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Bonhoeffer und Gandhi - Oder: Hätte sich der Hitlerismus gewaltfrei überwinden lassen?

Eine Rückbesinnung 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs

Von Theodor Ebert

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I. Teil: Gandhis Anfrage

Paraden statt Fragen

Als ich mich an die Niederschrift der heutigen Vorlesung 1 machte, kam mir der Gedanke: Es ist doch seltsam, du willst über die Möglichkeit und die Notwendigkeit einer Grundsatzentscheidung für die gewaltfreie Strategie sprechen und tust dies - dem Semesterplan folgend - nun gerade in den Tagen, in denen Deutschland und große Teile der Welt am 8. Mai der Kapitulation des Dritten Reiches als Tag der Befreiung von diesem Terrorregime gedenken werden. Sind deine Überlegungen zu einer gewaltfreien Strategie angesichts der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs nicht absurd, wo doch allem Anschein nach niemand daran zweifelt, dass etwas anderes als eine militärische Überwindung des Nationalsozialismus möglich war? Das Einzige, was zurzeit noch debattiert wird, ist doch nur die eine Frage, ob man dies angesichts der Begleitumstände tatsächlich als “Befreiung” bezeichnen sollte.

Indem wir unsere Blicke auf die Konzentrationslager richteten, haben wir die Sicht der daraus Befreiten übernommen - und dies war wohl das Beste, was wir Deutschen in dieser Situation machen konnten. Wir gaben den Opfern des Nationalsozialismus das Privileg, ihre Empfindungen und ihre Sprache zur Sprache der Nation zu machen. Das war gut und opportun zugleich.

Doch wenn man nun auf die ungeheuren Verluste blickt, welche diese militärische Befreiung mit sich gebracht hat, dann könnte man doch auch als Befreiter die Frage stellen: Hat es eigentlich keinen anderen Weg gegeben als diesen militärischen, den Hitlerismus zu besiegen? Diese Frage wird landauf - landab, auch weltweit nirgends gestellt. Die Sieger trampeln alle Fragen mit Militärparaden nieder und im Lande der Besiegten ist es unschicklich, eine solche Frage zu stellen; zumindest an offizieller Stelle wäre dies ein Skandal.

Selbst die Kirchen haben zum 8. Mai (fast) nichts anderes zu sagen als die Staatsmänner, die von Haus aus in militärischen Kategorien zu denken pflegen. Und dabei wäre es doch die genuine Aufgabe der Kirchen, im Rückgriff auf die biblische Erfahrung Grundsatzfragen zu stellen und das, was sie als ihre “Gute Nachricht” bezeichnen, für die Gegenwart auszulegen. Sie trauen sich nicht; sie kapitulieren vor der historischen Faktizität. Wer Befreiung sagt, macht die Befreier zu Exekutoren göttlichen Willens. Ist dies denn so? Wie müssten die Kirchen denn fragen? Doch interessiert uns dies als Politologen? Nun ja, nicht unbedingt, doch wirklich bewegende Fragen sind immer interessant, egal wer sie stellt. Martin Luther interessiert die Politologen noch heute, weil er gesellschaftlich bewegende Fragen stellte und gesellschaftlich bewegende Thesen formulierte. Doch was ist denn die Grundfrage der christlichen Kirchen?

Ein Student der säkularisierten Freien Universität wird so leicht nicht auf diese Grundfrage kommen, es sei denn, er hätte sich mit dem in Dahlem räumlich Nächstliegenden, nämlich mit Martin Niemöllers Lebensweg befasst, dem Widerpart und persönlichen Gefangenen Adolf Hitlers. Niemöllers Frage lautete in Entscheidungssituationen: Was würde der Herr Jesus dazu sagen? Und auch zum 8. Mai 1945 lautet die den Kirchen anvertraute Frage: Was würde denn unser Herr Jesus zum Zweiten Weltkrieg sagen? Doch diese Frage ist ihnen gar nicht in den Sinn gekommen. Was würde Jesus zu den Methoden sagen, mit denen Hitler und der Nationalsozialismus bekämpft wurden?

So zu fragen, klingt unglaublich naiv. Doch dies ist es, was den Christen ausmacht: In allen Lebenslagen fröhlich, ernsthaft oder auch sehr besorgt oder gar angstbesetzt zu fragen: “Was würde der Herr Jesus dazu sagen?” Dies war die Leitfrage, die sich Martin Niemöller immer wieder vorgelegt hat und die ihn Hitler widerstehen ließ und in seiner Kirche zum Vorbild gemacht hat. Vielleicht können und sollen wir heute nicht mehr so autoritär vom “Herrn” Jesus sprechen, aber die Frage gilt auch ohne diesen zeit- und charakterbedingten Zusatz. Und im Lichte dieser Frage und der Orientierung an Jesus ist zum Beispiel auch das politische und soziale Verhalten eines Albert Schweitzer oder einer Mutter Teresa oder eines Martin Luther King plausibel.

Diese Frage “Was würde Jesus dazu sagen bzw. an meiner Stelle tun?” ist auch für die Kirchen nicht immer leicht zu beantworten, weil man aus den wenigen normativen Aussagen und gleichnishaften Reden Jesu und aus den wenigen Berichten über sein Verhalten in Situationen der Provokation durch seine Gegner, wie sie uns nun mal die Gemeindetradition überliefert hat, konkrete Schlussfolgerungen ziehen muss. Doch wenn diese Frage gar nicht mehr mit ihrer naiven Direktheit gestellt wird, dann ist etwas faul mit den Kirchen, dann verlieren sie ihre Glaubwürdigkeit, verkommen ihre Pfarrer zu Zeremonienmeistern traditioneller Riten bzw. zu Managern pädagogischer und karitativer Dienstleistungen. Die Kirchenaustritte müssten den Kirchen eine heilsame Warnung sein. Die Menschen finden sie langweilig, sie kehren ihnen den Rücken und sie werden auch ihre Gottesdienste zum Kriegsende nicht besuchen, wenn sie damit rechnen, dort nichts anderes zu hören als in den Reden der Politiker, die im Fernsehen übertragen werden.

Tatsächlich ist diese Frage, ob man Hitler nicht anders bekämpfen könne, in der Vergangenheit gestellt worden. Das macht es uns leichter, sie heute wieder zu stellen. Wir müssen die Fragen nur wieder entdecken. Bevor ich im weiteren Verlauf dieser Vorlesung dann schließlich doch zu meiner Erörterung der Motive komme, die zu einer definitiven Entscheidung zugunsten einer gewaltfreien Strategie führen können, will ich diese Frage: “How to combat Hitlerism?” aufgreifen. Genau so hat sie Gandhi im Juni 1940 nach der Kapitulation Frankreichs gestellt.

Vielleicht kann ich aus der Erörterung dieser Frage dann auch die Legitimation ableiten, eine grundsätzliche Entscheidung für eine pazifistische, gewaltfreie Strategie zu fällen. Wer als Pazifist die militärische Befreiung ohne Rückfrage nach anderen Möglichkeiten begrüßen wollte, würde doch eine seltsame Figur abgeben. Dieses Problem des Pazifismus darf nicht verdrängt werden. Doch auf den ersten Blick scheint jedenfalls die historische Faktizität gegen die Legitimität meiner Suche nach Gründen für eine (uneingeschränkte) Grundsatzentscheidung zugunsten der gewaltfreien Aktion zu sprechen.

Gestern Abend ist ja etwas ganz Merkwürdiges passiert. Im 3. Programm des SFB hat Peggy Fuhrmann von 19.05 bis 19.30 Uhr über das Konzept des Zivilen Friedensdienstes berichtet und sie hat es von Pazifisten aus politologischer und psychologischer Sicht begründen lassen. Das klang alles so plausibel, dass man sich wundern konnte: Wie passt die Hoffnung auf die Realisierung dieses Konzepts in ein Land, in dem offiziell noch nicht einmal die Frage gestellt wird, ob der Faschismus und der japanische Imperialismus nur über 60 Millionen Leichen besiegt werden konnten. Gab es dazu wirklich keine Alternative?

Die Generation der Befreiten

Der Begriff der Befreiung passt zu den Gefühlen derjenigen, die aus den Konzentrationslagern kamen. Und auch meine Generation der im Dritten Reich geborenen Deutschen bekam - zumindest in der Bundesrepublik - die Chance, in Freiheit aufzuwachsen. Und auch in der DDR war man als junger Mensch trotz Stalinismus und dank des christlichen, des klassischen und des antifaschistischen Erbes und einiger nachwachsender Querdenker nicht alternativlos der herrschenden Ideologie und ihren Institutionen ausgeliefert. Bundeskanzler Helmut Kohl hat im Blick auf seine und meine Generation von der “Gnade der späten Geburt” gesprochen. Er nahm wohl an, dass unsere Generation samt und sonders unter den Nazis im Falle von deren militärischem Sieg als Herrenmenschen schuldig geworden wäre. Dieses Los sei uns gnädig erspart geblieben. Die Gefahr bestand.

Vielleicht wären Helmut Kohl und ich beide zu angepassten Hitlerjungen, zu üblen Nazis und letztlich zu ganz unglücklichen, verlorenen Menschen geworden. Doch offen gestanden, ich glaube das nicht. Ich kann diesen Gedanken nicht aushalten. Er würde meine Identität zerstören. Weil ich das weiß, und weil wir alle wissen, dass wir eine Identität haben, die mit den nihilistischen Wertvorstellungen des Nazismus nicht vereinbar ist, können wir nicht glauben, dass so etwas wie der Hitlerismus auf Dauer siegen kann. Das ist Existenzwissen. Und es war meines Erachtens die methodische Schwäche des französischen Existentialismus, dass er sein Wissen um die existentielle Notwendigkeit der Résistance, um die Philosophie de l’homme révolté, nicht potenziell auch auf die Deutschen übertrug, sondern aus diesen Individuen seelenlose NS-Typen machte.

Albert Camus hat während des Krieges literarisch-essayistisch versucht, “Briefe an einen deutschen Freund” zu schreiben, aber dieser Versuch ist im Sinne der Existenzphilosophie misslungen, weil er dem Deutschen nicht prinzipiell dieselbe existentielle Identität, die Fähigkeit zur Revolte, zubilligte wie sich selbst; er schrieb nicht an einen deutschen Freund, sondern an das Klischee eines feindlichen Nazi. Dieser angebliche deutsche Freund erhält an keiner Stelle einen persönlichen Zug; mehr noch, Camus nennt ihn nicht beim Namen, er vermag es nicht, ihm eine Identität zuzugestehen. 2

Als junge Generation von “Siegern”, als Nachwuchs-Nazis hätten ein Helmut Kohl und ich sicher ein sehr viel schwierigeres Leben gehabt, als es uns dann nach 1945 erwartete. Vielleicht würden wir heute auch gar nicht mehr leben, sondern wären umgekommen als Mittäter oder Opfer des NS-Regimes. Doch im existentiellen Sinne ist der springende Punkt: Wir bekamen durch den militärischen Erfolg unserer Befreier auch gar keine Chance, den Hitlerismus von innen zu überwinden; vielmehr verlangten die alliierten Sieger von uns, dass wir ihre Mittel der Befreiung billigten und uns als ihre Bündnispartner in Zukunft dieser Mittel selbst bedienten. Das war die Bedingung für die Aufnahme in die Gemeinschaft der Sieger bzw. in das aus ihrer Spaltung hervorgehende westliche und östliche Militärbündnis. Und das gilt immer noch, auch für die uns nachfolgenden Generationen, für die jetzt hier an der Freien Universität Studierenden.

Wider den historischen Fatalismus

Doch ich bin ein kategorischer Gegner der fatalistischen Geschichtsbetrachtung. Die “Vorsehung” mit rollendem R gehört zur Lingua Tertii Imperii, nicht zur Lingua Libertatis. Und was mich am Begriff der Befreiung so besonders stört, ist die fatalistische Konnotation. Man könnte statt Konnotation auch “Beigeschmack” sagen, aber die Küchensprache ist zu trivial für diese Vorgänge. Wenn wir von Befreiung sprechen, dann müssen wir auch der 60 Millionen Toten gedenken. Und in einem künftigen Atomkrieg könnten es noch viel mehr sein. Kann man angesichts all dieser Toten überhaupt noch von Befreiung sprechen? “The cause of liberty becomes a mockery, if the price to be paid is wholesale destruction of those who are to enjoy liberty.” (Das Ziel der Befreiung wird zu einem Hohn auf die Tatsachen, wenn der Preis, der für die Freiheit bezahlt werden muss, die massenhafte Vernichtung derjenigen ist, die sich der Freiheit erfreuen sollen.)

Das hat Gandhi am 18. Juni 1940 nach der Kapitulation Frankreichs geschrieben. Er hat sich zum damaligen Zeitpunkt dagegen ausgesprochen, Hitler auf dem Schlachtfeld zu besiegen, und hat sich überlegt, was aus der Welt würde, wenn Hitler seine Eroberungen durchführen könnte, ohne auf militärischen Widerstand zu stoßen. Er war der festen Überzeugung, dass das Dritte Reich keine tausend, wahrscheinlich nicht einmal 50 Jahre alt würde.

Mir war in Erinnerung gewesen, dass Gandhi nach dem Sieg der Allierten und insbesondere im Blick auf den Bombenkrieg gegen die Städte gesagt hatte, dass die Alliierten Hitler überhitlert hätten. Doch ich hatte dies in meiner Erinnerung für eine nachträgliche Einschätzung gehalten. Umso erstaunter war ich, als ich jetzt beim Nachlesen entdeckte, dass Gandhi dies als prognostische Einschätzung schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt ausgesprochen hatte. Ich schiebe jetzt diesen Artikel Gandhis in meiner eigenen Übersetzung in die Vorlesung als Denkanstoß ein. Der Artikel spricht weitgehend für sich selbst, aber einige kritische Bemerkungen möchte ich aus heutiger Sicht dann doch noch nachschicken. Es folgt nun als dokumentarischer Einschub meine vollständige Übersetzung von Gandhis Artikel “How to combat Hitlerism”, der am 6. Juni 1940 in Gandhis eigener Zeitschrift “Harijan” erschienen ist. 3


Mohandas K. Gandhi

Wie der Hitlerismus zu bekämpfen ist

Wie auch immer die Persönlichkeitsentwicklung Hitlers weiter verlaufen wird, wir wissen bereits, was wir unter Hitlerismus zu verstehen haben. Es handelt sich um nackte, rücksichtslose Gewaltanwendung, die exakt funktioniert und mit wissenschaftlicher Präzision ausgeübt wird, Es scheint von ihm eine unwiderstehliche Wirkung auszugehen. In den Anfangstagen der Satyagraha-Methode - damals sprach man noch von “passivem Widerstand” - veröffentlichte die Johannesburger Zeitung “The Star” eine Karikatur, welche die Unterschrift trug “Unwiderstehliche Kraft”. Die unwiderstehliche Kraft der Regierung wurde dargestellt als Dampfwalze und dieser gegenüber saß gemütlich und unbewegbar in einem Sessel ein Elefant. Dabei hatte “The Star” als Kontrahenten auf der einen Seite die überwältigend bewaffnete Regierung vor Augen und auf der anderen Seite eine Handvoll Inder, die überhaupt keine Waffen hatten und auch zur organisierten Gewaltanwendung ganz und gar unfähig waren, selbst wenn sie hätten zu ihr greifen wollen. Der Karikaturist hatte begriffen, worum es bei diesem Duell zwischen einer unwiderstehlichen und einer unbewegbaren Kraft ging. Es handelte sich allem Anschein nach um eine Patt-Situation. Doch wir wissen, wie es ausgegangen ist. Was der Karikaturist als unwiderstehlich dargestellt hatte, erwies sich als durchaus beeinflussbar durch die standhafte Kraft der Satyagraha-Methoden. Die Kraft der Satyagraha lag in der Bereitschaft zum Leiden ohne Vergeltung.

Was damals sich als wahr erwies, kann sich auch heute wieder als Wahrheit erweisen. Der Hitlerismus wird niemals besiegt werden durch einen ihn übertrumpfenden Gegenhitlerismus. Auf diese Weise kann nur ein hochgradig potenzierter Hitlerismus entstehen. Was sich jetzt vor unseren Augen abspielt, ist eine Demonstration der Vergeblichkeit von Gewaltanwendung und auch der Vergeblichkeit des Hitlerismus selbst. Lassen Sie mich erklären, was ich unter dem schließlichen Scheitern des Hitlerismus verstehe. Er hat kleinen Nationen ihre Freiheit geraubt. Er hat Frankreich gezwungen, um Frieden zu bitten. Vielleicht wird England zu dem Zeitpunkt, an dem dieser Artikel erscheint, bereits auf demselben Wege sein. Doch die Kapitulation Frankreichs ist bereits eine ausreichende Basis für meine Argumentation. Ich denke, dass die französischen Staatsmänner durch ihre Bereitschaft, zu kapitulieren und sich in das Unvermeidliche zu fügen, eine seltene Form des Mutes gezeigt haben. Sie haben sich geweigert, sich an einem sinnlosen gegenseitigen Abschlachten zu beteiligen. Es hätte keinen Sinn gehabt für Frankreich, aus diesem Konflikt als Sieger hervorzugehen, wenn dadurch die Wahrheit selbst verloren gegangen wäre. Die Sache der Freiheit wird zu einer Farce, wenn der Preis der für die Freiheit bezahlt werden muss, darin besteht, diejenigen, welche sich der Freiheit erfreuen sollen, in größtem Umfang zu vernichten. Dann wird der Kampf um die Freiheit zu einer ruhmlosen Befriedigung von Ehrgeiz. Die Tapferkeit des französischen Soldaten ist weltbekannt. Doch die Welt soll auch wissen, dass die größere Tapferkeit der französischen Staatsmänner darin bestanden hat, um Frieden nachzusuchen. Ich habe angenommen, dass die französischen Staatsmänner diesen Schritt auf völlig ehrenhafte Weise getan haben, wie sich dies für wahre Soldaten gehört. Laßt uns hoffen, dass Hitler keine demütigenden Forderungen stellen, sondern zeigen wird, dass er zwar ohne Gnade für den Sieg kämpfen kann, dass er aber zumindest beim Friedensschluss auch rücksichtsvoll verfahren kann.

Doch um nun den Faden des Argumentes aufzugreifen: Was wird Herr Hitler mit seinem Sieg anfangen können? Kann er eine solche Machtfülle überhaupt verdauen? Ganz persönlich wird er die Welt mit so leeren Händen verlassen wie sein gar nicht allzu ferner Vorfahr Alexander der Große. Er wird den Deutschen nicht das Vergnügen an einem mächtigen Weltreich hinterlassen, sondern die Last, dieses Weltreich, das unter seinem eigenen Gewicht zusammenzubrechen droht, aufrechtzuerhalten. Sie werden nicht in der Lage sein, all die eroberten Nationen in einem Zustand ständiger Unterwürfigkeit zu halten. Ich bezweifle, dass die Deutschen künftiger Generationen in unverbrüchlicher Bewunderung der Taten gedenken werden, für welche der Hitlerismus verantwortlich ist. Möglicherweise werden sie Herrn Hitler als ein Genie bewundern, als einen tapferen Mann, als einen vorzüglichen Organisator und dergleichen mehr. Doch ich hoffe, dass die künftigen Deutschen es auch lernen werden, sich ihre Helden etwas genauer anzusehen. Jedenfalls denke ich, dass eingesehen werden wird, dass all das Blut, das von Hitler vergossen worden war, nicht ein millionstel Millimeter zur moralischen Größe der Welt hinzugefügt hat.

Dagegen möge man sich einmal vorstellen, wie Europa heute aussehen würde, wenn die Tschechen, die Polen, die Norweger, die Franzosen und die Engländer alle zu Hitler gesagt hätten: Sie brauchen sich keine Mühe zu geben bei der wissenschaftlichen Vorbereitung auf die Zerstörung. Wir werden Ihren Gewaltmitteln gewaltfrei begegnen. Sie werden darum in der Lage sein, unsere gewaltlose Armee ohne Panzer, Schlachtschiffe und Flugzeuge zu zerstören. Man könnte dagegen einwenden, dass der einzige Unterschied zum gegenwärtigen Zustand dann sein würde, dass Herr Hitler ohne Gefecht errungen hätte, was er nun in einem blutigen Kampf erreicht hat. Genauso ist es. Die Geschichte Europas würde dann anders aussehen. Er hätte möglicherweise - aber eben doch nur möglicherweise - Europa unter anhaltendem gewaltfreiem Widerstand in Besitz genommen. Dann wäre von vornherein das geschehen, was nun auch geschieht, nachdem bereits eine unbeschreibliche Barbarei sich ausgebreitet hat. Im Falle von gewaltlosem Widerstand wären nur diejenigen getötet worden, welche sich darauf vorbereitet hatten, getötet zu werden. Wenn es nicht anders möglich gewesen wäre, hätten sie den Tod ertragen, ohne jemanden zu töten und ohne Haß gegen irgendjemanden zu empfinden. Ich wage zu behaupten, dass in diesem Falle Europa nicht bloß einige Millimeter, sondern mehrere Handbreit seiner moralischen Statur hinzugefügt hätte. Letzten Endes - davon bin ich überzeugt - wird es allein auf den moralischen Wert der Politik ankommen. Alles andere ist wertlose Schlacke.

Ich habe diese Zeilen für die europäischen Mächte geschrieben, doch sie richten sich auch an uns selbst. Wenn meine Argumentation hierzulande beherzigt wird, ist es dann nicht an der Zeit, dass wir uns für einen festen Glauben an die Gewaltlosigkeit der Starken aussprechen und dass wir es kundtun, dass wir unsere Freiheit nicht mit Waffengewalt, sondern mit der Kraft des gewaltlosen Widerstandes verteidigen wollen?

Sevagram, 18.6. 1940


Sind die Deutschen beim nächsten Krieg wieder mit dabei?

Dieser Artikel Gandhis ist weitgehend unbekannt. Er ist nirgends in deutscher Sprache erschienen, und die beiden Sammelbände “Non-Violence in Peace and War”, die Gandhis Stellungnahmen zum Kriegsgeschehen enthalten, sind meines Wissens auch nur in Indien veröffentlicht worden. Der historische Fatalismus beherrscht die Szene - mit möglicherweise fatalen Konsequenzen. Am 7. Mai ist im Feuilleton des Berliner “Tagesspiegel” ein mich zynisch anmutender Artikel erschienen, der vom Verfasser aber wahrscheinlich als intellektuelle Glanzleistung der Provokation oder auch der Einschüchterung empfunden wurde. Harald Martenstein besaß jedenfalls die Unverfrorenheit, die Frage nach einer Beteiligung Deutschlands am nächsten Krieg affirmativ zu beantworten. Das ist tatsächlich die Konsequenz der fatalistischen Geschichtsbetrachtung. Unter der Überschrift “Wann? Wo? Es wird einen nächsten Krieg geben, und Deutschland wird dabei sein” schreibt er Folgendes:

“Wer den 8. Mai für einen Tag der Befreiung hält, muss auch sagen: es gab Befreier. Die Befreier waren bewaffnet. Ohne sie hätte Hitler die missfallenden Menschensorten ausgerottet, und die heutigen Deutschen wären in einem geistigen Kellerloch aufgewachsen. Es ist nicht möglich, den 8. Mai 1945 für einen Tag der Befreiung zu halten, und gleichzeitig Pazifist zu sein. Heiner Geißler hatte recht, als er vor ein paar Jahren auf diesen Zusammenhang hinwies. Die deutsche Linke hat versucht, Antifaschismus und Pazifismus unter einen Hut zu bekommen, weil sie sich nach allen Seiten hin absichern möchte, und in jeder Lebenslage eine moralisch unanfechtbare Position zu finden versucht. Allen wohl, und niemand weh: das funktioniert nur in Traktaten, aber nicht im Leben.”

Hartenstein weist hier auf einen Widerspruch in linken pazifistischen Positionen hin, aber ich bezweifle, dass er sich mit den “Traktaten” eines Gandhi und der ihm nahe stehenden Pazifisten wirklich befasst hat. Die Argumentation der antifaschistischen Pazifisten mag Schwächen haben, aber nicht alle haben das Problem ignoriert, wie Martenstein forsch behauptet. Sein moralisches Dilemma ist, dass er einer der vielen ist, die zur Zeit dazu beitragen, die Nachkriegshemmungen der Deutschen gegenüber einer Beteiligung an Kriegshandlungen immer weiter abzubauen, bis wir dann wieder reif sind, uns an Kriegen zu beteiligen, d.h. aber faktisch zu Kriegsverbrechern zu werden, denn es gibt keine “gerechten” Kriege, es gibt faktisch nur verbrecherische Kriege.

Kriegsverbrechen sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel

Wer das bezweifelt und auf schöne Worte hörend an “humanitäre Interventionen” glaubt, dem sei die empirische Studie von David Mark Mantell “Familie und Aggression” 4 und die darin enthaltenen Interviews mit amerikanischen Green Berets in Vietnam zur Lektüre empfohlen. Diese Soldaten haben ohne jede Hemmung in einer sorgfältigen wissenschaftlichen Studie all diejenigen Typen von Kriegsverbrechen als persönlich begangen oder beobachtet zu Protokoll gegeben, um derentwillen jetzt am Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien Beteiligte vor ein Kriegsverbrechertribunal gestellt werden sollen. Diese von einem Amerikaner in Deutschland nach ihrer Rückkehr aus Vietnam Befragten berichten vom Foltern und Erschießen von Gefangenen, von Vergewaltigungen und Verstümmelungen, dem Ausradieren ganzer Dörfer mit Alten, Frauen und Kindern. Das ist die Realität, und Martenstein teilt uns per Feuilleton, also in wohlklingenden Worten verpackt mit: Wir werden demnächst wieder dabei sein.

Es gibt sicher keinen bequemen Ausweg. Traktate mit pazifistischen Argumenten und auch die individuelle Kriegsdienstverweigerung genügen gewisslich nicht. Der politische Preis des Aufbaus eines Zivilen Friedensdienstes und der damit verbundenen Einsätze muss bezahlt werden. Doch diese Vorstellung stand eben hinter Gandhis Behauptung, dass der Hitlerismus nicht militärisch besiegt werden müsse, sondern im Laufe der Zeit gewaltfrei überwunden werden könne.

Das ist aber kein Patentrezept. Auch im Rahmen dieser Strategie der gewaltfreien Aktion kann man schwere Fehler machen. Mich hat Gandhis Artikel nicht in jeder Hinsicht überzeugt. Beim Übersetzen sind mir insbesondere zwei Schwachstellen seiner Argumentation aufgefallen.

Zum einen meint Gandhi, dass im Falle von gewaltlosem Widerstand gegen den Hitlerismus nur diejenigen getötet worden wären, die sich auf dieses Risiko als Satyagrahis vorbereitet hätten. Da müssen wir heute den deutschen Rassisten schon Schlimmeres unterstellen. Man muss wie Martenstein annehmen, dass sie versucht hätten, “missfallende Menschensorten” auszurotten.

Der Krieg als Rahmenbedingung des Völkermords

Ich bezweifle nur, dass dies ohne den Vorhang des Krieges in der massenhaften Dimension des Völkermords möglich gewesen wäre. Vielleicht hat Gandhi dies gemeint, aber wahrscheinlich hat er sich eine rassistische Ausrottungspolitik nicht vorstellen können. Aber man muss doch auch fragen dürfen, ob die Deportation und systematische Vernichtung von Millionen Menschen in Konzentrationslagern ohne die Rahmenbedingung kriegerischer Kampfhandlungen, die von den Nationalsozialisten als existentielle Bedrohung interpretiert wurden, wahrscheinlich gewesen wäre und ob die “Endlösung der Judenfrage”, die in der Ideologie Hitlers nachweisbar angelegt war, ohne Rückgriff auf das Interpretationsmuster der Abwehr einer existentiellen Bedrohung hätten durchgeführt werden können - ohne systemimmanenten Widerstand zu provozieren. 5 Zumindest steht fest, dass das praktische Konzept der “Endlösung” erst während des Krieges entstanden ist.

Zum anderen hielt Gandhi es auch für möglich, dass Hitler sich in Frankreich als großmütiger Sieger erweisen könnte. Das Unterstellen einer solchen Charaktereigenschaft bei einem Mann wie Hitler und bei laufenden Kampfhandlungen - die Gandhi allerdings sofort beendet sehen wollte, auch um den Preis einer völligen Kapitulation der Kriegsgegner Hitlers - kommt einem Deutschen im Rückblick unangemessen vor. Man könnte annehmen, dass sich Gandhi hier der Sprache der Diplomatie bediente, aber sie passt nicht zu seiner Charakteristik des Hitlerismus in den ersten Sätzen des Artikels. Ich lese aus dieser seltsamen Bemerkung eher heraus, dass er - wie dies der ganze Artikel tut - sich vorzustellen suchte, was es psychologisch für die Sieger bedeutet hätte, wenn sie noch vor dem Angriff auf die Sowjetunion, den Gandhi im Juni 1940 noch nicht ahnen konnte, einen totalen Sieg errungen hätten.

Nun muss man an dieser Stelle auch Gandhis spezifische Interessenlage bedenken. Er lebte ja im englischen Kolonialreich und versuchte sich aus dessen Fesseln zu lösen. Seine Sympathie gehörte trotz allem den Engländern. Doch diese komplexe Interessenlage hier zu erörtern, würde zu weit führen. Ich habe diesen Artikel Gandhis aus dem Jahre 1940 hier eingeführt, weil er stellvertretend für die europäischen Pazifisten die spannende Frage stellte, ob man den Kampf mit dem Hitlerismus nicht auch mit anderen Mitteln hätte bestehen und dadurch Europa ein nicht-militärische Gesicht hätte geben können.

Es war vermutlich Gandhis Befürchtung, dass nach dem militärischen Sieg über den Hitlerismus eines Tages ein Harald Martenstein kommen und als Banalität des Normalen statuieren könnte: “Es wird einen nächsten Krieg geben, und Deutschland wird dabei sein.”

II. Teil: Bonhoeffers Anfrage

Die Strategie der Nachfolge und des Kreuzes

Ich will mich jedoch bei der Rückfrage nach Alternativen zur militärischen Befreiung nicht allein auf Gandhi berufen, sondern auf einen Deutschen, der von Anfang an gegen Hitler in Opposition stand, bereits 1934 den Zweiten Weltkrieg kommen sah und damals fragte, ob es keine Alternative gäbe zum militärischen Kampf gegen den Nationalsozialismus. Ich bin auf diese Anfrage Dietrich Bonhoeffers erst Anfang der 80er Jahre gestoßen, als die Weltchristenheit sich bemühte, einen konziliaren Prozess in Richtung auf Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung in Gang zu bringen. Der Schlüsseltext für die Forderung nach einem Konzil war eine Andacht Dietrich Bonhoeffers anlässlich einer ökumenischen Versammlung auf der Insel Fanö.

Bonhoeffer sagte am 28. August 1934, die Weltchristenheit müsse an alle Völker das frohmachende Wort vom Frieden richten, - frohmachend, “weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet…” Da könnte man ja nun sagen: Das sind so die Sprüche, die man von den Kirchen kennt, die auf Kirchentagen schön klingen, aber im Ernstfall keine praktischen Konsequenzen haben. Wenn man jedoch den Bonhoefferschen Basistext genau liest, stößt man auf eine interessante Frage, der nachzugehen sich lohnt.

Ich bitte um etwas Nachsicht bei denjenigen, die mit Kirche nicht mehr viel am Hut haben, wenn ich hier einen kirchlichen Text auslege, aber er scheint mir eine für das Jahr 1934 außerordentlich aufregende politologische Fragestellung zu enthalten.

Bonhoeffer macht zunächst auf biblischer Basis eine dogmatische Aussage und stellt dann - selbstkritisch - seine Frage. “Kämpfe werden nicht mit Waffen gewonnen, sondern mit Gott. Sie werden auch dort noch gewonnen, wo der Weg ans Kreuz führt.” Dieser doppelte dogmatische Vorsatz ist ein Kondensat des Alten Testaments und des Neuen Testaments. Im Alten Testament wird die ausschlaggebende Bedeutung des Vertrauens auf Gott betont. Ich zitiere den Propheten Hosea, der den Israeliten folgendes Gebet empfiehlt: “Wir suchen nicht mehr Hilfe bei den Assyrern, wir vertrauen nicht mehr auf unsere Pferde und Streitwagen, wir wollen nicht mehr das Machwerk unserer Hände als unseren Gott anrufen! Denn du hast Erbarmen mit dem, der keinen Beschützer hat.” Das war 1983 das Motto der Friedenswoche in dem schutzmachtbesessenen Berlin. Und zu Bonhoeffers Theologie der “Nachfolge” gehört, dass im äußersten Falle auch das, was als brutale Unterdrückung eines Volkes beginnt, nicht zur endgültigen Niederlage werden muss, sondern sich in einen Sieg der zunächst Unterdrückten verwandeln kann.

Das sind vorerst dogmatische, also wegweisende Aussagen. Doch solcher Glaube muss nun jeweils gelebt, im politischen Alltag umgesetzt werden. Und im Blick auf dieses Problem der operativen Umsetzung des Glaubens stellt nun Bonhoeffer eine aufregende Frage: “Wer von uns darf denn sagen, dass er wüsste, was es für die Welt bedeuten könnte, wenn ein Volk - statt mit der Waffe in der Hand - betend und wehrlos und darum gerade bewaffnet mit der allein guten Wehr und Waffe den Angreifer empfinge?” Er gibt auf diese Frage in Fanö keine Antwort. Er hat diese Frages 1934 auch noch nicht beantworten können. Er nimmt sich damals erst vor, nach einer Antwort zu suchen. Er plant eine Reise zu Gandhi nach Indien, um vor Ort die Wirksamkeit gewaltfreier Kampftechniken zu studieren.

Auf der Suche nach einer Antwort

Bonhoeffer kam nicht mehr dazu, diese Frage zu beantworten, weil er die Indienreise aufgegeben hat zugunsten der Ausbildung von Vikaren der Bekennenden Kirche im Predigerseminar in Finkenwalde. Ich möchte aber an seiner Frage festhalten, weil es wichtiger ist, am Vermächtnis der unerledigten Fragen Bonhoeffers zu arbeiten, als ihn durch Sondermarken der Bundespost und allerlei Feiern zum Heiligen zu stilisieren.

Wenn Studenten im Blick auf das Abfassen von Seminararbeiten, Diplomarbeiten und Dissertationen von mir wissen wollen, worauf ich denn achte, wenn ich herauszufinden suche, ob es sich möglicherweise um eine wertvolle wissenschaftliche Arbeit handle, nenne ich ihnen als erstes Kriterium: Stellt der Verfasser eine interessante Frage, auf die es noch keine oder eine möglicherweise unzulängliche Antwort gibt?

Kann man die Frage Bonhoeffers denn beantworten? Was wäre, wenn ein Volk oder mehrere Völker einseitig abrüsteten und sich nun im Falle einer Aggression nicht passiv verhielten, sondern betend den Angreifer empfangen würden? Was heißt hier “beten”? Was heißt hier “empfangen”? Das sind auch spannende Fragen, die sich aber primär an Glaubensgemeinschaften richten, und die ich jetzt hier als Politologe nicht einfach beantworten kann. Es wäre jedenfalls zu einfach, wenn ich jetzt nur sagen würde, “beten” und “empfangen” sind identisch mit “gewaltfreien Widerstand leisten”, obwohl dies durchaus eine Antwort sein kann auf die Frage der Betenden “Was sollen wir tun”?

Die christliche Ethik muss solche Fragen bearbeiten - und zwar allen Ernstes. Wenn sie dies tut, wird sie möglicherweise für ihre Antworten wenig Verständnis finden, vielleicht sogar Spott ernten. Zur Illustration solchen Unverständnisses zitiere ich den vielseitigen baden-württembergischen CDU-Politiker Mayer-Vorfelder, den die meisten Berliner wahrscheinlich nur als Vorsitzenden des Fußballvereins VfB-Stuttgart kennen werden, von dem aber hier vermerkt werden muss, dass er sich zum Zeitpunkt des zitierten Vorfalls gerade als Kultusminister betätigte. Anfang November 1983 sprach er auf einer wehrpolitischen Tagung der CDU in Fellbach bei Stuttgart und mit dem ihm eigenen Sprachgefühl eines christlichen Kulturpolitikers wies er zunächst darauf hin, dass laut Bundesverfassungsgericht sich “jeder zur Bundeswehr zu bekennen” habe.

Wer so formuliert und wer das beklatscht, hat keine Ahnung, was für Christen eine Bekenntnisfrage ist. Ein Bekenntnis zur Bundeswehr zu verlangen, wäre aus der Sicht der Barmer Erklärung von 1934 geradezu verwerflich. Und damit nicht genug. Jetzt folgt die Verhöhnung derjenigen, welche ihr Bekenntnis zu Jesus Christus ernst nehmen. In der Presse stand zu lesen: “Unter dem Gelächter der Zuhörer berichtete Mayer-Vorfelder von einem Pfarrer und Anhänger der sogenannten ‘Sozialen Verteidigung’, der ihm erklärt habe, nach einer sowjetischen Invasion würde er den zuständigen Offizier zu sich nach Hause einladen und ihn davon überzeugen, dass er sich zu Unrecht in Deutschland aufhalte.”

Als die Tschechoslowaken 1968 auf den Straßen Prags offensiv mit den russischen Offizieren diskutierten, fanden dies auch CDU-Politiker gar nicht so lächerlich. Und es war wohl auch nicht so wirkungslos, wie die von ihrem Kultusminister amüsierten CDU-Mitglieder wohl annahmen. Die sowjetische Führung hat 1980/81 in Polen nicht den Fehler von Prag wiederholt. Und es gibt eben nicht nur historische Beispiele für Unterdrückung und Widerstand, sondern auch sehr lehrreiche Beispiele für anhaltenden gewaltlosen Widerstand, der auf kürzere oder längere Sicht dann doch zum Erfolg führte. Ich möchte jetzt aber nicht über den Ruhrkampf von 1923 und die dänischen und norwegischen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg sprechen, sondern will zunächst einmal verfolgen, wie Bonhoeffer mit seiner eigenen Frage umgegangen ist.

Er sah wahrscheinlich in Gandhis Satyagraha-Strategie des gewaltfreien Widerstandes eine mögliche Antwort. Dies können wir daran erkennen, dass er über Jahre ziemlich hartnäckig den Plan verfolgte, “ein halbes Jahre oder länger” mit Gandhi zusammenzuarbeiten. Wir wissen dies aus Briefen an seinen Bruder Karl-Friedrich und an seine Großmutter, wie sie in Eberhard Bethges großer Bonhoeffer-Biographie zitiert werden. Dieses Interesse Bonhoeffers an der Gandhischen Verbindung von Spiritualität und politischem Widerstand ist auch in den oppositionellen kirchlichen Kreisen des nationalsozialistischen Deutschland nicht verstanden worden. Man hat sich Bonhoeffers Indienplan nur als verrückte Kuriosität weitererzählt. Karl Barth schrieb im Oktober 1936 an Bonhoeffer, dass das einzige, was er lange Zeit von ihm gewusst habe, die “seltsame Nachricht” gewesen sei, er beabsichtige nach Indien zu gehen, “um sich dort bei Gandhi oder einem anderen dortigen Gottesfreund irgendeine geistige Technik anzueignen”.

Gandhi hatte Bonhoeffer tatsächlich eingeladen, ihn zu begleiten, aber es kam nicht mehr zu dieser Reise, weil Bonhoeffer dann - wie gesagt - die Leitung des Predigerseminars in Finkenwalde übernahm.

Hätte die Zusammenarbeit mit Gandhi Bonhoeffer befähigt, die in Fanö aufgeworfene Frage zu beantworten? Es ist faszinierend, sich diese Männer im Dialog vorzustellen, den phantasievollen indischen Widerstandspraktiker und Massenorganisator einerseits und den deutschen Kenner des Nationalsozialismus und der Bekennenden Kirche andererseits. Martin Buber hat mit einigem Recht Gandhi vorgeworfen, dass er die Möglichkeiten eines jüdischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus falsch einschätze. Tatsächlich hatte Gandhi in seiner näheren Umgebung keinen Kenner dieses totalitären Systems. Bonhoeffer hätte über diese Kenntnisse in hervorragendem Maße verfügt, und so hätten sich aus den Gesprächen realistische Strategien sowohl für den Widerstand in Deutschland wie aber auch für den Widerstand in eventuell von Deutschland angegriffenen Ländern ergeben können.

Bonhoeffer ahnte 1934 wahrscheinlich bereits, dass es zu einem Zweiten Weltkrieg kommen würde, und dass dann Völker vor der Frage stehen würden, wie sie dem Angreifer begegnen sollten. Im Zweiten Weltkrieg wurde auf den deutschen Angriff fast überall militärisch geantwortet. Darum wissen wir nicht, wie die Nationalsozialisten auf die von Bonhoeffer erwogene Art des Empfangs reagiert hätten.

Die Bedeutung des “Zurückschießens” und des Daseinskampfes für das nazistische Selbstverständnis

Man muss jedoch bedenken, dass Hitler zur Legitimation seines Angriffs auf Polen den angeblichen Überfall auf den Sender Gleiwitz und zwei weitere Zwischenfälle von deutschen SS-Leuten in polnischen Uniformen inszenieren ließ, um dann behaupten zu können, seit dem Morgen des 1. September 1939 würde nun “zurückgeschossen”. Das haben viele Deutsche geglaubt, weil sie über keine anderen Informationsmöglichkeiten als über die von Goebbels gesteuerte Medien verfügten. Aber nun nochmals die prophetische Frage Bonhoeffers in Fanö 1934: “Wer von uns darf denn sagen, dass er wüsste, was es für die Welt bedeuten könnte, wenn ein Volk - statt mit er Waffe in der Hand - betend und wehrlos und darum gerade bewaffnet mit der allein guten Wehr und Waffe den Angreifer empfänge?” Wir wissen seit 1981, wie das aussieht: betende polnische Arbeiter auf der Lenin-Werft in Danzig.

Was wäre gewesen, wenn die angeblich “zurückschießenden” deutschen Soldaten nicht auf einen - wie man so sagt - heldenhaften, aber doch ganz unzulänglichen militärischen Widerstand der Polen, sondern auf ein betendes, gewaltlosen Widerstand leistendes Volk gestoßen wären? Natürlich darf man nicht annehmen, dass die Gebete und die Argumente der Polen die deutschen Aggressoren sofort in wunderbarer Weise überzeugt hätten. Ich gehe bei meinen Überlegungen von den damals real existierenden nationalsozialistischen Verhaltensweisen aus und nehme nur bei den Polen fiktiv die von Bonhoeffer anvisierte christliche Verhaltensweise an. Unter dieser Voraussetzung hätte man durchaus mit nationalsozialistischen Unterdrückungsaktionen brutaler Art rechnen müssen. Darüber war sich auch Bonhoeffer im Klaren und darum verwies er auf das Kreuz. Die Christen haben ja als ihr Kennzeichen dieses bösartigste Hinrichtungsinstrument der Weltgeschichte.

Es ist also leider anzunehmen, dass deutsche Aggressoren 1939 auf unbewaffneten gewaltlosen Widerstand mit einer Strategie der brutalen Unterdrückung reagiert hätten. Meine Schlussfolgerung aus dem Studium Hitlerscher Besatzungspolitik im Zweiten Weltkrieg ist, dass sie vor keiner Unterdrückungsmethode zurückschreckte, ihr jedoch der gewaltlose Widerstand die größten Probleme machte und sie am effektivsten hinderte, ihre Politik durchzusetzen. Zu gröhlen “Und heute (ge)hört uns Deutschland und morgen die ganze Welt” ist einfach, aber wären die Deutschen nach einem gewonnenen Krieg nicht innerhalb von Jahrzehnten als Besatzer gescheitert? Mit ein paar Millionen Deutschen, die sie eventuell aus dem Reich hätten abziehen können, wäre nicht einmal in Europa, geschweige denn in Übersee ein einigermaßen funktionierendes Herrschaftssystem aufzubauen gewesen. Ob die Fremdherrschaft relativ milde ist oder brutal: Widerstand provoziert sie immer. Das zeigt der Vergleich der dänischen und der polnischen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg.

Mein Münchener Kollege Kurt Sontheimer hat in einer Kritik des gewaltlosen Widerstands als Mittel der Verteidigungspolitik folgendes behauptet: “Pure Hoffnung ist es, davon auszugehen, dass im Falle einer Okkupation die Besatzungsmacht nicht in der Lage wäre, alle technischen und personellen Bedingungen zu schaffen, die nötig sind, um im besetzten Land die Sicherheit und die Versorgung ihrer Streitkräfte zu gewährleisten und ihre Herrschaft zu befestigen.” Sontheimer schrieb dies 1982 in dem Informationsdienst der Gruppe “Sicherung des Friedens”, in der einige namhafte evangelische Christen, die der Militärseelsorge nahestehen, den Anspruch erheben, christliche Friedensethik zu vertreten.

Sontheimer scheint zu behaupten, dass das was in der Politik zähle, allein der Wille zur Macht sei und das Schaffen der hierzu erforderlichen technischen und personellen Voraussetzungen. Er sagt: “Pure Hoffnung ist es, dass im Falle einer Okkupation die Besatzungsmacht nicht in der Lage wäre, alle technischen und personellen Bedingungen zu schaffen, die nötig sind, um ihre Herrschaft zu befestigen.” Das heißt doch: Bei der nun einmal anzunehmenden Skrupellosigkeit des bloßen Willens zur Macht kann bei einem Verzicht auf bewaffneten Widerstand praktisch alles durchgesetzt werden.

Das klingt plausibel, und Hitler und seine Kumpane scheinen das auch geglaubt zu haben. Jedenfalls klingen seine Anweisungen zur Besatzungspolitik entsprechend. Doch mit dieser Einschätzung könnte er sich auch geirrt haben. Es gibt einerseits erschreckende Beispiele für diesen Stil der Besatzungspolitik, aber andererseits lässt sich der These von der technischen Machbarkeit von Herrschaft auch mit historischer Erfahrung widersprechen. Damit wäre dann auch Sontheimers These von der Unausweichlichkeit der Unterwerfung falsifiziert.

Diese historische Erfahrung scheint mir wichtig zu sein. Darum will ich mich auf die Auseinandersetzung mit diesem Münchener Kollegen, der früher auch am Otto Suhr Institut gelehrt hat, hier mal etwas ausführlicher einlassen. Sontheimer fragt rhetorisch: “Haben die sozialen Verteidiger sich einmal überlegt, wie ein zur Durchsetzung seiner Macht entschlossener Gegner mit einem Volk verfahren könnte, das ihm jede Zusammenarbeit verweigert?”

Das war keine echte Frage eines Wissenschaftlers, denn Sontheimer gab sich keine sonderliche Mühe, herauszufinden, was die Forscher auf dem Gebiet der Sozialen Verteidigung über die Methoden der Unterdrückung vom Widerstand zu sagen wissen. Meines Erachtens machen sie sich über die Möglichkeiten von Unterdrückern keine Illusionen, aber sie wissen eben auch um die Grenzen der Machbarkeit von Herrschaft.

Von den Grenzen totalitärer Herrschaft

Wenn man die Grenzen der Machbarkeit totalitärer Herrschaft kennen lernen möchte, dann hat das Experiment nationalsozialistischer Herrschaft in Polen den Vorzug, dass die Nazis hier im Blick auf die Fähigkeit zu skrupelloser Unterdrückung kaum Überbietbares aufzuweisen haben. Dort sind sie ganz besonders rücksichtslos verfahren und dort hatten sie auch 5 Jahre Zeit, ihre Herrschaft zu festigen. Man kann darum wohl die These formulieren: Wenn es zwischen 1939 und 1944 in Polen nicht gelungen ist, Fremdherrschaft trotz Widerstand zu befestigen, dann ist es wahrscheinlich - zumindest mittels Brutalität - überhaupt nicht möglich.

Der historische Befund ist ausreichend geklärt. Nach der militärischen Niederlage hat der polnische Widerstand, der sich neben gewaltloser auch bewaffneter Formen bediente, zwar große Opfer gefordert, aber er hat die nationalsozialistische Wahnvorstellung widerlegt, dass die germanischen Herrenmenschen sich mit ihrem Willen zur Macht gegenüber diesen slawischen Untermenschen durchsetzen könnten. Ich verweise auf die Forschungen von Wolfgang Jacobmeyer, der sich bei seinem Urteil nicht nur auf die Selbsteinschätzung des polnischen Widerstands, sondern gerade auf die Stimmen der Unterdrücker beruft, die ihr Scheitern sicher ungern eingestanden haben. In einem Aufsatz über “Widerstand und nationale Selbstbehauptung gegen die deutsche Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg in Polen” schreibt er: “Das vielleicht schlüssigste Urteil über die deutsche Besatzungspolitik in Polen als die eigentliche Urheberin des Widerstands liegt im Bereich des SS-Sturmbannführers Dr. Strickner aus dem Reichssicherheitshauptamt im Oktober 1944 vor. Dort heißt es, es hätten Aussiedlungen, wirtschaftlicher Raubbau, Zwangsarbeiter- und Ernährungspolitik zu einem solchen Anwachsen der Tätigkeit und Macht der Widerstandsbewegung geführt, “dass praktisch von einem Staat im Staate gesprochen werden kann. Die infolge des Menschenmangels unzureichenden deutschen Bekämpfungsmaßnahmen unterstützten die Widerstandsfähigkeit besonders stark!” 6

Nun könnte man behaupten: Wenn die Nationalsozialisten den Krieg gewonnen hätten, dann hätten sie ihr Personal auf die Unterdrückung des Widerstands konzentrieren können. Aber wie hätten sie denn die riesigen Territorien ihrer Kriegsgegner besetzen sollen? Einige besonders brutale Vernichtungsmethoden sind - aufgrund der vorliegenden Erfahrungen - auch nur unter Kriegsbedingungen vorstellbar. Es hat in Deutschland auch vor Kriegsausbruch bereits Konzentrationslager und politische Morde in alarmierender Zahl gegeben; doch die eigentlichen Vernichtungslager wurden erst während des Krieges errichtet. Sie fanden allseits wenig Beachtung, weil sich die Aufmerksamkeit aller auf das Geschehen an den militärischen Fronten konzentrierte. Wenn hingegen in einem diktatorisch regierten Land keine militärischen Kämpfe stattfinden, konzentriert sich die Aufmerksamkeit in Inland und Ausland unweigerlich auf die Existenz der Konzentrationslager.

Die Auseinandersetzung mit der deutschen Besatzungsherrschaft hätte sich bei waffenlosem Widerstand vielleicht über Jahrzehnte hingezogen, vielleicht wäre die deutsche Herrschaft aber auch viel schneller in eine Krise geraten. Die natürliche Sterblichkeit der “Führer” und sich daraus ergebende Nachfolgekrisen sind ein Problem jeder Diktatur. Doch wenn der Widerstand schließlich Erfolg gehabt hätte, dann hätte es auch keinen Grund gegeben, diese Staaten, die sich gewaltlos selbst befreit hätten, militärisch aufzurüsten, und man würde es ihnen heute glauben, dass sie auch in Zukunft allen Versuchen, diktatorische Herrschaft auszuüben, sofort Widerstand leisten würden. Welch eine Errungenschaft wäre es, wenn es heute Staaten gäbe, die aus innerer Stärke keine Waffen wollten, insbesondere aber Atomwaffen als etwas politisch völlig Nutzloses erachten würden! Doch tatsächlich lastet auf der ganzen Welt die Methode des Überhitlerns, und die Proliferation der Atomwaffen schreitet fort.

Wie schön wäre es doch, wenn wir in diesen Maientagen eine solche Selbstbefreiung feiern könnten und nicht auch dieser Hunderttausende junger Menschen gedenken müssten, die noch im Jahre 1945 auf deutschem Boden erschossen wurden! Ein toter Befreiter ist ein Kadaver und ein toter Befreier ist auch ein Kadaver. Und es gab deren viel zu viele. Wie sagte doch Gandhi 1940: “The cause of liberty becomes a mockery, if the price to be paid is wholesale destruction of those who are to enjoy liberty.”

Was bedeutet die Entscheidung Bonhoeffers für den militärischen Widerstand?

Ich muss noch einen Gedanken nachtragen. Ich habe hier Dietrich Bonhoeffer als pazifistischen Fragesteller eingeführt, aber es ist bekannt, dass er den pazifistischen Weg, auf den ihn sein Freund Jean Lasserre, Autor des Buches “Der Krieg und das Evangelium” 7 gebracht hat, nicht zu Ende gegangen ist, sondern dass er sich an der militärischen Verschwörung des 20. Juli 1944 beteiligt hat. Ist er darum ein Zeuge für die Unmöglichkeit, den Nationalsozialismus mit gewaltfreien Mitteln zu überwinden? Offensichtlich sind ihm keine erfolgversprechenden gewaltfreien Mittel eingefallen, aber das ist kein ausreichender Beweis dafür, dass es sie nicht eventuell doch gegeben hätte. Vielleicht hat er sich nur nicht ausreichend um diese gewaltfreien Mittel gekümmert. Die Entscheidung, die Suche nach gewaltfreien Wegen aufzugeben, ist auf jeden Fall willkürlich, nicht zwangsläufig. Man darf sie auf gar keinen Fall religiös überhöhen, was Bonhoeffer auch nicht getan hat. Ich weiß, dass es in der Bibel auch Stellen gibt, die den Eindruck erwecken, als ob es so etwas wie göttliche Schlachtanweisungen gäbe. Leider gibt es diese, aber als aufgeklärte Menschen wissen wir auch, dass bei allem Sinn für Inspiration es bei der Niederschrift solcher Texte “menschelet”, wie die Schwaben sagen.

Man muss nicht das Neue gegen das Alte Testament, also die christlichen Ergänzungen der Heiligen Schrift gegen die hebräische Bibel ausspielen, wenn man als religiöser Mensch die Auffassung vertritt, dass sich Religionen entwickeln können. Heuristische Überlegungen zu den möglichen Entdeckungen fortgesetzter Suche gehören meines Erachtens zu jeder Religion. Darum müssen wir auch mit Bonhoeffers Zeugnis kritisch umgehen. Sonst laufen wir Gefahr, Bonhoeffer noch zum Kronzeugen für die militärische Gewalt als ultima ratio zu machen. Die ehemaligen Pazifisten, die in bestimmten Situationen Gewalt befürworten, sind für den Pazifismus und die Ethik der Nachfolge eine weitaus bedeutendere Herausforderung als diejenigen, die immer schon Eisen gefressen haben.

Der Reifeprozess und Reifegrad des Bonhoefferschen Pazifismus ist bislang nicht ausreichend untersucht worden, aber wahrscheinlich hat er sich im Jahre 1934, als er seine berühmte Andacht in Fanö hielt, als prinzipiellen Pazifisten verstanden, zumindest hat er seine Frage so gestellt. Doch unter dem Eindruck der Entwicklung des nationalsozialistischen Terrorregimes hat er sich dann entschlossen, den Versuch, Hitler gewaltsam zu beseitigen, seinerseits zu unterstützen. 8 Es ist ihm - wie gesagt - nichts Besseres eingefallen; theologisch gerechtfertigt - unter Berufung auf die Lehre Jesu - hat er es meines Wissens nicht. Es ist also auch im Sinne seiner eigenen Theologie der “Nachfolge” durchaus erlaubt, sein Handeln kritisch zu bedenken und nach gewaltfreien Alternativen zu fahnden.

Dass noch im Februar 1943 in Berlin durch eine Straßendemonstration von Angehörigen die Freilassung “arisch versippter” Juden erreicht werden konnte, gibt doch zu denken. Seien wir doch mal so unverfroren wie ein Harald Martenstein und fragen: Was hat Bonhoeffer denn getan, um die Möglichkeiten des gewaltfreien Widerstands gegen den Nationalsozialismus zu entdecken und zu entwickeln?

Wir wissen, dass er nach der Machtergreifung Hitlers zunächst zu Gandhi reisen wollte, um das gewaltfreie Handwerk zu lernen. Dann blieb er jedoch in Deutschland und betrieb in Finkenwalde mehr oder weniger traditionelle Vikarsausbildung - mit Elementen des gemeinsamen Lebens, aber doch ohne jedes explizite Training in gewaltfreiem Handeln. Davon hatte Bonhoeffer - nota bene in praktischer Hinsicht - keine Ahnung. Er hielt den Vikaren eine Vorlesung über “Nachfolge”. Diese war zwar theologisch und literarisch große Klasse, aber sie enthielt nicht einmal Spurenelemente der strategisch-taktischen Information über gewaltfreies Handeln in der Nachfolge.

Ich habe auch keine Hinweise darauf, dass man in Finkenwalde wenigstens Gandhi-Texte gelesen hätte, was doch leicht möglich gewesen wäre. In den zwanziger Jahren sind mehr Gandhi-Texte in deutscher Sprache erschienen als nach 1945. Ich meine ohnehin, dass Bonhoeffer aus dem Studium von Gandhis strategischen Schriften mehr hätte lernen können als vom bloßen Aufenthalt in Gandhis Umgebung. Die strategische Erörterung mit Gandhi hätte ergiebig sein können, aber warum hat Bonhoeffer denn Gandhi von Finkenwalde aus nicht angeschrieben? Dieser pflegte doch zu antworten. Mir ist hier einiges rätselhaft.

Bonhoeffer hätte die wichtigsten strategischen Texte Gandhis aus “Young India” also nicht einmal übersetzen, sondern er hätte sie nur beschaffen oder aus dem eigenen Vorrat in die Bibliothek von Finkenwalde stellen und dann mit den Vikaren behandeln müssen. Warum hat er es nicht getan?

Als der konsequente Pazifist und spätere evangelische Märtyrer der Kriegsdienstverweigerung Dr. Hermann Stöhr das Predigerseminar in Finkenwalde besuchte, kam es zu keinem fruchtbaren Gedankenaustausch mit Bonhoeffer und auch zu keinen Widerstandsverabredungen im Sinne der gewaltfreien Aktion. Dafür gibt es sicher mancherlei Gründe. Stöhr verfolgte in der Ökumene eine etwas andere Linie als Bonhoeffer. Doch dass die Möglichkeiten der gewaltfreien Aktion in Finkenwalde nicht einmal erörtert wurden, und Bonhoeffer in der Zeit nach Finkenwalde für diese Methoden wohl zunehmend unsensibel wurde, erkläre ich mir damit, dass er einen Strategiewechsel und in dessen Folge auch Milieuwechsel vollzogen hatte und damit für gewaltfreie Alternativen mental blockiert war.

Er befasste sich zunehmend mit der Frage, ob und wie Hitler von seinen Freunden im Offizierskreisen gewaltsam gestürzt werden könnte. Verständlich war dies, denn er war bitter enttäuscht vom Lavieren und dem Anpassungskurs der sogenannten Bekennenden Kirche. Doch das Tragische ist, dass er aus allem die Konsequenz zog, es aufzugeben, nach gewaltfreien Lösungen zu suchen. Und damit hörte er auf, auf diesem Felde kreativ zu sein. Die mentale Blockade ging meines Erachtens sogar soweit, dass er gar nicht mehr wahrnahm, was in seiner unmittelbaren Umgebung sich auf dem Felde der gewaltlosen Aktion ereignete.

Es war im Februar/März 1943 in Berlin, als durch die “Fabrikaktion” die in der Rüstungsindustrie tätigen Juden sämtlich festgenommen, in Sammelstellen gebracht und nach Auschwitz transportiert wurden. Damals haben in der Rosenstraße tausende Frauen gegen den Abtransport ihrer “arisch versippten” Männer demonstriert und nach einer Woche Straßendemonstration ihre Freilassung erreicht. Infolge solcher Proteste von Ehefrauen wurden sogar einige bereits nach Auschwitz Abtransportierte wieder nach Deutschland zurückgebracht! 9

Wir haben kein Indiz dafür, dass Bonhoeffer diesen Frauenprotest auch nur wahrgenommen, geschweige denn unterstützt hätte. Er war durch seine Entscheidung für die militärischen Mittel ganz und gar eingebunden in das Amt Canaris und in die Verschwörung, welche durch Attentate, die Mitte März erfolgen sollten, Hitler zu beseitigen und den Krieg zu beenden suchte. Anfang April wurde Bonhoeffer dann verhaftet.

Man kann schon fragen: Was hätte es bedeutet, wenn ein Mann von der Energie und dem intellektuellen Format Dietrich Bonhoeffers eine Grundsatzentscheidung für die gewaltfreie Aktion gefällt und im Sinne dieser Strategie alles zu bewegen gesucht hätte, was zu bewegen war? Es ist zu banal, wenn man jetzt behaupten wollte, dass im Dritten Reich mit gewaltfreien Mitteln nichts zu bewegen war. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis der erfolgreiche Protest in der Rosenstraße nicht länger aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt wurde. Er passte nicht ins offizielle Bild, zu dem als Rechtfertigung für Anpassung und Unterwerfung gehörte, dass öffentlicher Protest gegen den NS-Regime aussichtslos gewesen sei und quasi automatisch zur Vernichtung der Beteiligten geführt habe. Dafür gab es sicherlich viele grauenhafte Belege, aber der militärische Widerstand war auch nicht ohne Risiko und war in der Konsequenz des gescheiterten Versuchs am 20. Juli 1944 erschreckend kostspielig.

Ich erörtere das hier, weil ich mich gegen die fatalistische Geschichtsbetrachtung wende. Ich bin aus pazifistischer Sicht nicht davon überzeugt, dass Bonhoeffer die einzig mögliche und einzig sinnvolle Entscheidung getroffen hat, als er sich den Versuchen, Hitler mit militärischen Mitteln zu beseitigen, anschloss. Und wenn uns heute die militärische Sicht der Dinge durch die Verehrung für Bonhoeffer auferlegt werden soll, dann müssen wir eben auch Bonhoeffer kritisieren, denn letzten Endes ist das Offenhalten der Frage “Was würde der Herr Jesus dazu sagen?” wichtiger als die Legitimierung dessen, was Bonhoeffer getan hat.

Anmerkungen:

1 Beim folgenden Text handelt es sich um Auszüge aus Vorlesungen am 5., 10. und 17. Mai 1995.

2 A. Camus: Briefe an einen deutschen Freund. In: ders.: Fragen der Zeit, Reinbek 1977, S. 9-30.
Im Vorwort zur italienischen Nachkriegsausgabe dieser während des Krieges für die Résistance geschriebenen Briefe fängt Camus an, dieses Defizit zu reflektieren. “Wenn der Verfasser dieser Briefe ‘ihr’ sagt, meint er nicht ‘ihr Deutschen’, sondern ‘ihr Nazi’.” (S. 9) Doch damit verschiebt er das Problem nur ein wenig, denn wer nach Widerstandsmöglichkeiten innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftssystems sucht, kann mit diesem klischeehaften Nazibild nicht leben und nicht fündig werden. Warum ist es Camus als Mann des Wortes nicht aufgefallen, dass es pervers ist, das Klischeebild eines Feindes als “Freund” zu bezeichnen? Doch die Résistance brauchte wie jede Form des Krieges ein solches Klischee, das heißt perverse Formen der Propaganda, um Deutsche als Feinde töten zu können.

3 M. K. Gandhi: Non-Violence in Peace and War, Vol. II, Ahmedabad 1942, S. 288-290

4 D. M. Mantell: Familie und Aggression. Zur Einübung von Gewalt und Gewaltlosigkeit. Eine empirische Studie, Frankfurt/M. 1978

5 Diese Frage ist auf einem Hearing der Bundestagsfraktion der Grünen ausführlich erörtert worden: Gewaltfreier Widerstand gegen Völkermord? Die Auschwitz-Kontroverse während des Hearings der Grünen zur Sozialen Verteidigung am 16. Juni 1984. In: Gewaltfreie Aktion, 80/81, 1989, S. 59-68

6 W. Jacobmeyer: Widerstand und nationale Selbstbehauptung gegen die deutsche Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg in Polen. In: Gewaltfreie Aktion, 71/72, 1987, S. 60

7 War and the Gospel, London 1962

8 Ähnliches gilt für Albert Einsteins Entscheidung, nach der Machtergreifung der Nazis im Jahre 1933 in den Anrainerstaaten Nazi-Deutschlands nicht länger die Kriegsdienstverweigerung zu empfehlen. Nach Kriegsbeginn hat er sogar den Bau der Atom-Bombe durch einen Brief an den amerikanischen Präsidenten angeregt. Diese Grundsatzentscheidung hat er nach 1945 revidiert zugunsten der Entwicklung der gewaltfreien Konfliktaustragung. Die Albert Einstein Institution in Boston ist in den USA die wichtigste Forschungseinrichtung für gewaltfreie Konfliktaustragung.

9 Gernot Jochheim: Frauenprotest in der Rosenstraße, Berlin 1993

Wir bedanken uns bei Theodor Ebert für die freundliche Veröffentlichungsgenehmigung dieses Artikels.

Veröffentlicht am

08. Juli 2004

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