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Je schlimmer die Situation im Irak, desto dreister belügt uns Tony Blair

Von Robert Fisk - Independent / ZNet 28.09.2004

Wir befinden uns in der ‘größten Krise’ - das heißt, seit der letzten größten Krise. Auf diese Art führen wir den Irakkrieg - beziehungsweise den Zweiten Irakkrieg, wie uns Lord Blair of Kut al-Amara weismachen will. Man führt uns Geiseln in orangefarbenen Leuchtoveralls vor - wir sollen uns an Guantanamo erinnern. Die Entführer fordern die Freilassung mehrerer Frauen, die von den Amerikanern gefangenhalten werden. Von Abu Ghraib ist die Rede. Abu Ghraib? Erinnert sich noch jemand an den Namen? An schmutzige kleine Schnappschuß-Fotos?

Keine Sorge, das war nicht das Amerika George W. Bushs, und wir haben die ‘faulen Äpfel’ doch auch bestraft, oder? Und überhaupt, welche Frauen? Sind doch nur noch zwei Damen übrig - Frau Dr. Keim und Frau Dr. Anthrax. Aber so leicht vergessen die Araber nicht. Die Libanesin Samia Melki war die Erste, die die eigentliche Bedeutung der Abu-Ghraib-Fotos für die arabische Welt erfaßte. In ‘Counterpunch’ schreibt sie in Zusammenhang mit jenem nackten Iraker mit exkrementverschmiertem Körper und ausgebreiteten Armen, der mit dem Rücken zur Kamera steht - vor einer Amerikanerin mit blondem Bürstenschnitt und einem Knüppel in der Hand - das Ganze erinnere sie an “die Dramatik und die Farbkontraste eines Caravaggio-Gemäldes”. 1

Gute barocke Kunst zeichnet sich dadurch aus, daß sie den Betrachter einlädt, Teil des Kunstwerks zu werden: “Man zwingt den irakischen Gefangenen mit gekreuzten Beinen geradeaus zu gehen, der Körper ist leicht gekrümmt, die Arme ausgebreitet, damit er das Gleichgewicht halten kann. Der Körper (des irakischen Gefangenen), akzentuiert durch die Exkremente und die schlechte Beleuchtung, hat die Form eines Gekreuzigten. … Der Araber strahlt (?) eine Würde aus, die ihm seit langem verwehrt wird, er leidet für die Sünden der Welt”. 1

Hinsichtlich des Leids in Abu Ghraib, fürchte ich, war dies aber nur die Spitze des Eisbergs. Was ist beispielsweise aus jenen Videos geworden, die sich Kongreßmitglieder im geheimen ansahen? Uns - der Öffentlichkeit - hat man sie vorenthalten. Warum erinnern wir uns plötzlich nicht mehr an Abu Ghraib?

Seymour Hersh, der Journalist, der die Story ans Licht brachte - einer der wenigen amerikanischen Journalisten, die ihren Job tun -, spricht in aller Öffentlichkeit von weiteren Geschehnissen in dem Schreckensgefängnis. Im Folgenden ein Auszug aus einem kürzlichen Hersh-Vortrag, den mir ein Leser dankenswerterweise überließ: “Über einige der schlimmsten Dinge, die sich dort ereigneten, wissen Sie nichts. Okay? Videos. Es gab dort Frauen. Einige von Ihnen haben sicher gelesen, daß diese Briefe herausschmuggelten, sie kommunizierten mit ihren Männern. Wir reden hier von Abu Ghraib… Die Frauen schmuggelten Botschaften heraus, sie sagten (zu ihrem Mann), bitte komm’ und bring’ mich um, weil das passiert ist. Passiert war im Grunde Folgendes: In einigen der dokumentierten Fälle waren die Frauen zusammen mit kleinen Jungs, also Kindern, festgenommen worden. Mit den Jungen wurde Sodomie getrieben, vor laufender Kamera, das Allerschlimmste waren die Schreie der Jungen…”

Wir haben das alles schon wieder vergessen. Auch von den Massenvernichtungswaffen sollen wir nicht mehr reden. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll, wenn jetzt so langsam en détail an die Öffentlichkeit sickert, wie verzweifelt Bush und Blair nach diesen ekelhaften Waffen suchten, die gar nicht existierten.

Einmal drangen die US-Überwachungsteams für mobile Anlagen ins ehemalige Hauptquartier der irakischen Geheimpolizei in Bagdad ein. Drinnen stießen sie auf eine mit einem Vorhängeschloß gesicherte Tür. Sie waren sich sicher, hier auf jenen Horror zu stoßen, für den Bush und Blair so inbrünstig beteten. Was fanden sie hinter der zweiten Tür? Ein Großlager voller nagelneuer Staubsauger. Ein anderes Team - unter Leitung von Major Kenneth Deal - kümmerte sich um das Hauptquartier der Baath-Partei. Schon glaubte man, wichtige Geheimdokumente über Saddams Waffenprogramme gefunden zu haben. In Wirklichkeit handelte es sich bei den Papieren um die arabische Übersetzung von A J P Taylors ‘The Struggle for Mastery in Europe’. Vielleicht gar keine schlechte Lektüre für Bush und Blair.

So stolpern wir weiter Stufe um Stufe eine bröselnde Treppe hinunter - die hässliche Treppe, die wir uns selbst gebaut haben -, und bekommen immer größere Lügen zu hören. Iyad Allawi, der Marionetten-Premierminister - von vielen meiner Journalistenkollegen immer noch respektvoll “Interimspremier” genannt -, besteht nach wie vor auf Wahlen im Januar, dabei hat er weniger Kontrolle über die irakische Hauptstadt Bagdad als deren Bürgermeister (ganz zu schweigen vom Rest des Landes). Gehorsam verweigerte Ex-CIA-Agent Allawi die Freilassung der beiden weiblichen Gefangenen - just in dem Moment, als Washington entsprechende Anweisungen gab. Anschließend trottete er pflichtschuldigst nach London und nach Washington, um die neuen Bush-Blair-Lügen zu untermauern.

‘Zweiter Irakkrieg’. Wieviel Schwachsinn dieser Art müssen wir, das heißt, die Öffentlichkeit, noch schlucken? Glaubt man Lord Blair of Kut kämpfen wir uns gerade durch die “Feuerprobe des globalen Terrorismus”. Was soll der Unsinn? Hat er uns, bevor er mithalf, den Ersten Irakkrieg zu starten, etwa gesagt, es wird noch einen Zweiten geben? Natürlich nicht. Nein, wir kamen ja, sie zu “befreien”.

Erinnern wir uns an die Vor-Vor-Krise. Es war im letzten November, als unser Premier auf dem Lord-Mayor-Bankett sprach. ‘Irak’, so sagte er, sei “eine Schlacht von grundlegender Bedeutung für das frühe 21. Jahrhundert”. Damit war wahrscheinlich noch der Erste Krieg gemeint. Die gleichen Worte könnte er heute wiederholen. Aber hören wir weiter, was uns Lord Blair of Kut damals über den (Ersten) Krieg zu sagen hatte: “Er wird die Beziehungen zwischen der muslimischen Welt und dem Westen definieren. Er wird tiefgreifenden Einfluß haben auf die Entwicklung der arabischen Staaten des Mittleren Ostens. Er hat weitreichende Konsequenzen für die künftige amerikanische und westliche Diplomatie”. Auch das könnte er wiederholen, oder? Denn, seit dem Zweiten Weltkrieg, dem echten Zweiten Krieg, läßt sich wohl kaum etwas derart tiefgreifend Gefährliches vorstellen wie Blairs Irakkrieg - gefährlich für uns, den Westen, den Mittleren Osten, für Muslime wie Christen.

Dabei sollte der Irak, wir erinnern uns, eigentlich zum Modell für den gesamten Mittleren Osten werden. Jeder arabische Staat würde ein zweiter Irak sein wollen. Der Irak als Katalysator - vielleicht sogar als Feuerprobe - für den Nahen/Mittleren Osten. Sparen Sie sich bitte Ihr Lachen. Die letzten Wochen waren überwältigend. Ich erhielt soviele Briefe von Männern und Frauen, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten und es sich vehement verbeten haben, daß Blair und Bush den jetzigen Sumpf mit jenem wahren Kampf gegen das Böse vergleichen, den diese Menschen vor über 50 Jahren führten.

“Ich bin 90. Ich kann mich noch gut an die körperlichen und seelischen Wracks erinnern, die das ländliche Wales durchstreiften. Das war in den Jahren nach 1918, als ich groß wurde”, schreibt mir Robert Parry. “Am besten seinen Ausdruck findet für mich der Tod im Krieg immer noch in Owens ‘Dulce Et Decorum Est’ 2 . (Dieses Sterben) ist heutzutage, durch amerikanische ‘Zielbomben’ und Selbstmordbomber, noch furchtbarer. Was wir bräuchten, ist ein neuer Wilfred Owen, der uns Augen und Gewissen öffnet. Aber solange es den nicht gibt, gilt es, diesem großartigen Gedicht erneut Gehör zu verschaffen”. Ich jedenfalls kann mir keine bessere Antwort auf den infantilen Schwachsinn, den Tony Blair derzeit verbreitet, vorstellen.

Es ist lange her, seit - in Amerika und Großbritannien - eine derartige Kluft bestand zwischen der Bevölkerung und der von ihr gewählten Regierung. Blairs jüngste Reden richten sich tatsächlich an “Kinder, heiß auf irgendwelchen Ruhm der Verzweiflung” - um es mit Owens Worten auszudrücken. Das Gesicht Ken Bigleys mit der Augenbinde symbolisiert unsere jüngste ultimative Krise. Aber vergessen wir nicht, was ihr vorausging.

Anmerkung d. Übersetzerin:

1 ‘Caravaggio in Iraq’ von Samia Melki, nachzulesen unter: www.counterpunch.org/melki06032004.html

2 Wilfred Owen (1893-1918), britischer Soldat im Ersten Weltkrieg (er fiel in den letzten Kriegstagen), der eines der berühmtesten Kriegsgedichte schrieb:

Dulce Et Decorum Est

Bent double, like old beggars under sacks, Knock-kneed, coughing like hags, we cursed through sludge, Till on the haunting flares we turned our backs, And towards our distant rest began to trudge. Men marched asleep. Many had lost their boots, But limped on, blood-shod. All went lame, all blind; Drunk with fatigue; deaf even to the hoots Of gas-shells dropping softly behind. Gas! GAS! Quick, boys! — An ecstasy of fumbling Fitting the clumsy helmets just in time, But someone still was yelling out and stumbling And flound’ring like a man in fire or lime. — Dim through the misty panes and thick green light, As under a green sea, I saw him drowning.

In all my dreams before my helpless sight He plunges at me, gluttering, choking, drowning.

If in some smothering dreams, you too could pace Behind the wagon that we flung him in, And watch the white eyes writhing in his face, His hanging face, like a devil’s sick of sin, If you could hear, at every jolt, the blood Come gargling from the froth-corrupted lungs Bitter as the cud Of vile, incurable sores on innocent tongues,— My friend, you would not tell with such high zest To children ardent for some desperate glory, The old Lie: Dulce et decorum est Pro patria mori.”

Quelle: ZNet Deutschland vom 02.10.2004.
Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: The Worse The Situation In Iraq, The Bigger The Lies That Tony Blair Tells Us

Veröffentlicht am

02. Oktober 2004

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