch den Aufbau von Krisenreaktionskräften und Offensivwaffen wie den Eurofighter” ablehnen würden.(4) Unter dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder hieß die neue Devise “Außenpolitik ist Friedenspolitik” (Koalitionsvertrag). Es sollte alles anders kommen.

Mit der Zustimmung zum Kosovo-Kampfeinsatz der Bundesluftwaffe legitimierte der Deutsche Bundestag erstmals einen gleichermaßen grundgesetz- wie völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen einen souveränen Staat. Der gleichsam völkerrechtswidrige NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien (“Allied Forces”, 1999) zementierte das “Primat des Militärischen” und marginalisierte das “Primat des Zivilen” seitens der UNO. Erst im Nachhinein erfolgte eine Legitimierung seitens der Vereinten Nationen. Auch beim Einsatz der Bundeswehr in Kabul sind Anti-Terror-Bekämpfung und Hilfsleistungen untrennbar mit einander verbunden.

2. Geografisch unbegrenzte Interventionen im Namen der Humanität
- die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien 2003

2.1 Vollendung von Rühes Salami-Taktik

Die am 21. Mai 2003 vom sozialdemokratischen Bundesverteidigungsminister Peter Struck erlassenen neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien ersetzen die VPR von 1992.(5) Sie stellen “die verbindliche Grundlage die Arbeiten im Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung” dar.(6)

Dass neue Verteidigungspolitische Richtlinien vonnöten gewesen sind, ist unstrittig. Strittig allerdings ist ihre Ausrichtung. Noch 1998 forderten die GRÜNEN - damals noch von Dritte-Welt- und Friedensbewegung unterstützt - in ihrem Wahlprogramm: “Die Verteidigungspolitischen Richtlinien, die die weltweite Verteidigung so genannter ?nationaler Interessen’ vorsehen, sind sofort außer Kraft zu setzen.”(7)

Im ersten der acht Kapitel (I bis VIII) der neuen VPR definiert die Bundeswehrführung die heutige Sicherheitslage, die sich “grundlegend gewandelt” habe. “Neue sicherheitspolitische Risiken und Chancen verlangen veränderte Fähigkeiten”.(VPR I 1) Konsequent sollen sich “Auftrag, Aufgaben und Fähigkeiten der Bundeswehr an der zu erwartenden Sicherheitslage und den sicherheitspolitischen Verpflichtungen Deutschlands als NATO- und EU-Partner” orientieren.(VPR I 2)

Hatten SPD und Bündnisgrüne die Erweiterung des Bundeswehrauftrags Anfang der Neunziger Jahre noch strikt abgelehnt, so heißt es heute in den neuen VPR, diese entsprächen “dem weiten Verständnis von Verteidigung, das sich in den letzten Jahren herausgebildet” habe.(VPR I 4) In der Tradition Rühes umfasst Verteidigung - im Widerspruch zum Grundgesetzartikel 87a - “heute mehr als die herkömmliche Verteidigung an den Landesgrenzen”. Diese schließe “die Verhütung von Konflikten und Krisen, die gemeinsame Bewältigung von Krisen und die Krisennachsorge ein. Dementsprechend lässt sich die Verteidigung geografisch nicht mehr eingrenzen, sondern trägt zur Wahrung unserer Sicherheit bei, wo immer diese gefährdet ist.”(VPR I 5)

Die neuen VPR geben der Rot-Grünen-Bundesregierung freien Ermessungsspielraum, an jedem beliebigen Ort der Welt einen Kampfeinsatz der Bundeswehr durchführen zu lassen. Dabei sind die Entscheidungen der politisch Verantwortlichen uneinheitlich bis unlogisch: So dürfen deutsche Soldaten nach Kabul und ins Krisengebiet Kundus in Afghanistan sowie nach Entebbe in Uganda, jedoch (noch) nicht in den von US- und britischen Treppen besetzten Irak oder nach Bunia im Kongo. Offizielle Legitimation sind Hilfseinsätze verschiedenster Art, hinter denen sich offensichtlich zuweilen auch handfeste deutsche Sicherheits-, Militär- und Wirtschaftsinteressen verbergen. Doch wie unter Rühe werden auch heute sinnvoll klingende Einsatzgründe vorgeschoben: “Vorbeugung und Eindämmung von Krisen und Konflikten” sowie “Einsätze der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung”.(VPR II 10)

Einmal mehr wird in den neuen VPR festgeschrieben, dass “bewaffnete Einsätze der Bundeswehr mit Ausnahme von Evakuierungs- und Rettungsoperationen nur gemeinsam mit Verbündeten und Partnern im Rahmen von VN, NATO und EU stattfinden” werden.(VPR II 11). In der Realität hat die Rot-Grüne Bundesregierung bereits im Frühjahr 1999 bewiesen, dass sie im Falle eines Fallen auch ohne UN-Mandat völkerrechtswidrig auf militärische und zivile Einrichtungen schießen lässt: Tausende Menschen starben bei der Bombardierung serbischer Städte durch NATO-Truppen, darunter Bundeswehreinheiten.

Um auch in Zukunft “schnell und wirksam” eingreifen zu können, liegt der Schwerpunkt des Fähigkeitsprofils auf den verzahnten Fähigkeitskategorien Führungsfähigkeit, Nachrichtengewinnung und Aufklärung, Wirksamkeit im Einsatz, Unterstützung und Durchhaltefähigkeit sowie Überlebensfähigkeit und Schutz.(VPR II 15) Gegen den erklärten Willen der Bündnisgrünen hat Peter Struck auch die Wehrpflicht als “unabdingbar” in die neuen VPR aufgenommen, obwohl er genau weiß, dass diese definitiv ein Auslaufmodell darstellt.(VPR II 16)

2.2 Krieg gegen Terror als Alibi für Aufrüstung und weltweite Interventionen

Die menschenverachtenden Terroranschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington nutzen Verteidigungspolitiker und Militärs in aller Welt, um die Rüstungsspirale anzuziehen. Wo zuvor abgerüstet werden sollte, wird - wie der Einzelplan 14 in Deutschland - der Verteidigungshaushalt auf hohem Niveau verstetigt, in verschiedenen Staaten werden die Militärausgaben exorbitant gesteigert (USA, Russland etc.).

Statt dem internationalen Terrorismus den Nährboden zu entziehen, versäumt die Politik die Ursachen des Problems anzugehen (Hunger, Armut, ungerechte Weltwirtschaftsordnung etc.). Sie verweist in den neuen VPR darauf, dass “nachfolgende Terroranschläge das Bewusstsein für die asymmetrischen Gefährdungen geschärft” hätten. Diese könnten “jederzeit, an jedem Ort der Welt erfolgen und sich gegen jeden richten. Vornehmlich religiös motivierter Extremismus und Fanatismus, im Verbund mit der weltweiten Reichweite des internationalen Terrorismus bedrohen die Errungenschaften moderner Zivilisationen wie Freiheit und Menschenrechte, Offenheit, Toleranz und Vielfalt.”(VPR III 17 f.)

Zweifelsohne stellt der internationale Terrorismus eine der größten Bedrohung des Weltfriedens dar. Dabei hat gerade die so genannte “Allianz gegen Terror” ihrerseits Mittel im Anti-Terror-Krieg eingesetzt, die dem Anspruch einer humanitären und menschenrechtsachtenden Friedenspolitik in keiner Weise gerecht wird. An dieser Stelle sei insbesondere auf die US-geführten Kampfeinsätze in Afghanistan und dem Irak hingewiesen, die mit völkerrechtwidrigen Waffen (uranhaltige DU-Munition, Streubomben, Napalm etc.) geführt worden sind und sich auch gegen die Zivilbevölkerung gerichtet haben. Und Bundeskanzler Gerhard Schröder rollt bekanntlich den Roten Teppich aus, wenn hohe russische und chinesische Regierungsmitglieder Deutschland besuchen, die ihrerseits für Massaker in Tschetschenien oder Tibet verantwortlich zeichnen.

Unter größter Geheimhaltung haben Soldaten des Kommando Spezialkräfte (KSK) aus Calw US-Einheiten im Falle des Afghanistan-Kriegs im Anti-Terror-Krieg unterstützt. Und wenn sich die Bundeswehr (bisher) nicht militärisch an der Besetzung des Iraks beteiligt hat, so ging dieser Krieg auch von deutschem Boden aus (Genehmigung der Start- und Überflugsrechte für US-Einheiten, Steuerung durch die militärische US-Schaltzentrale EUCOM bei Stuttgart etc.). Der Erfolg der Kriegseinsätze ist einmal mehr ausgeblieben. Noch immer herrschen in Afghanistan außerhalb von Kabul Warlords und Drogenhändler, im Irak ist mittlerweile ein Guerillakrieg gegen die US-Amerikanischen und britischen Besatzer ausgebrochen.

Dort, wo sich Deutschland massiv und durchaus effektiv am Anti-Terror-Kampf beteiligen könnte, bleiben die neuen VPR vage formuliert. “Globale Nichtverbreitungsverträge und Rüstungsexportkontrollen sind zu verbessern”, heißt die bewusst unkonkret gehaltene Vorgabe.(VPR III 22) “Die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen in Verbindung mit weitreichenden Trägermitteln kann auch die Bevölkerung und die Länder Europas bedrohen.”(III 20).

Zweifelsohne stellt die Proliferation von ABC-Waffen ein ernst zu nehmendes Problem dar. Dieses ist jedoch nicht durch hochgerüstete Armeen lösbar, sondern durch eine strikte Kontrolle des Transfers, effektiver noch durch die vollständige Vernichtung der eigenen Kapazitäten. Die weltweit größte ABC-Militärmacht stellen die USA dar, die auch nach ihrer Intervention im Irak keine Massenvernichtungswaffen in dem Land gefunden und stattdessen eine Vielzahl von Kriegslügen verbreitet haben.

Bekanntermaßen zählt gerade die Bundesrepublik Deutschland - auch unter Rot-Grün - zu den weltweit führenden Rüstungsexporteuren. Im Bereich der Transfers und Lizenzvergaben von “Kleinwaffen” ist nach dem Regierungswechsel eine exorbitante Steigerung der Exportquantitäten feststellbar. Dabei ist bekannt, dass neun von zehn Toten auf den weltweiten Schlachtfeldern durch den Einsatz von “Kleinwaffen” zu beklagen sind. Gewehre und Maschinenpistolen der Oberndorfer Waffenschmiede zählten und zählen dabei zu den bevorzugten Waffen terroristischer Organisationen: von den Morden der Roten Armee Fraktion (RAF) über die von Terrororganisationen (in Peru, Palästina etc.) bin zur Ermordung des serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic im März 2003 setzten Terroristen H&K-Waffen ein.

Überhaupt werden an entscheidenden Stellen konkrete Aussagen bewusst vermieden und stattdessen wiederholt allgemeine Bedrohungsszenarien aufgezeigt, die allerdings durchaus Zündstoff in sich bergen. So sollen sich “ungelöste politische, ethische, religiöse, wirtschaftliche und gesellschaftliche Konflikte im Verbund mit dem internationalen Terrorismus, mit der international operierenden Organisierten Kriminalität und den zunehmenden Migrationsbewegungen unmittelbar auf die deutsche und europäische Sicherheit” auswirken.(III 25)

Zwar bleibt zu bezweifeln, dass Bundeswehreinheiten zukünftig gegen die ETA oder die IRA eingesetzt werden, was genau so wenig Erfolg versprechend wäre wie die bisherigen Militäreinsätze der Anti-Terror-Allianz. Der Hinweis auf zunehmende Migrationsbewegungen lenkt den Blick eher en passant auf ein zukünftiges Einsatzgebiet von europäischen oder NATO-Streitkräften: Die Festung Europa wird schon heute von einer Armada gesichert, die Nacht für Nacht an den östlichen Binnengrenzen (an der deutschen Ostgrenze durch den Bundesgrenzschutz) bis hin nach Gibraltar Flüchtlinge aufspürt und bestenfalls wieder abschiebt. Nicht selten sterben Migrantinnen und Migranten beim Versuch auf den europäischen Kontinent vorzudringen - was von den Medien weitgehend verschwiegen wird.

Hatte Volker Rühe noch die “Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt” als Aufgabe der Bundeswehr angesehen, so lautet die Formulierung bei Peter Struck nunmehr: “Die deutsche Wirtschaft ist aufgrund ihres hohen Außenhandelsvolumens und der damit verbundenen besonderen Abhängigkeit von empfindlichen Transportwegen und -mitteln zusätzlich verwundbar.”(III 27) Was das konkret heißt, lässt der Verteidigungsminister einmal mehr offen, auch wenn der Bundesmarine damit indirekt ein Auftrag im Falle - bisher nicht erfolgter und de facto nicht verhinderbarer - terroristischer Anschläge zukommt.

In den Passagen, in denen die neuen VPR konkret werden, drohen sie sich auch gleich wieder selbst zu persiflieren. So wird einerseits die Zusammenarbeit in der “breiten Koalition gegen den Terror” betont, andererseits bilde das “Völkerrecht und insbesondere die Charta der VN die Grundlage für das Handeln im Kampf gegen den Terror”.(VPR III 28)

Zweifelsohne kein leichter Spagat für einen Bundesminister der Verteidigung, der - wie sein Kanzler - nach dem Wohlwollen der einzig verbliebenen militärischen Supermacht USA strebt. Deren Präsident George W. Bush jedoch nutzt das gesamte Spektrum erfundener Kriegsgründe bis hin zu völkerrechtswidrigen Militärschlägen, um vitale US-Interessen militärisch umzusetzen und dabei zugleich die Vereinten Nationen zu brüskieren und zu marginalisieren. Allzu laute Kritik an der USA verbietet sich jedoch seitens Peter Struck oder Gerhard Schröder sowohl aus Loyalitätsgründen als aufgrund der eigenen Kriegsbeteiligung gegen Serbien ohne UN-Mandat.

Die Bundesregierung unter Gerhard Schröder, Peter Struck und Joschka Fischer hat Volker Rühes weitgehend Salamitaktik zu Ende geführt: Auf der Basis der neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien und im Einklang mit der neuen NATO-Strategie kommen hochprofessionelle Soldaten der Krisenreaktionskräfte und des Kommando Spezialkräfte als schlagkräftige Eingreiftruppe juristisch wie geografisch grenzenlos zum Einsatz. Der Wandel von defensiv orientierten Streitkräften zu “einer Armee im Einsatz” ist vollzogen.(VPR VIII 84)

2.3 Die Bundeswehr: zu groß, zu teuer und gefährlich

Die allgemeine Finanznot in Deutschland mit einem stetig wachsenden Schuldenberg hat die Streitkräfte nur marginal erfasst. Plant Finanzminister Hans Eichel auch beim Einzelplan 14 Kürzungen vorzunehmen, so werden von Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan bis hin zu Verteidigungsminister Peter Struck gezielt Szenarien an die Wand gemalt, die Truppe arbeite am Rand der Existenz.

Dabei wäre die drastische Reduzierung der Truppenstärke in einem ersten Schritt um 100.000 Mann die sinnvollste Lösung des Finanzproblems. Struck beklagt stattdessen in den VPR, dass “die strukturelle Neuausrichtung und die materielle Modernisierung aufgrund begrenzter Finanzmittel nicht in Übereinstimmung” seien. (VPR V 63) Zugleich unterschlägt er die Tatsache, dass mit dem Eurofighter und dem Transportflugzeug A400M derzeit die teuersten Waffensysteme in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beschafft werden - um nur zwei einer Vielzahl neuer Waffensysteme zu nennen.

Gefährlich sind nicht nur die außenpolitischen Machtphantasien im Bundesverteidigungsministerium. Die allerletzte Scheibe in Rühes Salamistrategie wartet noch in den Schubladen: Vereinzelt spielten SPD- und vor allem renommierte CDU-Politiker in jüngster Vergangenheit mit dem Gedanken, die Bundeswehr auch im Inneren einzusetzen. Die Gefahr besteht, dass Strucks neue VPR als Türöffner fungieren werden, Artikel 91 des Grundgesetzes auszuhebeln. Dieser gestattet den Einsatz der Bundeswehr im Inneren “zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitlich demokratische Grundordnung”.

Dabei ist es mehr als fraglich, ob die Truppe dazu taugt, der “gewachsenen Bedrohung des deutschen Hoheitsgebiets durch terroristische Angriffe” Herr zu werden (insofern diese Bedrohung tatsächlich in der beschriebenen Form bestehen sollte). Und aus demokratischer Sicht ist es ausgesprochen bedenklich, wenn Struck via VPR festschreibt, die Terrorbekämpfung und der Schutz der Bevölkerung würden “zusätzliche Anforderungen an die Bundeswehr bei der Aufgabenwahrnehmung im Inland und demzufolge an ihr Zusammenwirken mit den Innenbehörden des Bundes und der Länder” stellen.(VPR VI 75) Die Grenzen der Gewaltenteilung und der Aufgabenverteilung zwischen Militär und Polizeien werden zusehends verwischt.

3. Resümee - Friedenspolitische Richtlinien statt der Lizenz zum weltweiten Töten

3.1. Die neuen VPR: das aggressivste Bundeswehrprogramm nach dem Zweiten Weltkrieg

Die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien weisen weder den Weg zu - aus rein militärischer Sicht - sinnvollen Reformen, noch zeigen sie Perspektiven eines Erfolg versprechenden zivilen Konfliktlösungsmanagements auf. In der Not versucht sich Verteidigungsminister Struck in der Besitzstandswahrung bei gleichzeitigem Offenhalten aller Optionen. Fassen wir zusammen:

1. Die im Widerspruch zu Artikel 87a des Grundgesetz stehende Erweiterung des Einsatzgebietes einer zur Verteidigung des deutschen und NATO-Territoriums gegründeten Bundeswehr ist heute zu einer Lizenz zum weltweiten Töten umfunktioniert worden. Die Rot-Grüne Bundesregierung (und ihre Nachfolgeregierungen) können fortan geografisch ungebundene Militärinterventionen anordnen.

2. Das gebetsmühlenartige Wiederholen der Terrorgefahr soll die Notwendigkeit einer starken und optimal ausgerüsteten Truppe aufzeigen, die Schutz vor den Terroranschlägen gewähren könnte - was der Realität bisheriger Militäreinsätze diametral entgegensteht. Für Industriegesellschaften wie die Bundesrepublik Deutschland gibt es militärisch keinen hundertprozentigen Schutz. Anschläge auf Atomkraftwerke stellen dabei die größte, aber bei weitem nicht die einzige Existenzbedrohung dar.

3. Trotz der allgemeinen Finanznot und dem damit verbundenen massiven Sozialabbau bei gleichzeitiger Demontage des Gesundheitssystems erhebt der Bundesminister der Verteidigung den nicht im mindesten nachvollziehbaren Anspruch auf eine 280.000 Mann starke Truppe und die Beschaffung der teuersten Waffensysteme in der deutschen Geschichte. Er erliegt der Macht des militärisch-industriell-politischen Komplexes und macht sich zum Handlager einer profitorientierten Rüstungsindustrie.

4. Mit der bewussten Grenzverwischung zwischen Aufgaben der Polizei, des Bundesgrenzschutzes und der Bundeswehr wird der Einsatz deutscher Soldaten im Inneren vorbereitet.

Insgesamt betrachtet tragen die neuen VPR zur Gewalteskalation, zur Entdemokratisierung und zum Sozialabbau bei und stellen damit das aggressivste und gefährlichste Programm der Bundeswehr nach dem Zweiten Weltkrieg dar.

Viele derer, die der SPD oder den Bündnisgrünen ihre Stimme gaben, erwarteten nach dem Regierungswechsel einen Kurs ernst gemeinter Friedenspolitik und konkrete Schritte zur Abrüstung. Die Chance dazu bestünde bis zum heutigen Tage, was in den Verteidigungspolitischen Richtlinien erfreulich deutlich eingeräumt wird: “Das sicherheitspolitische Umfeld Deutschlands ist durch veränderte Risiken und neue Chancen gekennzeichnet. Eine Gefährdung deutschen Territoriums durch konventionelle Streitkräfte gibt es derzeit und auf absehbare Zeit nicht.”(VPR II 9) Konkret bedeutet dies, dass die Chance zu umfassender Abrüstung und Entmilitarisierung, zu Rüstungs- und Standortkonversion nie größer war als heute. Doch die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien weisen den Weg in die entgegensetzte Richtung.

3.2 Friedenspolitische Richtlinien als Ausweg aus der Sackgasse des Militärischen

Krieg muss als Mittel der Politik geächtet und das Völkerrecht als einziges legitimes Instrument zur Regelung zwischenstaatlicher Konflikte gestärkt und weiterentwickelt werden. Gewaltsame Konfliktaustragung muss durch aktive Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung ersetzt werden. Voraussetzung dafür ist die Beseitigung von Kriegsursachen und -folgen (Armut, Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung). Menschenrechte und Demokratie müssen weltweit mit den Mitteln der Gewaltfreiheit umgesetzt und verteidigt werden - so die berechtigten Forderungen der Kooperation für den Frieden, einem bundesweiten Verband reputierter Friedensorganisationen.
Einen optimalen Ansatzpunkt böten Friedenspolitische Richtlinien (FPR), die unter anderem folgende Schritte zur Abrüstung enthalten sollten:
* die verstetigte Senkung des Rüstungshaushaltes um mindestens fünf Prozent pro Jahr zur Finanzierung von Friedensinstitutionen (Friedensforschung und -politik) und Zivilen Friedensdiensten, der Waffenverschrottung sowie der deutlichen Aufstockung des Entwicklungshilfeetats und der zivilen Katastrophenhilfe;
* die Gründung eines Amtes für Abrüstung, Konversion und Zivile Friedensdienste zur Organisation des Friedensprozesses;
* die drastische Verkleinerung der Bundeswehr, beginnend mit der Auflösung der Militäreinheiten, die den Militärinterventionen dienen (KRK, KSK); die Umschulung der Soldaten, denn Auslandseinsätze der Bundeswehr sollten allenfalls sinnvollen Maßnahmen dienen, beispielsweise der Überwachung von Wahlen oder dem Minenräumen;
* der Entwicklungs- und Produktionsstopp neuer Großwaffensysteme und Verzicht auf die geplanten Beschaffung weiterer Lose offensiv orientierter Waffen;
* der Stopp aller Rüstungsexporte und Lizenzvergaben, um Scheindemokraten, Diktatoren und Terrorgruppen letztlich die Waffen zu entziehen;
* der Abzug aller Atomwaffen aus Deutschland;
* die Mitwirkung an der Schaffung einer gerechten Weltwirtschaftsordnung, die Menschen nicht länger dazu zwingt, ihre Heimat zu verlassen und u.a. nach Europa zu fliehen.

Derzeit beteiligt sich die Deutsche Friedensgesellschaft Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen im Rahmen der Kooperation für den Frieden an der Formulierung Friedenspolitischer Richtlinien.

Weitere Informationen unter:
Deutsche Friedensgesellschaft Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK)
Schwanenstraße 16, 42551 Velbert; Tel. 02051-955270
www.dfg-vk.de
www.schritte-zur-abruestung.de

RüstungsInformationsBüro (RIB e.V.)
Postfach 5261, 79019 RIB; Tel. 0761-76 78 088
ribfr@breisnet-online.de
www.rib-ev.de

Kooperation für den Frieden
c/o Aktionsgemeinschaft Dienst für Frieden e.V.
Blücherstraße 14, 53115 Bonn
Tel.: 0228/24 999-13, Fax: 0228/24 999-20
Email: gildemeister@friedensdienst.de
www.friedensdienst.de

Quellenangaben
(1) Verteidigungspolitische Richtlinien (VPR) vom 26.11.1992, VPR vom 26.11.1992, Punkt 18; zitiert nach: Grässlin, Jürgen: “Lizenz zum Töten. Wie die Bundeswehr zur internationalen Eingreiftruppe gemacht wird”. München, 1997, S. 362
(2) a.a.O., S. 361, VPR vom 26.11.1992, 1992 Punkt 8.(8)
(3) a.a.O., S. 363, VPR vom 26.11.1992, Punkt 48
(4) Bündnis 90/DIE GRÜNEN: Programm zur Bundestagswahl 98. Grün ist der Wechsel. Bonn 1998, S. 146
(5) Bundesministerium der Verteidigung (BMVg): Verteidigungspolitische Richtlinien, erlassen von Dr. Peter Struck, Bundesminister der Verteidigung; BMVg, Stauffenbergstraße 18, 10785 Berlin, Tel. 01888/24-8000, 21.05.2003
(6) VPR vom 21.05.2003, Punkt 8
(7) Bündnis 90/DIE GRÜNEN: Programm zur Bundestagswahl 98. a.a.O., S. 147

Jürgen Grässlin

Jürgen Grässlin ist Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK). Als Autor verfasste er mehrere Bücher über die Bundeswehr und die Rüstungsindustrie. Seine Managerbiografien über Jürgen E. Schrempp und Ferdinand Piëch wurden Bestseller und in mehrere Sprachen übersetzt. In seinem aktuellen Buch “Versteck dich, wenn sie schießen. Die wahre Geschichte von Samiira, Hayrettin und einem deutschen Gewehr” biografiert Grässlin Opfer deutscher Rüstungsexporte.

Anlage:
Jürgen Grässlin
Buchautor, j.graesslin@gmx.de

Kurzbiografie
Persönliches und Berufliches

Am 18. September 1957 in Lörrach geboren, 1960 Umzug nach Freiburg i. Br., Studium an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, seit 1982 im Schuldienst; verheiratet und Vater zweier Kinder.

Publikationen
Autor einer Vielzahl kritischer Sachbücher über Rüstungs-, Militär- und Wirtschaftspolitik
> Den Tod bringen Waffen aus Deutschland, 1994

> Daimler-Benz. Der Konzern und seine Republik, 1995

> Lizenz zum Töten. Wie die Bundeswehr zur internationalen Eingreiftruppe gemacht wird, 1997

> Jürgen E. Schrempp. Der Herr der Sterne, 1998
Das Buch ist 1999 in China, 2000 in den USA und Taiwan und im Sommer 2000 als völlig neu überarbeitetes Taschenbuch in Deutschland veröffentlicht worden. Im Dezember 2001 erschien die japanische Lizenzausgabe.

> Ferdinand Piëch. Techniker der Macht, 2000;
Aktualisierte Taschenbuchausgabe November 2001. Die Veröffentlichung der China-Ausgabe erfolgt im Spätherbst 2003

In den Jahren 2001 und 2002 Vor-Ort-Recherchen in Türkisch-Kurdistan und Somaliland zum neuen Buchprojekt “Versteck dich, wenn sie schießen. Die wahre Geschichte von Samiira, Hayrettin und einem deutschen Gewehr” über die Opfer der deutschen Rüstungsexportpolitik. Hierzu mehr als 220 Interviews mit Opfern und Tätern bei gewaltsamen Auseinandersetzungen in Bürgerkriegsgebieten. Das Buch erschien im Frühjahr 2003. Lesereise 2003-2004. Die Einnahmen der Lesereisen kommen dem zu gründenden Fonds für Kleinwaffenopfer zu Gute.

Mitgliedschaften und Funktionen
Sprecher Deutsches Aktionsnetz Kleinwaffen Stoppen (DAKS), Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG-VK), Sprecher der Kritischen AktionärInnen DaimlerChrysler (KADC) und Vorstandsmitglied RüstungsInformationsBüro (RIB e.V.);
weitere Mitgliedschaften: amnesty international (ai), attac, Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und Verkehrsclub Deutschland (VCD); parteilos.

Wir bedanken uns bei Jürgen Grässlin für das freundliche Überlassen dieses Artikels zur Veröffentlichung.

Veröffentlicht am

09. November 2003

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