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Kaukasische Konflikte. Analyse

Die russische Politik ist in Tschetschenien ganz offensichtlich gescheitert. Nur Gewalt hält Grosny bei Moskau. Die Nachbarregionen wirken friedlich. Das aber kann sich schnell ändern.

Von Karl Grobe

Ein weit verzweigtes Terrornetz muss es in Russland geben, teilte der Religions- und Politikwissenschaftler Alexander Ignatenko aus gegebenem Anlass der Tageszeitung Nesawissimaja gaseta mit. Al Qaeda habe in Russland “Saudis, Algerier, Marokkaner, Ägypter und andere Araber” sowie “wahhabitische Tschetschenen, Inguschen und Russen” in ihren Reihen. Wenn die heimkehren, nennt man sie in ihren Herkunftsländern samt und sonders “Tschetschenen”.

Damit ist der Fall für Ignatenko klar, auch wenn er nicht so direkt sagt: Im Kaukasus, wo der Terror tobt, liegt die Wurzel allen postsowjetischen Übels. Die Folge ist logischerweise Konfrontation.

Russische und sowjetische Autoren haben das nicht immer so gesehen. Literaten des 19. Jahrhunderts, viele von ihnen waren als Offiziere im Nordkaukasus, entwarfen Bilder von “edlen Wilden”. Diese sollten später sowjetische Politiker auf die Seite Moskaus ziehen. Das Schlagwort der sowjetischen Nationalitätenpolitik lautete zwischen 1920 und etwa 1927 korenisazija, Einwurzelung. Die Funktionäre sollten aus den Völkern stammen, russische Amtswalter mussten die regionalen Sprachen lernen und sich mit dem örtlichen Gewohnheitsrecht vertraut machen. Eine “Bergrepublik” fasste die nordkaukasischen Völker zusammen, für kurze Zeit. Das änderte sich mit Beginn der landwirtschaftlichen Kollektivierung unter Josef Stalin. Die “Bergrepublik” wurde aufgeteilt, nach angeblich ethnisch gerechten Grenzen, doch wurden immer wenigstens zwei Völker in einer Verwaltungseinheit zusammengespannt. Die zur Zeit der korenisazija gebildeten nationalen Kader wurden verfolgt und oft umgebracht.

Seitdem ist nie wieder so etwas wie eine auf Gleichheit fußende Völkerfreundschaft entstanden. Aufsteiger aus den kaukasischen Völkern integrierten sich in die russisch geprägte Sowjet-Elite; den nicht zur Russifizierung bereiten Einwohnern wurde so ihre intellektuelle Führungsschicht entzogen. Es begann neuer Widerstand, der zum Teil an die epischen Kämpfe um die Mitte des 19. Jahrhunderts anknüpfte.

Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs ordnete Stalin die Verbannung aller Tschetschenen, Inguschen und einiger kleiner Völker nach Zentralasien an. Das war tödlich für viele; die Überlebenden kamen nach ihrer Rehabilitierung 1956 mit durchaus gemischten Gefühlen wieder in die Heimat. Doch ihre alten Dörfer waren von anderen besiedelt worden - Russen, Ukrainern, Bürgern der UdSSR. Es gab neue Spannungen. Dennoch eine eigentlich friedliche Zeit; dem traditionellen Leben in den entlegenen Bergdörfern ließ der Staat die lange Leine, die Städter aber lebten neben der russischen urbanen Mehrheit her, rückten zum Teil auch in die Eliten auf. Doch selbst wenn sie so zu Sowjetbürgern wurden, behielten sie den Bezug zu ihrer Nation.

Diese Ambivalenz liegt der Entwicklung seit dem Zerfall der Sowjetunion zugrunde. Das tschetschenische Volk wurde dabei zu einer Speerspitze der frühen Autonomiebewegung. Überdurchschnittlich viele Tschetschenen waren in die zivilen, militärischen und wissenschaftlichen Eliten aufgestiegen und wurden Vorkämpfer einer Bewegung, die wenigstens das Ausmaß an innerer Unabhängigkeit forderte, wie sie den Tataren von Präsident Boris Jelzin gewährt wurde. Den Kontakt zur Basis in den Bergen hatten diese Kräfte nicht eingebüßt; er gründete auf altüberkommenen Familien- und Clan-Beziehungen. In anderen kaukasischen Regionen, unter Karatschaiern und Adygern, (Nord-) Osseten und Tscherkessen sowie im Vielvölker-Dagestan setzten sich - teils gewendete - einst sowjetische Eliten zunächst durch. Diese Regionen wirken friedlich. Doch sie enthalten dieselben Widersprüche, dasselbe Konfliktpotenzial.

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 06.09.2004. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Veröffentlicht am

06. September 2004

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