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Ein Aufruf für den Sudan

Von David Nally - ZNet 21.07.2004

“Der Begriff Fortschritt basiert auf dem Ereignis der Katastrophe. Dass Dinge ‘einfach ihren Lauf nehmen’, ist [bereits] die Katastrophe” - Walter Benjamin.

Wenn man die etablierte Presse durchschaut und die sehr unregelmäßigen und emotionslosen Nachrichten über das anhaltende Morden im Sudan liest, ergreift einen der erschreckende Gedanken, dass es vielleicht keinen interessiert. Bush und seine Kumpanen - die bei ihrem Umgang mit dem Irak so schnell die Vereinigten Nationen ignorierten - scheinen jetzt nur zu zufrieden, dieselbe Institution auf ihre Politik des erzwungenen Aufgebens, nun hinsichtlich des Sudans 1 , aufmerksam zu machen. Diese selbst gewählte Befreiung scheint eine ausreichende Bestätigung dafür, dass die Menschen im Sudan die “nicht-würdigen Opfer” von heute sind.

Im Moment, in dem ich diese Worte schreibe, steht der Sudan einer menschlichen Katastrophe unbeschreiblichen Ausmaßes gegenüber und es muss erwähnt werden, dass nur eine kurze Pause vergönnt war, in der nicht der Glaube vorherrschte, dass weitere Nachforschungen zu viel des Guten seien.

Selbst die unabhängige Presse scheint von der Gewalt im Irak gefesselt - nicht erwähnt seien die israelischen Anstrengungen, das Tageslicht in Palästina gänzlich auslöschen. Inmitten all jener Nachrichten werden die Menschen im Sudan vergewaltigt, beraubt und verhungern zu Tode. Das wahrlich tragische ist, dass diese Gewalttätigkeiten nicht wenigstens zu ernsthaften Diskussionen führen.

Seit seiner Unabhängigkeit von Großbritannien, 1956, wurde der größte Staat Afrikas von Gewalt und Ruhelosigkeit heimgesucht. Mit Ausnahme der Jahre 1972 - 82 war das Land in Bürgerkrieg verwickelt, der seinen Ursprung in der aggressiven Machtergreifung der Regierung in nicht-arabischen Regionen hat, um sich Ölfelder anzueignen und mehr Land kontrollieren zu können.

Tatsächlich ist der gegenwärtige Konflikt in der südlichen Region Darfurs die Fortsetzung eines 21-jährigen Bürgerkrieges, der bisher zwei Millionen Menschenleben kostete und über vier Millionen Flüchtlinge hervorbrachte - zwischen der von Arabern dominierten Regierung in Khartoum und der großen afrikanisch-christlichen und traditionell religiösen (animistischen) sudanesischen Volksbefreiungsarmee (SPLA). 2

Der Aufstand in Darfur brach im Februar 2003 aus, als die zwei christlichen und traditionell religiösen Oppositionsgruppen der Region, die Sudanesische Befreiungsarmee (SLA Sudan Liberation Army) und die Gerechtigkeits- und Gleichheitsbewegung (JEM Justice and Equality Movement) zu einem Aufstand gegen die Regierung aufriefen, die sie ihrer Meinung nach in Darfur vorsätzlich nicht vor den Plünderungen durch arabische Stämme schützte und die sie für die ernsthafte (und sie meinen vorsätzliche) Unterentwicklung der Region verantwortlich machen.

Als Antwort auf diesen Vorwurf entsandte die Regierung seine eigene lebensgefährliche Version eines Blitzkrieges: “alternde russische Arnovs [Militärflugzeuge] flogen über die abgelegenen sudanesischen Dörfer hinweg und entluden sich ihrer mörderischen Ladung tonnenschwerer Bomben (gebrauchte Ölfässer, die jetzt mit Explosivstoffen und Metallteilen versehen waren)… als nächstes kommt der Janjaweed, eine gewalttätige arabische Miliz (die Regierung besteht darauf, sie Soldaten zu nennen), die auf Kamelen und Pferden reitet und sich mit AK-47 Gewehren und Peitschen bewaffnet. Sie ermorden Männer und Jungen im kampffähigen Alter, vergewaltigen Frauen gruppenweise - manchmal vor den Augen ihrer Familien - und verbrennen deren Häuser.” 3 Dies sind die Worte des Journalisten Declan Walsh, die sehr genau mit Augenzeugenberichten übereinstimmen.

Im August 2003 berichtete ein Dorfbewohner den Mitarbeitern von Amnestie International von einem Überfall auf das Dorf Murli, nahe Al-Jeneina: “Es war früh am Morgen, die Leute schliefen. Ungefähr 400 bewaffnete Männer kamen mit Fahrzeugen und Gewehren und sperrten das Dorf ab, sie trugen militärische Uniformen, die gleichen der Armee. Ein Flugzeug kam später, um nachzusehen, ob die Operation erfolgreich war. Mindestens 82 Menschen wurden während des ersten Angriffs getötet. Einige wurden erschossen und andere, wie Kinder und Ältere, wurden lebendig in ihren Häusern verbrannt.” 4 Horrorgeschichten im Überfluss. Im Kounoungo Flüchtlingslager erzählt Zenaba Ismail einem Reporter wie Janjaweed-Kämpfer früh an einem Morgen in ihr Haus eindrangen und ihre Schwester - die derzeit hochschwanger war - in den Bauch (Magen) schossen. Durch das Schießen wurden ihre Wehen ausgelöst und sie starb während der Geburt. “Er [das neugeborene Kind] schreit unaufhörlich, aber ich habe keine Milch, die ich ihm geben könnte” 5 , klagt Zenaba.

Jene in Sichtweite nicht ermordeten, so wird berichtet, wurden in die Sklaverei verkauft. Bisher kamen schätzungsweise 30.000 Menschen (hauptsächlich von den Fur-, Masalit- und Zaghawa-Stämmen) ums Leben; 1,5 Million wurden von ihren Häusern verjagt (meist über die Grenze in den verminten Tschad, in dem Blut dürstende Milizen bekannt dafür sind, sie weiter zu verfolgen. Infolgedessen flüchteten 31.000 sudanesische Flüchtlinge tiefer in den Osten des Tschad) 6 . Der Christian Science Monitor [US-Tageszeitung] schätzt, dass 350.000 Menschen vor Jahresende ums Leben kommen werden und nach Ansicht der International Crisis Group, steht Darfur ein mögliches “Horrorszenario in 2004” 7 bevor. Diese Schätzungen sind rein konservativ.

Andrew Natsios von der US Agency for International Development warnte davor, dass bei ausbleibender Hilfe, Krankheiten wie Cholera, Meningitis (Gehirnhautentzündung) und Kinderlähmung seuchenartige Ausbreitung erreichen werden und die Anzahl der Toten bis Ende des Jahres eine Million Menschen betragen könnte. Die Newsweek-Ausgabe Juli 5 veröffentlichte furchtbare Bilder ausgezehrter Kinder, den unschuldigen Opfern der Kampagne der Milizen “Verbrannte Erde” 8 . Nach seinem Zusammentreffen mit US-Staatssekretär Colin Powell, erklärte Mustafa Osman Ismail (sudanischer Außenminister), dass es auch bei “Problemen” in Darfur, “keinen Hunger und keine seuchenartigen Krankheiten gebe” 9 .

Die kürzlichen Besuche von Colin Powell (der höchste US-Beamte, der den Sudan seit 1978 besuchte) und UN-Generalsekretär Kofi Annan waren lächerlich. Powell wurden vor seinem Besuch Satellitenbilder von brennenden Dörfer gezeigt (die Karten können auf der Website von Amnesty International angesehen werden); als der US-Staatssekretär jedoch versuchte, einige ausgewählte Flüchtlingslager zu besichtigen, entfernten “regierungstreue Soldaten” die Bewohner Darfurs aus dem Umfeld Powells. Über einen ähnlichen Vorfall wurde berichtet, der Kofi Annan sichtlich verärgerte, da 1.000 Bewohner aus dem besetzten Lager bei Meshtel plötzlich verschwanden. Es scheint, dass am Vorabend von Annans vorgeschlagenem Besuch, die Regierung die erbärmlich lebenden Einwohner umsiedelte. 10 (ich erinnere mich hier an Orwells ärgerlicher Kritik an der Politik der Sprache und die betäubenden Auswirkungen des Euphemismus [beschönigende Beschreibung]: “Schutzlose Dörfer werden von der Luft aus bombardiert, ihre Einwohner aus dem Land vertrieben, das Vieh niedergeschossen, die Hütten mit brennenden Geschossen in Flammen gesetzt: dies wird “Befriedung” genannt. Millionen Bauern werden ihrer Farmen beraubt und schleppen sich entlang der Straßen mit nicht mehr als sie tragen können und dies wird “Transfer der Bevölkerung” oder “Korrektur der Grenzen” genannt. “Wiederansiedlung” ist ein ähnliches linguistisches Tarnwort für Verbrechen gegen die Menschlichkeit). Al Noor Muhammad, der Minister für Soziales im Norden Darfurs, entschuldigte sich für diese zynischen Taten und sagte: “Wir konnten nicht mit ansehen, wie die Menschen so leben mussten”; in Wahrheit bedeutete es, dass die Regierung nicht wollte, dass die Welt mit ansieht, wie die Leute hier leben.

Nicht überraschend, forderten Regierungsadjutanten Herrn Annan auf eine andere Siedlung, Abushouk, ein sehr bekanntes “Touristencamp”, wegen seines verhältnismäßig guten Zustandes, zu besichtigen. 11 Solch unverfrorene Strategien sind bezeichnend. Ein Fallbeispiel ist das von den Nazis benutzte Theresienstadt, in dem “privilegierte” Juden zurück gehalten wurden, um Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes hinters Licht zu führen. 12 Wie wir wissen funktionierte ihr Trick. Heute wird mit Verhüllungen fort gefahren. Während des selbigen Besuches von Kofi Annan versuchte eine Gruppe Universitätsstudenten, eine Petition für Darfur an den UNO Generalsekretär zu übergeben. Sie wurden verhaftet und von staatlichen Sicherheitskräften in Khartoum erschossen.

Die Analogie zum Holocaust ist weder beiläufig noch oberflächlich - besonders für diejenigen, die hierüber etwas wissen. Während Mitglieder der internationalen Gemeinschaft sich damit quälen, ob Bezeichnungen wie “Genozid” und “ethnische Säuberung” (oder der selbstgefälligere Begriff “Democide” [Tötung im Auftrag eines Staates]) für die Massenmorde in Darfur passend sind, schlossen die Holocaustzentren in London und Washington Ende Juni kurzerhand, um ihre Solidarität mit den Opfern zu äußern. 13 “Sie [die Janjaweed Milizen] sagen, sie möchten keine schwarze Haut mehr auf diesem Land sehen”, berichtet Issa Bushara, dessen Bruder und Cousin vor den Augen ihrer Familien während eines Angriffs von der Janjaweed Miliz, ermordet wurden. 14

Wir müssen kaum daran erinnert werden, dass der Genozid sich in der Geschichte über Ruanda erstreckte und das ehemalige Jugoslawien […]. Walter Benjamin verstand sehr gut, als er behauptete, dass die große Katastrophe unserer Zeit diejenige ist, dass ‘Dinge einfach ihren Lauf nehmen’. Um die Ernsthaftigkeit von Benjamins Aussage darzustellen, erklärt der italienische Philosoph Giorgio Agamben, dass heute eine radikale Form der Politik besteht, die sich auf das “bloßes Leben” konzentriert. Der Begriff “bloßes Leben” an sich, ist nicht leicht zu erklären, aber möglicherweise kommt Hannah Arendt dem am nächsten, wenn sie es als “abstrakte Nacktheit des menschlichen Seins und nichts als Menschsein” beschreibt. 15 Mit anderen Worten, “bloßes Leben ” ist ein Leben, das von allen seinen positiven Aspekten entledigt wurde und folglich entbehrlich ist. “Es scheint, dass ein Mensch, der nichts ist als ein Mensch, alle Qualitäten verloren hat, die es für andere möglich macht, ihn als Mitmenschen zu behandeln” 16 , bemerkte Arendt.

Der Kernpunkt ist, dass, um Macht über menschliches Leben zu erlangen, sie unter ein Gesetz fallen, das sie gleichzeitig von dessen Schutz ausschließt. In der Tat, so Arendt, wurde “die völlige Rechtlosigkeit vor dem Recht auf das Leben geschaffen” 17 . Dies beinhaltet nicht den “Verlust spezieller Rechte … aber den Verlust einer Gemeinschaft, die bereit und fähig ist, alle diese Rechte zu garantieren, welche auch immer” - dies ist eine Katastrophe, die eine “ständig wachsende Zahlen an Menschen betrifft.” 18 Genozid ist ein offensichtlich typischer Fall, aber die Geschichte ist mit anderen entsetzlichen Beispielen gefüllt: dem Sklavenarbeiter, dem Insassen eines Konzentrationslagers, dem Flüchtling - dies sind schicksalhafte Beispiele eines modernen Ausschlusses von der Menschlichkeit, der im Rahmen des Gesetzes “Ausschluss inbegriffen” stattfindet. Agamben nennt diese Menschen homines sacri. 19

Es ist nicht abwegig, die Opfer systematischer Gewalttaten im Sudan ebenfalls als homines sacri zu bezeichnen. Sie erscheinen in unseren Zeitungen und Zeitschriften als ausgezehrte Körper, in unserem Politik- und Rechtssystem als Klapps-auf-die Hand-Sanktionen und im Fernsehen als fotogener Hintergrund für einfältige Politiker. Arendt argumentiert mit Recht gegen Mao Tse-Tungs Ausspruch “Kraft wächst aus dem Lauf eines Gewehres” 20 . Mit Sicherheit soll die oberste Macht heute menschliches Leben (und alle seine entsetzlichen Leiden) und dessen Vergänglichkeit vollkommen sichtbar machen. Die Möglichkeit von diesen Regelungen Ausnahmen zu machen und Katastrophen zu standardisieren, führt im Sudan zu einem verhängnisvollen Desaster.

In einer Presseerklärung am Ende seines kurzen Besuches, erklärte Colin Powell: “Wenn wir nicht bald mehr Maßnahmen in diesen Regionen sehen, kann es für die internationale Gemeinschaft notwendig werden andere Vorgehensweisen in Betracht zu ziehen und den UNO Sicherheitrat mit einzubeziehen.” 21 Das Wort “bald” scheint hier völlig naiv - während hunderttausende Menschenleben von dessen Auslegung abhängen. Wie Hannah Arendt erkennt “… besteht kein Zweifel, dass im Sudan Voraussetzungen geschaffen werden, unter denen Menschen dehumanisiert werden - Konzentrationslager, Folterungen, Hunger … solche Bedingungen, nicht Gewalt, sondern deren auffällige Abwesenheit, sind ein deutliches Zeichen von [verdeckter] Entmenschlichung. 22 Die Dinge im Sudan ‘nehmen einfach ihren Lauf’.

Anmerkungen:

1 Scott Stearns, “Bush Calls on Sudan to Respect Cease-Fire in Darfur” Voice of America 13 July 2004 ( http://www.voanews.com/article.cfm?objectID=15CBCD07-1299-469C-B9C341CB35248B67 )

2 For a good background to the conflict see, Dan Smith, “The Crisis in Sudan” Counterpunch 19/20 June 2004 ( http://www.counterpunch.org/smith06202004.html )

3 Declan Walsh, “Atrocities in Sudan” ZNet 27 April 2004 ( http://www.zmag.org/content/showarticle.cfm?SectionID=2&ItemID=5413 )

4 Amnesty International, “Sudan: The UN Security Council Should Stop Arms Transfers to Sudan and the Janjawid Militia” 2 July 2004 [AI Index: AFR 54/074/2004] ( http://web.amnesty.org/library/Index/ENGAFR540742004 )

5 Alexander Zavis, “As World Focuses Elsewhere, a Systematic Slaughter Unfolds in Sudan” Canadian Press 10 July 2004 ( http://www.canada.com/news/world/story.html?id=cf24653f-92fb-4563-a4b1-5f2fc3e976da )

6 Walsh, op.cit.

7 Abbey Morrow, “Sudan’s Scorched-Earth Campaign” Insight on the News 6 July 2004 ( http://www.insightmag.com/news/2004/07/06/World/Sudans.ScorchedEarth.Campaign-691283.shtml )

8 Tom Masland, The Living and the Dead” Newsweek 5 July 2004 ( http://www.msnbc.msn.com/id/5305166/site/newsweek )

9 Barbara Slavin, “Powell tells Sudan to aid afflicted region” USA Today 29 June 2004 ( http://www.usatoday.com/news/world/2004-06-29-sudan-sanctions_x.htm )

10 Marc Lacey “Sudan Camp is Moved before UN Visit” New York Times 2 July 2004

11 Ibid.

12 Hannah Arendt Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil (Penguin Books: London) 1994 p. 82

13 Morrow, op. cit.

14 Zavis, op. cit.

15 Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism (Harcourt: New York) 1976 p. 297

16 Ibid. p. 300.

17 Ibid. p. 296.

18 Ibid. p. 297.

19 Giorgio Agamben, Homo Sacer: Sovereign Power and Bare life (Stanford University Press: Stanford) 1995

20 Hannah Arendt, On Violence (Harvest Book: New York) 1970.

21 Matthew Lee, “Powell delivers stern warning to Sudan on Darfur,” Middle East Online June 30 2004 ( http://web.amnesty.org/library/Index/ENGAFR540742004 )

22 Arendt, op. cit. p. 63.

Quelle: ZNet Deutschland vom 22.07.2004. Übersetzt von: Claudia Müller. Orginalartikel: “A Call for Sudan” .

*Weitere Artikel zum Sudan finden sich auf der Lebenshaus-Website unter dem Schwerpunkt “Afrika” .*

Veröffentlicht am

22. Juli 2004

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