Trabanten des KapitalsVon Oskar Negt ANGSTROHSTOFF - Der jüngste Angriff auf die LebenszeitDie Krisenbewältigungsfantasie treibt zur Zeit seltsame Blüten; jeden Tag eine neue, und sie muss, wenn sie öffentliches Interesse auf sich lenken will, einem originellen Einfall ihr Dasein verdanken. Manchmal kann der ernüchterte Zeitgenosse den Eindruck gewinnen, solche Lösungsvorschläge für widerständige Probleme unserer Arbeitsgesellschaft sind Resultat von Nachtgedanken, wie sie bei chronischer Schlaflosigkeit aufzutreten pflegen. Anders kann man wohl die aus dem Unternehmerlager aufgegriffene, (hier mit betriebswirtschaftlicher Einzelrechnung kalkulierte) Idee einer gesetzlich regulierten Verlängerung der Arbeitszeit für Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst nicht verstehen. Während andere europäische Länder durch Arbeitszeitverkürzungsprogramme der Massenarbeitslosigkeit Herr zu werden versuchen (in Frankreich beginnen jetzt Kampagnen für die 35-Stunden-Woche), marschiert Deutschland, offenbar von höchsten politischen Instanzen dazu ausdrücklich ermuntert, in umgekehrter Richtung. Das widerspricht jeder beschäftigungspolitischen und ökonomischen Vernunft; in Deutschland liegt die Arbeitszeit mit 36,1 Wochenstunden ohnehin über dem EU-Durchschnitt, der mit 35,5 in den 15 EU-Länder angegeben ist. Und es ist bemerkenswert, dass die Arbeitslosenquote dort am niedrigsten ist, wo die tatsächliche Wochenarbeitszeit darunter liegt, bei 33,7 Stunden pro Woche in Dänemark und 29,5 in Holland - also in Ländern, denen die Verteilungsgerechtigkeit im Zusammenhang marktbezogener Arbeitsplätze bereits zu einem strategischen Problem geworden ist. In unserem Land dagegen hat der betriebwirtschaftlich gesteuerte Privatisierungswahn jetzt auch im Hinblick auf die Arbeitszeit von den staatlichen Instanzen Besitz ergriffen. Die Signale, welche die öffentlichen Arbeitgeber setzen, werden die privaten als Enteignungschance sicherlich ausgiebig nutzen. Nach dem Kabinettsbeschluss, die Wochenarbeitszeit für Angestellte und Arbeiter des Landes Baden-Württemberg auf 41 Stunden zu erhöhen, ist der Ministerpräsident Erwin Teufel mit einer höchst originellen Begründung den Kritikern entgegengetreten: “Für gesunde Menschen spielt es keine Rolle, ob sie 38,5 oder 41 Stunden in der Woche arbeiten.” Das mag im individuellen Einzelfall ja durchaus zutreffen; diese Erklärung dokumentiert aber gleichzeitig eine bedrohliche Verkümmerung der gesellschaftspolitischen Dimension, in der sich der Kampf um eine menschenwürdige Balance zwischen Arbeitszeit und Lebenszeit abgespielt hat. Es ist deshalb notwendig, einige strategische Linien der Krisenlösungsversuche wieder ins Gedächtnis zu rufen, die heute verdrängt oder verleugnet werden. 105 Jahre ist es her, dass der 1. Mai gefeiert wird. Dem Heißhunger nach Mehrarbeit, dem Drang des Kapitals zur maßlosen Ausdehnung des Arbeitstages Barrieren und gesetzliche Schranken zu setzen, war der Sinn der erstmalig 1889 öffentlich proklamierten Forderung nach dem Acht-Stunden-Tag. Man sprach damals von einer Dreiteilung der Lebenszeit: acht Stunden Schlaf, acht Stunden Arbeit, acht Stunden tätige Ruhe, Menschsein. Das war ein entscheidender Impuls der Arbeiterbewegung, Schritt für Schritt klare Trennungslinien zwischen Arbeitstag und Lebenstag zu ziehen. Und es bezeichnet einen bedrohlichen Tatbestand, dass immer dann, wenn sich Kapitalmacht und Unternehmereinfluss von rechtlichen und moralischen Schranken befreit fühlen und gewerkschaftliche Gegenmacht nicht erkennbar ist, die gesamten Lebensverhältnisse wiederum in den Arbeitstag integriert werden. Es ist wieder so weit. Politiker und Unternehmer, die jetzt mit Lautstärke für Arbeitszeitverlängerung und Hinauszögern des Rentenalters trommeln, verschweigen bewusst die gesellschaftspolitischen und moralischen Dimensionen, die mit Arbeitszeitverkürzungen verknüpft waren. Sie unterschlagen zugleich eine Wirklichkeit, die es mit ganz anderen und viel strukturelleren Problemen dieser kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu tun hat. Die Kampagnen für eine 35-Stunden-Woche, die Anfang der achtziger Jahre von den Gewerkschaften angestoßen wurden, hatten einen umfassenden Reformanspruch, der über bloße Arbeitsmarktregelungen weit hinaus ging. Sie hatten auch symbolische Bedeutung für die Notwendigkeit einer schrittweisen Herstellung einer alternativen Wirtschaftspolitik, um dem Gedanken einer Wohlfahrts-Ökonomie, einer “Ökonomie des Ganzen Hauses”, wieder Geltung und Ansehen zu verschaffen. Vor allem ging es aber auch darum, in einer Gesellschaft, in der durch fortwährende Rationalisierung und Produktivitätserhöhung der Arbeit die Basis marktbezogener Arbeitsplätze schrumpft (weil immer mehr mit immer weniger Anwendung lebendiger Arbeitskraft produziert wird), eine Art Verteilungsgerechtigkeit auch in den Arbeitsplatzstrukturen herzustellen. Es sollte nicht mehr so sein, dass sich die Gesellschaft polarisiert in Arbeitsplatzbesitzer und die Masse derjenigen, die auf Dauer vom gesellschaftlichen Produktions- und Lebenszusammenhang abgekoppelt sind. Bei diesen gewaltigen Produktivitätsfortschritten sollte vermieden werden, dass die einen sich totarbeiten und die anderen sich zu Tode langweilen; auch mehr Generationengerechtigkeit war dabei mit im Spiel. Nach über 20 Jahren Kampf um Arbeitszeitverkürzung fällt die Bilanz durchaus zwiespältig aus. Gliedert man die Resultate nach Ost und West, so ergibt sich, dass 22 Prozent der in Westdeutschland Beschäftigten eine tariflich geregelte Arbeitszeit von 35 Stunden haben, im Osten 0,3 Prozent. 37,5 bis 38,5 Stunden arbeiten im Westen 48,1 und im Osten 29,8 Prozent. 39 und mehr Stunden arbeiten im Westen 17,4 der Beschäftigten, im Osten sind es 64,3 Prozent. Die deutlichen Unterschiede, auch zehn Jahre nach der Einheit, zeigen (die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 99), dass diejenigen, die Arbeit haben, offenbar bereit sind, aus Angst vor Arbeitsplatzverlust auf tarifliche Arbeitszeitverkürzung zu verzichten - ganz abgesehen davon, das viele aus eben dieser Angst freiwillig mehr Arbeit leisten, als tariflich festgelegt ist. Arbeitsverdichtungen und Formen der Selbstausbeutung haben im letzten Jahrzehnt gewaltig zugenommen. Spaltungen und Polarisierungen finden sich auch auf einer anderen Ebene. Nimmt man die 1,83 Milliarden bezahlter Überstunden, die 1998 geleistet wurden (rund 4 Prozent des gesamten deutschen Arbeitsvolumens), so könnte man damit 1,2 Millionen Arbeitsverhältnisse mit Normalarbeitszeit schaffen, - das ist natürlich zunächst rein rechnerisch gesehen. Mit Sicherheit können damit aber siebenhunderttausend Vollarbeitsplätze hergestellt werden. Auf Krisenlösungen zu setzen, welche die Arbeitszeit der Arbeitsplatzbesitzer verlängern, zementiert den bornierten Horizont betriebswirtschaftlicher Rationalisierung, in dem die eingesparten Kosten des einen Bereichs regelmäßig auf andere abgewälzt werden. Es ist ein exemplarischer Fall von politischer Fachidiotie, wenn einige meinen, durch Arbeitszeitverlängerung und Verschiebung des Renten-und Pensionsalters die Rentenkassen aufzufüllen. Selbst wenn das der Fall wäre, werden gleichzeitig die Kosten für Sozialhilfe und Arbeitslosenunterstützung erhöht. Der Bremer Ökonom und Sozialforscher Helmut Spitzley attackiert mit Recht diese betrügerische Kosten-Nutzen-Rechnung. Er sagt: “Die Forderungen nach Arbeitszeitverlängerung verstoßen fundamental gegen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, auch gegen die Generationengerechtigkeit. Oder ist es gesellschaftlich vernünftig, durch Abschaffung der Altersteilzeit den 60-jährigen Großvater zu zwingen, länger zu arbeiten, wenn gleichzeitig seine 40-jährige Tochter oder sein 20-jähriger Enkel arbeitslos ist?!” Eine gefährliche politische Scharlatanerie ist hier am Werk - in der Verkleidung von Realpolitik, die sich jedoch sehr leicht als Fiktion und reines Fantasieprodukt erweist. Arbeit ist nach wie vor ein zentrales Medium der Identitätsbildung, der Entwicklung von Selbstwertgefühlen und der Vergewisserung von sozialer Anerkennung. Das bedeutet kein Verschweigen und keine Verheimlichung der Kritik am Entfremdungszusammenhang zahlreicher Arbeitsprozesse. Aber alle Arbeitslosenstudien unterstreichen, dass die Trennung vom Arbeitsplatz, die nicht freiwillig erfolgt, als Gewaltakt empfunden wird, als Angriff auf die Integrität und Würde des Menschen. Umso schlimmer, wenn jetzt von staatlichen Instanzen Signale gesetzt werden, die Menschen rund um die Uhr in den Produktionsmechanismus einzugliedern. Wir leben nicht mehr in einer Mangel-Ökonomie, sondern in einer Gesellschaft mit erdrückendem Produktionsüberhang, der allerdings behaftet ist mit einem großen Mangel an Gemeinwesenarbeitsplätzen, die lebendige Arbeit auf das Wohl und Wehe des Ganzen der Gesellschaft, auf das Gemeinwesen richten. Es ist eben eine paradoxe Situation, dass wir uns Tag und Nacht mit Arbeitsproblemen beschäftigen müssen, obwohl unsere Gesellschaft so reich ist wie noch nie in ihrer Geschichte. Der gesellschaftliche Reichtum kehrt allerdings nur noch zu einem Teil in die Produktions- und Lebenszusammenhänge der Menschen zurück. Es ist skandalös, wenn große Konzerne praktisch keine Steuern mehr bezahlen, wenn Topmanager Jahresgehälter von zehn Millionen Euro beziehen, gleichzeitig in derselben Gesellschaft jedoch jedes fünfte Kind unter Armutsbedingungen aufwächst. Was mit Arbeitszeitverlängerungen und dem Zwang zum sozialdarwinistischen Überlebenskampf gesamtgesellschaftlich erzeugt wird, ist ein wachsender Angstrohstoff, der sich für Manipulationen auch im politischen Zusammenhang eignet. Dazu passt gut die Tendenz, das Menschenbild umzudefinieren. In diesen wirtschaftlichen Verengungen der menschlichen Daseinsweise entsteht ein allseitig verfügbares Lebewesen, dem die Betriebslaufzeiten der Produktion die Regeln seiner Lebenszeit vorgeben, ohne dass er noch über Rastplätze der Reflexion verfügen könnte, dieses Getriebe zu durchschauen. Das letzte Stadium dieser Umdefinition des Menschen würde darin bestehen, dass er als freudiger Trabant um die Sonne des Kapitals kreist; dass er durch Mechanismen der Selbstausbeutung zum willigen Anhängsel des Marktes geworden ist - und zum politischen Mitläufer. Dazu darf es nicht kommen! Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 21 vom 14.05.2004. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag. Veröffentlicht amArtikel ausdrucken |
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