Der Irak-Krieg ist nicht zu EndeVon Michael Schmid (erscheint auch in: Rundbrief Lebenshaus Schwäbische Alb vom Dezember 2003) Vor einem halben Jahr hat Präsident Bush den Krieg gegen Irak für gewonnen erklärt und sich als Sieger inszeniert. Weltweit wurde seither vom beendeten Krieg geredet. Inzwischen dämmert es mehr und mehr Menschen, dass der Krieg weitergeht. Die bewaffneten Attacken des Guerillakampfs zeugen davon, dass wir uns in einer neuen Phase des alten Krieges befinden. Ist die Zahl der Toten während der ersten Phase der anglo-amerikanischen Invasion wirklich so überschaubar gewesen, wie hier behauptet wird? Wer weiß denn, wie viele Tote es da bereits wirklich gegeben hat? Die US-Streitkräfte jedenfalls weigerten sich, Verantwortung für die Unschuldigen zu übernehmen, die sie getötet hatten. “Ãœber Tote führen wir nicht Buch”, verkündete General Tommy Franks. Und sollten sich die KriegsgegnerInnen hinsichtlich der befürchteten Zahl an Opfern wirklich im Irrtum befinden: umso besser. Jedes befürchtete Opfer, das nicht zu einem solchen geworden wäre, wäre ein Gewinn, zumindest für die Betroffenen. Es waren Befürchtungen, was durch die Invasion Fürchterliches geschehen kann. Täglich gibt es unzählige neue Opfer Und Bushs proklamiertes Kriegsende war nicht das Ende des Krieges. Tag für Tag verlieren Menschen im Irak als Resultat der Besatzung ihr Leben oder werden zu Opfern der Gewalt und der chaotischen Zustände. Die Zahl der amerikanischen Soldaten in Irak wird gerade mit 379 angegeben, zwei Drittel davon starben nach dem erklärten Kriegsende vor einem halben Jahr. Zudem gibt es aber ein Vielfaches an zivilen Opfern unter der irakischen Zivilbevölkerung. Zigtausende irakischer Zivilisten sind seither durch Gewehrfeuer und andere Formen der Gewalt umgekommen. Es ist dem britischen Journalisten und Nahostexperten Robert Fisk hoch anzurechnen, dass er genau deshalb immer wieder zu Recherchen und zur Berichterstattung in den Irak reist, weil diese zivilen Opfer im Gegensatz zu den getöteten amerikanischen Soldaten im Westen kaum Beachtung finden. In einem Life-Interview mit dem unabhängigen nordamerikanischen Sender “Democracy Now!” äußert sich Fisk am 18.9.03 direkt aus Bagdad ausführlich zum Thema Zivilopfer. Hier ein kleiner Ausschnitt (vollständig: “Interview - Nacht für Nacht ein Gemetzel am irakischen Volk” . (2) “Ich erzähle Ihnen von der Bagdader Leichenhalle, von der ich gerade komme. Kurz zuvor kamen dort 21 neue Opfer mit Schusswunden an. Mit fünf der betroffenen Familien habe ich gesprochen. Alle Opfer wurden erschossen, weil jemand ihr Auto stehlen wollte, oder sie wurden nächtens von Dieben ermordet oder von völlig Unbekannten getötet. Es gibt hier Waffen zuhauf. Jede Nacht hört man die Schießereien. Ganz Bagdad dröhnt vom Gewehrfeuer. In einer Leichenhalle, in der ich war, erzählte mir der Leichenwächter, fast 40% aller Toten, die in seine Leichenhalle kämen, seien an US-Checkpoints erschossen worden, von Soldaten. Entweder, ein Auto nähert sich dem Checkpoint zu schnell, oder amerikanische Soldaten geraten unter Feuer und feuern zurück - und treffen Zivilisten in der Nähe … Hier so ein Vorkommnis: Vor vier Tagen wurde eine Frau und ihr Kind tot ins Krankenhaus eingeliefert, US-Soldaten hatten sie erschossen. Sie hatten das Feuer auf Leute eröffnet, die anlässlich einer Hochzeitsfeier in die Luft schossen. Und solche Dinge passieren ständig. Vor rund sechs Wochen hatten wir auch so einen Fall - den ich persönlich untersuchte. Zwei Männer fahren zu nah an einen Checkpoint heran - kein normaler Checkpoint, nur ein Stück Stacheldraht über die Straße geworfen; es passierte in einem sehr armen Stadtteil Bagdads. Die Amerikaner eröffneten das Feuer auf den Wagen. In dem ausgebrannten Fahrzeug habe ich etwa 23 Einschusslöcher gezählt. Die Kugeln setzten das Benzin in Brand. Ich weiß nicht, ob die zwei Insassen, beides Männer, noch lebten (aber ich schätze), sie verbrannten bei lebendigem Leib. Jedenfalls verbrannten sie, bis sie tot waren. Ich schätze, einer oder beide haben noch gelebt, als das Auto in Flammen aufging. Als das Auto brannte - so Augenzeugen - hätten die Amerikaner einfach zusammengepackt und den Checkpoint geräumt. Später ging ich wieder in die Leichenhalle. Ich fand zwei Skelette mit verbranntem Fleisch vor. Ihre Ausweise waren längst im Feuer verbrannt. Das Auto selbst und das Autokennzeichen schmolzen in die Straße hinein. Also warteten in jener Nacht erneut zwei irakische Familien auf geliebte Menschen, die nie mehr heimkehren sollten. Es gibt Gewaltopfer, nicht alle natürlich von Amerikanern getötet, manche sind Opfer familiärer Rache, von schießenden Dieben, oder Leute versuchen Plünderer zu stoppen und kommen dabei eher zufällig ums Leben oder sie geraten ins Kreuzfeuer -, also demnach kommen wir auf eine Zahl von mindestens 1000 getöteten Irakern pro Woche. Immer mehr Irakis haben das Gefühl, die Amerikaner hätten gar kein Interesse, das Sicherheitsdefizit zu beheben. Sie würden zwar über Demokratie reden, die sie ihnen bringen wollen, aber sie interessieren sich einfach nicht wirklich für die Iraker. Und das ist genau das Krebsgeschwür, das sich momentan in diese Gesellschaft hineinfrisst.” Soweit der britische Journalist Robert Fisk. Protest gegen potentiellen “Sieger” überflüssig? Was jetzt im Irak passiert, zeigt nochmals auf sehr eindrückliche und auf für die Betroffenen äußerst leidvolle Weise, dass Krieg keine Lösung eines Problems bringt. Demokratie lässt sich nicht von außen herbeibomben. Aber nur eine demokratisch legitimierte Ordnung kann die Situation in Irak dauerhaft stabilisieren. Die Menschen im Irak brauchen eine Perspektive, zu der eine spürbare Verbesserung ihrer Lebenslage gehört sowie die schnellstmögliche Herstellung einer irakischen Souveränität. Nur so lässt sich auch der Terror bekämpfen. Darüber hinaus ist natürlich immer noch die Frage, welches Problem die Invasoren im Irak überhaupt lösen wollten. Und es spricht sehr viel dafür, dass es vor allem um die Wahrnehmung eigener amerikanischer wirtschaftlicher Interessen geht. Entsprechend sind die Wiederaufbaumaßnahmen im Irak in erster Linie darauf ausgerichtet, die Interessen der damit beauftragten US-Konzerne Haliburton und Bechtel zu befriedigen. Auf solche Zusammenhänge immer wieder hinzuweisen, muss Aufgabe der Antikriegs- bzw. Friedensbewegung bleiben. Auch wenn Menschen wie der oben bereits zitierte Kersten Knipp ganz im Schulterschluss mit dem “Sieger” gegen die weltweite Antikriegsbewegung höhnt, für diese sei “besonders peinlich: Die Mahner und Warner können noch nicht einmal behaupten, mit ihren Protestmärschen und Friedensdemos das Schlimmste verhindert, die Wucht der Kriegsmacht ausgebremst, die fürchterlichsten Exzesse im Vorfeld verhindert zu haben. Die Wirkung des Protests auf den Kriegsverlauf tendierte gegen null…” (3) Wäre es also besser gewesen, überhaupt nicht gegen die drohende und dann vollzogene Invasion der USA und deren “Willigen” zu protestieren? Protest nur dann, wenn die Chancen auf Erfolg von vornherein feststehen? Eine solche Haltung spricht doch sehr dafür, “sein Fähnchen in den Wind zu hängen” und den Mächtigen in Ruhe “sein Handwerk” machen zu lassen, weil er als Sachverständiger es ja schon richten wird! Der “Sieg” rechtfertigt schon die Mittel? Kriege erfordern langfristige Opfer unter amerikanischen Soldatinnen und Soldaten Knipp scheint zu meinen, die USA würden mit diesem Krieg schon durchkommen, weil im Gegensatz zu damals in Vietnam die Opferzahl bei den eigenen Soldaten gering ist. Natürlich stimmt es, dass anders als in Vietnam bis zum vermeintlichen Kriegsende auf dem Schlachtfeld “nur” ein paar hundert Soldaten starben. “Aber es geht nicht nur um die Toten der Schlacht”, schreibt der amerikanische Historiker Howard Zinn. “Wenn ein Krieg zu Ende geht, steigt die Opferzahl weiter - durch Krankheit, Traumata.” (4) So haben nach dem Vietnamkrieg die Veteranen von Geburtsfehlern in ihren Familien berichtet, die auf Agent Orange zurückzuführen waren, das in Vietnam versprüht wurde. Im Golfkrieg von 1991 starben auf dem Schlachtfeld “nur” ein paar hundert Amerikaner. Aber die “Veterans Administration” berichtete kürzlich, dass in den ersten 10 Jahren nach dem Krieg 8.000 Veteranen gestorben sind. Und Mediziner berichten von sich häufendem Gehirnschwund bei Soldaten aus dem Golfkrieg von 1991. Offensichtlich treten viele Veränderungen, die durch nukleare Munition oder sonstige “moderne” Waffen verursacht sind, erst nach zehn Jahren oder später auf. 200.000 der insgesamt 600.000 Golfkriegsveteranen haben Klage eingereicht, weil sie an Beschwerden und Krankheiten leiden, die auf den Einsatz von amerikanischen Waffen zurückgehen. Was den jetzigen Irak-Krieg anbelangt, so wird in der Öffentlichkeit über die Zahl getöteter amerikanischer Soldaten wenig beachtet, dass es eine vielfache Zahl an verwundeten US-Soldaten gibt. Die Betroffenen leiden aber an schweren Verletzungen. Dazu zählen körperliche und psychische Verletzungen, der Verlust von Körperteilen oder die Unfähigkeit alleine mit den Traumata zurecht zu kommen. Es bleibt abzuwarten, wie sich der Krieg weiter entwickeln wird. Ebenso werden sich die Folgen von abgereichertem Uran und anderen tödlichen Waffen für die jungen amerikanischen Frauen und Männer, die auf das Schlachtfeld geschickt wurden, erst später richtig zeigen. Es ist erst wenige Monate her, als die ersten 100 SARS-Erkrankungen ließen die Welt erbeben ließen. Wenn es aber weit mehr als 100 US-Soldaten gibt, die seit Kriegsbeginn an einer unerklärlichen Lungenerkrankung leiden, dann soll dies ein militärisches Geheimnis bleiben. Es soll nicht bekannt werden, dass zwei von drei Betroffenen künstlich beatmet werden müssen und jeder Zweite stirbt. Was den aktuellen Krieg im Irak anbelangt, bleibt abzuwarten, wie er sich weiter entwickeln wird. Ebenso werden sich die Folgen von abgereichertem Uran und anderen tödlichen Waffen für die jungen amerikanischen Frauen und Männer, die auf das Schlachtfeld geschickt wurden, erst später richtig zeigen. Entlarvte Lügen stärken Opposition Als während des Vietnamkrieges die Wahrheit mehr und mehr ans Licht kam, wurde die Opposition in den USA immer stärker, bis dieser Krieg in erster Linie zuhause, an der eigenen “Heimatfront” verloren ging. Und diese “Heimatfront” wird für die Bush-Regierung auch jetzt ein immer schwierigeres Unterfangen. Je länger der Krieg dauert und je offenkundiger die Lügen seiner Rechtfertigung ins Bewusstsein dringen, umso mehr Menschen werden sich in den USA gegen ihre Regierung wenden. Am 25. Oktober diesen Jahres demonstrierten rund 100.000 Menschen in Washington und 20.000 in San Francisco mit der Forderung, die Besatzung im Irak zu beenden. “Bringt unsere Truppen heim!” Und erstmals ergeben Meinungsumfragen eine Mehrheit von Amerikanern gegen Präsident Bushs Umgang mit dem Irak. Im Gegensatz zu Knipps Hohn über den vermeintlich wirkungslosen Protest meint amerikanische Historiker Howard Zinn: “Die USA können nicht ewig so weitermachen und jene 10 Millionen ignorieren, die am 15. Februar überall auf der Welt protestierten.” Regierungsmacht sei eine brüchige Angelegenheit - egal, welche Waffen und Finanzmittel zur Verfügung stehen. “Wenn eine Regierung ihre Legitimität in den Augen ihres Volkes verloren hat, sind ihre Tage gezählt. Wir müssen zu jeder Aktion greifen, die uns geeignet scheint. Keine Aktion ist zu kleindimensioniert oder zu kühn. Denn die Geschichte des sozialen Wandels war immer eine Geschichte der Millionen Aktionen - großer und kleiner. An einem bestimmten geschichtlichen Punkt fallen sie in eins und erzeugen eine Macht, die Regierungen nicht mehr zu unterdrücken vermögen.” (6) Denken wir an den Zusammenbruch von Europas östlichen diktatorischen Regimen durch gewaltlose Bewegungen. Lassen wir uns also nicht beirren und uns gemäß unseren Möglichkeiten kleine und - wenn möglich - auch größere Aktionen fortführen. Immer mit der notwendigen Geduld und in Bescheidenheit, weil wir durch unser eigenes Handeln nicht alles das bewirken können, was wir gerne möchten und für notwendig erachten. Im Bewusstsein, dass unser Protest - und sei er weltweit noch so mächtig - nicht zwangsläufig dazu führt, eine auf Hochtouren rollende Kriegsmaschinerie von ihrem grausamen und mörderischen Tun abzuhalten. Doch gerade weil kurzfristige Erfolge in diesen Fragen nur selten zu erringen sind, kommt es auch darauf an, das Engagement für Frieden und Gerechtigkeit so langfristig anzulegen, dass wirklich eine neue Welt möglich wird. Es gilt Strukturen zu überwinden, die sich der direkten oder indirekten Gewalt bedienen. Es gilt, sich für die dafür notwendigen tief greifenden Veränderungen einzusetzen, sie auch möglichst im eigenen Leben zu praktizieren. Anmerkungen: (2) Robert Fisk on Wesley Clark & Iraq: “What is Happening Is An Absolute Slaughter Every Night of Iraqi People”. Interview mit “Democracy Now!” vom 18.9.03 (dieses Interview ist auf der Website von “Democracy Now!” als Tondokument zu hören. Eine deutsche Ãœbersetzung findet sich auf der Website von Lebenshaus Schwäbische Alb e.V. . (3) Kersten Knipp, a.a.O. (4) Howard Zinn: An Occupied Country, ZNet vom 29.09.2003, deutsch: Ein besetztes Land, in: Website Lebenshaus Schwäbische Alb e.V. (5) Vgl. Jenny Eltermann: Die verheimlichte Seite des Irak-Krieges, in: Telepolis - Magazin für Netzkultur vom 30.09.2003. (6) Howard Zinn, a.a.O. Zu den Opfern des Irak-Krieges hat gerade am 11.11.2003 IPPNW den Bericht veröffentlicht, in dem ein internationales Wissenschaftlerteam in den vergangenen Monaten sämtliche zur Verfügung stehenden Informationen über die Gesundheits- und Umweltfolgen des Irakkrieges zusammengetragen und ausgewertet haben >> Gesundheitsstatus der Iraker verschlechtert sich - Zahl der Toten steigt weiter . Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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