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Lernen von Paulo Freire, Martin Luther King und Dom Helder Camara

Zur Ideologie und Methode basisdemokratischer Gruppen in Brasilien

Von Elisabeth Wöckel 1

Was eine basisdemokratische Gruppe nicht ist, welche Methode sie nicht anwendet:
Parteien und Vereine, Gewerkschaften, Friedensgruppen kurz, alle Gruppen und Versammlungen gleich welcher Art, sie funktionieren immer nach dem gleichen Muster und nach der gleichen Methode: Es wird der/die Vorsitzende gewählt oder ein/e ModeratorIn, dieser übernimmt die Gesprächsleitung und steht nun an der Spitze einer nachfolgenden Hierarchie von “Amtsträgern”. Diese Hierarchie wiederum besteht dann als “Struktur” für eine festgelegte Zeit bis zur Wiederwahl oder einer Neuwahl von Nachfolgern im gleichen System. Dann wiederholt sich alles.

Alle Mitglieder der Gruppe unterwerfen sich der ernannten oder gewählten Autorität durch die regelmäßig wiederkehrenden Abstimmungen in Sachfragen, Aktionen, aus “vor”gelegten Themen. Die Meinung der Mehrheit wird angenommen, die Abstimmung ist für alle verbindlich.

Die Minderheit, die mit Nein gestimmt hat, wird übergangen, sie hat eben verloren (selber schuld). Aus Zeitmangel, weil eben zu viele Punkte bearbeitet werden müssen, springt man dann zum nächsten Thema, ohne ein Wort über die Minderheit zu verlieren. (Welche Zwänge verursachen eigentlich das übervolle Programm, von wem wurden diese Zwänge auferlegt?) Die Einsprüche der Minderheit bleiben ungelöst, sie werden vergessen. Das System nennt sich aber dennoch “demokratisch”, auch wenn Minderheiten an den Rand gedrängt werden.

Die Erfahrung zeigt, dass Gruppen von Parteien - auch Friedensorganisationen haben das Problem - , mit der Zeit immer kleiner werden. Man schiebt das auf das mangelnde Interesse der Leute, an der Gruppe, auf die mangelnde Aktualität, oder an einem Thema überhaupt. Übersehen wird, dass jene Minderheit, die nicht zum ideologischen Klüngel des Vorstandes gehört, jene, die anderer Meinung ist und auch andere Vorstellungen mitbrachte als der “mainstream”, mit der Zeit immer mehr an den Rand gedrängt wird und schließlich wegbleibt.

Gewöhnlich gibt es in einer Gruppe immer die gleichen Wortführer und ihre Unterstützer. Bei den Abstimmungen werden die (schweigenden) Minderheiten nicht berücksichtigt, sie sind in der Gruppe mit ihrer Meinung nicht mehr präsent. An der “Macht” und an der Meinungsbildung haben die Schweigenden in der Partei selbst keinen Anteil, sie sind nur zum “Reagieren” in der Lage, d.h. zum offenen oder zum verdeckten Widerstand.

Weil dieses System nicht demokratisch ist, sind den etablierten Parteien die Leute abhanden gekommen, die Basis ist weggebrochen, sie wurde nicht mehr gehört. Es gibt auch politische Gruppen, die ohne Basis nur mit den “Amtsträgern” in einem System der Selbstbestätigung weiterfunktionieren.

Kostbare Ressourcen gehen durch den Ausschluss der schweigenden Minderheit oder auch der Mehrheit, verloren. Oft ist es so, dass den Neuen, die zum ersten mal in den Kreis einer Partei kommen, um sich einmal umzusehen, von den “Platzhirschen” auf subtile Weise sofort bedeutet wird, dass die wichtigen Posten besetzt und Konkurrenten unerwünscht sind. Diese Gruppenhierarchie ist ein getreues Spiegelbild unserer “Demokratie”, die eigentlich mehr der Demokratie im alten Athen gleicht als einer modernen Demokratie, die auch Minderheiten Rechte zugesteht und sie integriert.

Die basisdemokratische Methode

In den 60iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde die basisdemokratische Methode durch die Pädagogik Paulo Freires (Pädagogik der Unterdrückten) in den kirchlichen Basisgemeinden und in den kommunalen Gruppen, in Gewerkschaften, später in der Arbeiterpartei und in der Bewegung der Landlosen in Brasilien praktiziert. Diese Methode brachte eine Revolution von unten in Gang. Nach einigen Jahren fand in den Kommunalwahlen im Bundesstaat Pernambuco ein politischer Erdrutsch statt. Die Kandidaten der etablierten Parteien wurden durch Vertreter der “basisdemokratischen Gruppen” ersetzt. Das war die Ursache für die Verfolgung der Basisgemeinden durch die brasilianische Regierung, welche die Bewegung als subversiv und kommunistisch bezeichnete (1964-1974). Auch die McCarthy-Doktrin, die von den USA nach Südamerika überschwappte, war für die Kommunisten-Hetze jener Zeit verantwortlich.

Der “ideologische” Hintergrund der basisdemokratischen Methode hat verschiedene Quellen. Eine dieser ideologischen Quellen ist Martin Luther King. In den 60iger Jahren kämpfte Martin Luther King für die Gleichheit aller US-Amerikaner, er träumte davon, dass eines Tages seine Kinder und alle Farbigen in den USA nicht nach ihrer Hautfarbe und nach ihrem sozialen Status beurteilt werden, sondern nach ihrem Charakter, nach ihrer Person. Inspiriert durch das Engagement von Martin Luther King übernahm Dom Helder Camara, Erzbischof von Olinda-Recife in Nordostbrasilien die Aufgabe, alle Menschen, ohne Berücksichtigung von Hautfarbe, Einkommen und sozialem Status in die Gesellschaft zu integrieren und ihr Dasein als Randgruppe zu beenden.

Nach der Ausweisung des Pädagogen Paulo Freire durch die brasilianische Militärregierung, Paulo Freire hatte von Recife ausgehend mit seiner Alphabetisierungsmethode eine Bewusstseinsbildung unter den Campesinos in Gang gebracht, die nicht ohne Folgen für das politische System Brasiliens geblieben war, begann Dom Helder Camara den Kampf für die unterprivilegierten und farbigen Brasilianer in den Slums von Recife und für die Armen in “Nordeste” mit der Methode Paulo Freires. Mit dieser Methode kam es zur Gründung von Basisgemeinden. Neben dem Evangelium wurde die Charta der Menschenrechte zur Diskussionsgrundlage. Die Bewegung der Basisgemeinden erreichte ganz Brasilien und dann Lateinamerika.

Nachdem die “Befreiungstheologie” 1986 von der Kirche verboten wurde, verlagerte sich die Bewegung in den politisch-kommunalen Raum. Die Gewerkschaften und die Bewegung der Landlosen wurden zum Sammelbecken der Basisgemeinden. Schließlich eroberte die Bewegung die Ebene der Kommunalpolitik. Bekannt wurde sie als basisdemokratischer Bürgerhaushalt von Porto Alegre und als Bewegung des Weltsozialforums als mögliche Alternativen zu den scheindemokratischen Systemen des Westens und zur Entwürdigung des Menschen im Prozess der Globalisierung.

Basisdemokratische Gruppen haben ein anderes Verständnis von Demokratie als es in unseren Parteien in der Bundesrepublik üblich ist. Von der hierarchisch-autoritären Methode unterscheidet sie sich durch die Umkehrung des oben beschriebenen Systems. An der Meinungsbildung in der basisdemokratischen Gruppe sind alle Mitglieder beteiligt, ebenso an den Aktionen. Die Mitglieder einer Gruppe werden nicht wie in Parteien üblich zum Abstimmen gebraucht, d.h. zur Sicherung der “Macht” oder der Meinung von bestimmten Personen oder Klüngeln innerhalb der Gruppe, deren Meinung und Vorschläge dann nach unten durchgereicht und schließlich von der Mehrheit auf einem Parteitag oder einer Vollversammlung durch die Abstimmung legitimiert wird.

Ausgangspunkt ist das (Er-)Leben der Menschen

In den basisdemokratischen Gruppen findet die Meinungsäußerung zur “gefühlten Realität” der Menschen statt, d.h. diskutiert wird darüber, welche Auswirkungen die Politik auf das Leben der Menschen hat. Kriterium für das Recht des Einzelnen ist die Charta der Menschenrechte, sind die Gesetze des Landes. Zur Diskussion steht das Resultat der Politik, so wie Menschen davon betroffen sind, im Betrieb, in der Gesellschaft, in der Kommune. Es wird nicht diskutiert, was in der Presse steht, nicht was “Oben” gesagt wurde oder geplant ist, es gibt auch keine “vor”-gelegten Themen, es gibt keine Leitung und auch keinen Vorstand. Gesprochen wird über die Situationen in den Familien, in den Betrieben, in der Schule, die durch die aktuellen politischen Maßnahmen entstanden sind oder bevorstehen. Nicht die von Experten und Kommissionen analysierten Probleme werden besprochen, wohl aber die wirklichen Probleme der Gesellschaft und ihre Auswirkung auf die Familien, auf die Arbeit, auf die Bildung, auf die Situation von Männern und Frauen, auf die Gesundheit, nicht allgemein, sondern vor Ort, in der Kommune.

Grundsatz in der Diskussionsführung ist: jeder, der über eine akademische Bildung oder über eine höhere Position verfügt, muss lernen, dem zuzuhören, was der Einfachste von allen zu sagen hat, ohne ihn zu unterbrechen. Keiner darf in seiner Meinungsäußerung abgewertet oder lächerlich gemacht werden. Ziel der Gruppe ist es, die Lebensbedingungen für diese Gruppe und für alle Gruppen vor Ort zu verbessern. Darum werden nicht die weltweiten Zusammenhänge analysiert, die ein Gefühl der Machtlosigkeit vermitteln, es findet auch keine Ursachenforschung statt, es geht schlicht um eine Bestandsaufnahme von Tatsachen und die Wirkung dieser Tatsachen auf die Menschen. Darüber wird dann beraten, es werden Beschlüsse gefasst zu Aktionen gegen Ungerechtigkeiten und zu Verletzungen der Menschenrechte oder der Gesetze überhaupt, es werden gegenseitige Hilfsmaßnahmen besprochen, die in der Gruppe, im Betrieb, oder in der Nachbarschaft möglich sind, um die Lage erträglicher zu machen. Die Bestandsaufnahme zur Realität der Lebensumstände der Menschen wird dann im größeren Kreis, in der Versammlung der Moderatoren diskutiert, ergänzt wird diese Bestandsaufnahme dann in einem Forum vor Ort. So entstehen gemeinsame Aktionen, um mehr Menschen für die Gruppen zu gewinnen.

Die Moderatoren der verschiedenen Gruppen (eine Gruppe besteht aus etwa 10-15 Personen) treffen sich regelmäßig, um gemeinsame Aktionen zur Verbesserung der Lebens- oder Arbeitsbedingungen zu besprechen. Der Versammlungsraum wird frei gewählt, das kann eine Wohnung sein, ein öffentlicher Raum, im Freien, auf einem öffentlichen Platz, in einer Kirche, in einem Bistro oder auf einer Wiese. Medienberichte oder das “vor”-gelegte Wissen von Experten oder Kommissionen wird kritisch betrachtet. Die Berichte der Medien, Experten und Kommissionen dienen gewöhnlich der Verschleierung der Wirklichkeit, denn sie sind Vertreter von Interessengruppen.

Die Aktionen der basisdemokratischen Gruppen orientieren sich also an der täglichen Realität, so wie sie von den Mitgliedern der Gruppe in der Familie, im Stadtviertel, am Arbeitsplatz oder als Arbeitsloser, in der Schule, an der Universität, etc. empfunden und erlebt wird. Lobbyisten haben in diesem System keinen Platz.

Die Rolle des Individuums und der Menschenrechte

Damit es zu demokratischen Entscheidungen von unten kommen konnte, wurde in den basisdemokratischen Gruppen mit Hilfe der Pädagogik Paulo Freires die Ideologie geklärt, d.h. die Rolle des Individuums. Das geschah im Prozess der Bewusstseinsbildung. Das heißt: Jedes Mitglied der Gruppe ist ein urteilsfähiges und handlungsfähiges Individuum, unabhängig vom Bildungsstand, vom sozialen Status und seiner Funktion im zivilen Leben. Die Kultur des Schweigens der Analphabeten, Arbeitslosen und Armen wurde damit beendet, Minderwertigkeitskomplexe auf der Basis der Menschenrechte aufgearbeitet. Aufgrund der Anerkennung als volle Mitglieder der Gesellschaft beteiligen sich alle an den Vorgängen dieser Gesellschaft, sie bestimmen mit. Folglich sind alle Mitglieder der Gruppe in der Lage, die Probleme ihrer sozialen und politischen Situation zu erkennen und auch auszusprechen. Sie brauchen keine “Vor”denker, keine “Vor”sager, keine Experten, die ihnen ein Gefühl der Unterlegenheit und der Unwissenheit vermitteln. Zusammen mit den anderen Mitgliedern der Gruppe sind sie ebenso in der Lage, zur Durchsetzung ihrer zivilen Rechte, dann auch politisch zu handeln.

Ausgangspunkt für die Entscheidungen der basisdemokratischen Gruppen ist also nicht eine Sachinformation oder eine Analyse der politischen oder sozialen Situation, die von Experten “vor”getragen wird, sondern der Zustand, der von den Teilnehmern als real empfunden und erkannt wird. In diesem System gibt es auch kein Parteiprogramm. Das Programm ist durch die Charta der Menschenrechte vorgegeben, diese Rechte gilt es zu verwirklichen. Ein “Vor”sitzender hat in diesem Demokratieverständnis keinen Platz. Jeder leistet seinen Beitrag, alle sind in der Lage ihre Meinung zu äußern, allen wird zugehört, alle haben die gleichen Rechte. Dass diese Rechte gewahrt werden, ist die Aufgabe aller, vor allem aber die des Moderators. Die Sprechzeit zum angeschnittenen Thema wird für jeden auf zwei Minuten begrenzt. Für jedes Thema, es wird nach der ersten Meinungsäußerung festgelegt, wird eine bestimmte Zeit veranschlagt, die eingehalten werden muss.

Entscheidungen über Aktionen und über Personen werden ohne eine Empfehlung von einem “Vor”sitzenden gemeinsam durch Akklamation oder Freiwilligkeit getroffen. Es muss gefragt werden, ob jemand Bedenken hat, diese müssen geäußert und dann beraten werden. Aufkommende Streitigkeiten werden dadurch gelöst, dass bei hitzigen Debatten einmal die Redezeit eingehalten werden muss, dann bei einem verbalen “Angriff” der Angegriffene nicht selbst antwortet, ein Anderer übernimmt die Verteidigung. Das fördert die Kameradschaft und beseitigt Aggressionen.

Die Gruppe ernennt ihren Koordinator oder Moderator, der bei Abwesenheit jederzeit von jedem anderen Mitglied ersetzt werden kann. Auf diese Weise bleibt die Gruppe unabhängig in ihrer Funktion. Dieses System hat sich in Zeiten der Repression bewährt. Das Protokoll zeichnet nicht den Verlauf der Diskussion auf, lediglich die Probleme werden benannt, die Beschlüsse oder das Ergebnis der Sitzung wird kurz festgehalten. Beim nächsten Mal wird gefragt, wie diese Beschlüsse oder Ergebnisse in der Zwischenzeit gewirkt haben, umgesetzt wurden, notfalls werden sie verbessert und wiederholt. Die Unabhängigkeit von einem “Vor”sitzenden garantiert den Fortbestand der Gruppe ebenso wie ihre “Zellteilung” und ihre Kreativität. Die organisatorischen und logistischen Funktionen der Gruppe werden aufgegliedert und auf alle Mitglieder der Gruppe verteilt. Eine Überlastung des Einzelnen wird dadurch verhindert und die Aktivität und das Interesse aller Mitglieder wird erhalten, weil sich jeder einbringen kann.

Anmerkung:

1 Elisabeth Wöckel, Ansbach, ist Theologin und hat von 1967 bis 1971 mit Dom Helder Camara zusammengearbeitet und die Gründung der Gruppen mitgeplant und die Bewegung bis 1971 begleitet und unterstützt.

Quelle: Friedenspolitischer Ratschlag

Veröffentlicht am

08. August 2004

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