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Gewollte Armut

Von Ulrike Baureithel

DIE 900-EURO-BEVöLKERUNG. Ob mit Transferleistung, Billigjob oder gemeinnütziger Arbeit - Hartz IV produziert bewusst Bürger zweiter Klasse

Die unter dem Begriff Hartz IV entrollte neue Armutsschleife hatte noch nicht einmal richtig den Bundesrat passiert, da intonierten bereits die Einpeitscher und Zyniker den Chor: Hartz sei erst ein “ganz, ganz kleiner Schritt”, setzte CSU-Generalsekretär Söder den Grundton und agitierte gegen den Kündigungsschutz. Am Wochenende nahm die Bundesagentur für Arbeit die Stimme auf und drohte Arbeitslosen mit häuslicher Inspektion. Das Arbeitgeberlager tremolierte mit Anton Börner vom Bundesverband für Groß- und Außenhandel, eine Woche Urlaubsverzicht “bringe keinen um”, entlaste Unternehmen jedoch spürbar. Und über allen die falsche Oberstimme Wolfgang Clements, der da allen Ernstes behauptete, die neuen Arbeitsmarktgesetze machten keinen Bürger und keine Bürgerin ärmer.

Wenn erst einmal die schätzungsweise über eine halbe Million ArbeitslosenhilfeempfängerInnen ausgesteuert und auf ihre (noch) verfügbare Habe und den Sparstrumpf der so genannten “Bedarfsgemeinschaft” (vom Partner bis zur im Haushalt lebenden Oma) zurückgeworfen sind; wenn die übrigen Langzeitarbeitslosen künftig auf 345 Euro (331 im Osten) gesetzt werden und einen Wohnungszuschuss, dessen Höhe sich nach den kommunalen Auslegungen der Sozialhilfe richtet (der bisherige “Warmmietzuschuss” firmiert mittlerweile nur noch unter “Unterbringungskosten”); wenn darüber hinaus die Lebensversicherung verpfändet und der letzte Notgroschen aufgebraucht sind, und wenn die 345 Euro durch erhöhte Nahverkehrspreise, Gesundheitskosten und Gebühren dahinschmelzen, dann wird sich zeigen, was auszusprechen sich in diesem Land bislang offenbar niemand traut: dass nämlich ein bestimmter Anteil von Menschen in dauerhafter Armut gehalten werden soll.

Die sogenannte “Grundsicherung”, so heißt es in der Präambel des Gesetzes, solle dazu “beitragen”, die “Eigenverantwortung” der “Erwerbsfähigen” zu stärken, um ihren Lebensunterhalt “unabhängig” und “aus eigenen Kräften und Mitteln” zu bestreiten. Einmal davon abgesehen, dass zwischen denen, die arbeiten können und jenen, die aufgrund ihrer Lebenslage vom Arbeitsmarkt ausgesperrt bleiben, eine scharfe Trennung vollzogen und eine neue Ausgrenzungslinie markiert wird, offenbart sich der Geist von Hartz IV an den neuen, kaum irgendwo thematisierten Zuverdienstregelungen, die für Erwerbslose das existenzielle Aus bedeuten können: Konnte ein Arbeitslosenhilfeempfänger seine Stütze bislang um 165 Euro aufbessern, ohne mit Kürzungen bedroht zu werden, bleiben ihm (oder ihr) künftig von jedem Euro nur mehr 15 Cents (bis zu einem Zuverdienst von 400 Euro), 30 Cents vom Zuverdienst zwischen 400 bis 900 Euro und bis zur neu festgelegten Zuverdienstgrenze von 1.500 Euro wieder jeweils 15 Cents. Der Auslegungsstreit derart komplizierter Regelungen, die noch nicht einmal eindeutig die Berechnungsbasis definieren (brutto oder netto?), ist schon im Gange. Doch wer würde bei solchen Abzügen normalerweise überhaupt malochen? Den Erwerbslosen bleibt die Alternative Schwarzarbeit oder, und das ist gewollt, die Aussteuerung - allerdings in die prekären Niederungen von Billigjobs, die ebenfalls kaum das Leben sichern.

Die Erwerbslosen sitzen in der Verarmungsfalle. Mit rund 900 Euro (bezogen auf allein Stehende, alle direkten und indirekten Leistungen einberechnet), sind sie “relativ arm”. In Kürze wird das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung bestätigen, was für die BürgerInnen längst “gefühlte” Realität ist: Dass nämlich die Reichen im Lande immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Bei 11,1 Prozent lag im Jahre 2002 der Anteil der Menschen, die über weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Monatseinkommens von 1.137 Euro verfügten, nach amtlicher Definition also als “relativ arm” gelten (1997: 9,2 Prozent).

Aber auch der Druck auf die (noch) Erwerbstätigen steigt: Wenn die Masse der Erwerbslosen zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben hat, wenn jeder zu jedem Job gezwungen werden kann und das Recht auf Privatsphäre nur noch für Bürger erster Klasse gilt, dann liegt über allen das Menetekel aktueller Armut oder künftigen Absturzes. Daran ändern auch Jobs als Tagesmütter nichts, wie sie Ministerin Schmidt vorschweben, oder das gemeinnützige Werkeln auf kommunaler Ebene, das Wolfgang Clement nun in Aussicht stellt. Die 900-Euro-(und weniger)-Bevölkerung - ob nun durch Transferleistungen oder eigene Einkünfte “grundgesichert” - ist programmiert, mit weitreichenden politischen, sozialen und ökonomischen Folgen.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 29 vom 09.07.2004. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

16. Juli 2004

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