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Der Sozialstaat in der Kritik

Von Christoph Butterwegge

Obwohl niemand bezweifelt, dass sich der Sozialstaat in einer tiefen Krise befindet, ist es falsch, von einer “Krise des Sozialstaates” zu sprechen, weil damit suggeriert wird, er sei Verursacher der Probleme beziehungsweise für gesellschaftliche Fehlentwicklungen verantwortlich. Tatsächlich leidet der Sozialstaat selbst unter der Krise des kapitalistischen Wirtschaftssystems, das schon seit Jahrzehnten weder ein ausreichendes Wachstum noch einen hohen Beschäftigungsstand zu gewährleisten vermag.

Als für die Probleme des Sozialstaates ursächlich werden in der öffentlichen Diskussion hauptsächlich vier Faktoren genannt:

Übertriebene Großzügigkeit. Der deutsche Wohlfahrtsstaat sei mit seinen Leistungen zu freigiebig, was ihn finanziell zunehmend überfordere und das Gegenteil dessen bewirke, was eigentlich intendiert sei.

Massenhafter Leistungsmissbrauch. Da wirksame Kontrolle fehle, lasse sich nicht verhindern, dass von Sozialleistungen auch gar nicht anspruchsberechtigte Menschen profitieren. Gemäß der “Logik des kalten Büfetts” bediene man sich, auch wenn man Hilfe nicht ernsthaft benötige.

Demografischer Wandel. Durch die sinkende Geburtenrate der Deutschen und die steigende Lebenserwartung aufgrund des medizinischen Fortschritts komme es zu einer “Vergreisung”, die das ökonomische Leistungspotenzial des Landes schwäche und die sozialen Sicherungssysteme (Renten-, Pflege- und Krankenversicherung) überfordere.

Globalisierungsprozess und Standortschwäche. Infolge der sich verschärfenden Weltmarktkonkurrenz müsse der kränkelnde Standort D “entschlackt” und der Sozialstaat “verschlankt” werden, wolle man die Konkurrenzfähigkeit und das erreichte Wohlstandsniveau halten. Der Wohlfahrtsstaat gilt seinen Kritikern als von der ökonomisch-technologischen Entwicklung überholt, Hemmschuh der Wirtschaft und größtes Investitionshindernis.

Diesen zumeist von Lobbyisten und neoliberalen Gegnern des Sozialstaates gezielt verbreiteten Missverständnissen oder Fehlurteilen ist der Reihe nach Folgendes zu erwidern:

Die empirische Wohlfahrtsstaatsforschung hat nachgewiesen, dass die Bundesrepublik - entgegen den hierzulande dominierenden Medienbildern wie dem davon geprägten Massenbewusstsein - keineswegs den “großzügigsten” europäischen Sozialstaat besitzt, sondern im Vergleich mit den übrigen 14 EU-Staaten seit der Weltwirtschaftskrise 1974/76 und vor allem seit dem Regierungswechsel Schmidt/Kohl im Herbst 1982 weit zurückgefallen ist und heute höchstens noch im unteren Mittelfeld (Platz 8 oder 9) rangiert. Die Sozialleistungsquote (Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt) ist heute mit 33 Prozent nicht höher als Mitte der 1970er Jahre, obwohl die Arbeitslosenquote seither stark gestiegen ist und die Lasten der deutschen Vereinigung hinzugekommen sind.

Auch der Missbrauch des Wohlfahrtsstaates durch nicht Anspruchsberechtigte hält sich trotz zahlreicher Berichte (vor allem der Boulevardpresse) über spektakuläre Einzelfälle und des Stammtischgeredes über “Sozialschmarotzer” in Grenzen. Alle seriösen Studien gelangen zu dem Schluss, dass es sich bei dem beklagten Leistungsmissbrauch weder um ein Massenphänomen handelt noch der Sozialstaat dadurch finanziell ausgezehrt wird. Diese lautstarken Klagen lenken vielmehr von einem extensiveren Missbrauch in den höheren Etagen der Gesellschaft (Einkommensteuererklärungen von Besserverdienenden und Kapitaleigentümern; Subventionsschwindel) ab.

Die demografischen Entwicklungsperspektiven werden in Öffentlichkeit und Medien zu einem wahren Schreckensszenario verdüstert. Doch es fehlen keine Babies, sondern BeitragszahlerInnen, die man etwa durch konsequente Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Erhöhung der Frauenerwerbsquote, Erleichterung der Zuwanderung oder Ausdehnung des Kreises der Versicherten auf Beamte und Selbständige gewinnen kann. Die Forderung nach Generationengerechtigkeit deutet soziale Ungerechtigkeiten, die innerhalb aller Generationen bestehen, in einen Verteilungskonflikt zwischen Alt und Jung um. Der politische Kampfbegriff “Generationengerechtigkeit” lenkt von einer hier wie in anderen Teilen der Welt dramatisch wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich ab.

Leistungskürzungen sind keine Sozialreform, sondern ein Rückfall ins vorletzte Jahrhundert, als die Gesellschaft wegen unzureichender Ressourcen ihre Mitglieder nicht vor allgemeinen Lebensrisiken zu schützen vermochte. Heute ist sie so reich wie nie und der Wohlfahrtsstaat für die Gesellschaft insgesamt und erst recht für sozial Benachteiligte unentbehrlich. Gerade die Bundesrepublik, deren exportorientierte Wirtschaft zu den Hauptgewinnern des Globalisierungsprozesses zählt, kann sich einen entwickelten Sozialstaat aufgrund ihres kontinuierlich wachsenden Wohlstandes, der allerdings immer ungleicher verteilt ist, nicht nur weiterhin leisten, sondern darf ihn auch nicht abbauen, wenn sie einerseits die Demokratie und den inneren Frieden bewahren sowie andererseits konkurrenzfähig bleiben will. Selbst im Rahmen der neoliberalen Standortlogik gibt es gute Gründe für eine - im Vergleich mit anderen, weniger erfolgreichen “Wirtschaftsstandorten” - expansive Sozialpolitik.

Professor Christoph Butterwegge ist Geschäftsführender Direktor des Seminars für Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln. Im Verlag Leske&Budrich liegen von ihm zu diesem Thema vor: “Wohlfahrtsstaat im Wandel. Probleme und Perspektiven der Sozialpolitik” und (gemeinsam mit Michael Klundt herausgegeben) “Kinderarmut und Generationengerechtigkeit. Familien- und Sozialpolitik im demografischen Wandel”.

Quelle: Ossietzky 2/2004

Veröffentlicht am

30. März 2004

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