Glaubt nicht ein einziges Wort!
Glaubt nicht ein einziges Wort! Oder “Wer einmal lügt, …..!”Von Uri Avnery Als Ariel Sharon seinen Plan für einen “einseitigen” Abzug aus dem Gazastreifen verkündigte, berichteten die Medien, die Peace Now-Bewegung bereite sich auf eine große öffentliche Kampagne vor, die den Plan unterstütze. Das Büro des Ministerpräsidenten bat sie darum, davon Abstand zu nehmen, da es fürchtete, solch eine Kampagne würde bei der extremen Rechten Widerstand hervorrufen. Peace Now war nicht die einzige “linke” Gruppe, die von dem Plan eingenommen war. Ich war mir sicher, weil ich Sharon kenne. Ich beobachtete den Mann seit 50 Jahren und habe drei biographische Aufsätze über ihn geschrieben. Ich weiß, was er denkt, und ich weiß, wie er handelt. Nun hat Dov Weissglass all dies und darüber hinaus noch mehr bestätigt, was ich sagte. In einem Interview mit Haaretz (8.10.04 mit Ari Shavit) erklärte er, das einzige Ziel des Planes sei, den Friedensprozess “einzufrieren”. Der wirkliche Zweck des “Abzugs” sei, die Verhandlungen mit den Palästinensern für viele Jahre zu blockieren und jede Diskussion über die Westbank zu verhindern - gleichzeitig aber die israelischen Siedlungen in einer Weise auszudehnen, dass es für einen zukünftigen palästinensischen Staat keine Möglichkeit mehr gebe. Dov Weissglass ist nicht nur irgendwer. Er erinnert mich an die “graue Eminenz” (den “grauen Kardinal”), an den Sekretär des Ministers Kardinal Richelieu, der Frankreich vor 400 Jahren regierte. Es wurde damals gemunkelt, eigentlich wäre er es, der die Fäden hinter der politischen Bühne zöge. Sein offenes Statement im Haaretz-Interview ist das letzte Wort. Es beschämt nicht nur die einfältigen Seelen von Peace Now und die weniger einfältigen Seelen von Shimon Peres & Co der Labourpartei, sondern auch George W. Bush und die anderen Politiker weltweit, die monatelang dieses Täuschungsmanöver für einen ernsthaften Friedensplan gehalten haben (- der arme Colin Powell nannte ihn sogar “historisch”). * * * Weissglass’ Enthüllung wetteiferte in den Medien mit dem “Tragbahren-Fall” - eine Geschichte, die auch Sharons Methode aufdeckt. Sie hätte irgendwie lustig sein können, wenn sie nicht womöglich tragische Folgen hätte haben können. Sharon möchte die UNWRA zerstören, das besondere Hilfswerk der Vereinten Nationen für die palästinensischen Flüchtlinge, das das Elend von 4 Millionen Menschen mildert. Es ist eine große Organisation mit etwa 25 000 Angestellten, einschließlich Lehrern, Sozialarbeitern und Ärzten - fast alle von ihnen sind natürlich Palästinenser. Es versorgt die Flüchtlinge mit Lebensmitteln, Schulen, Gesundheitsdiensten und in Notfällen mit einem Dach über dem Kopf. Ohne dieses wären die Flüchtlinge längst in einen Abgrund von Hunger und Verzweiflung geraten. Im Augenblick, während unsere Armee ganze Stadtteile im Gazastreifen samt ihrer Infrastruktur zerstört, versorgt die UNWRA auch die notleidenden Palästinenser, die keine Flüchtlinge sind, mit Lebensmitteln, Zelten und Medikamenten. Allein die Existenz dieser Organisation stört Sharon und seine Generäle, die den Widerstand der Palästinenser zu brechen wünschen, indem sie ihnen das Leben zur Hölle machen. Nachdem sie systematisch versuchten, die palästinensische Nationalbehörde zu zerschlagen, versuchen sie nun die UNWRA zu vernichten. Wie in den Medien berichtet wurde, befahl Sharon seinen Generälen, der Propaganda-Abteilung des Außenministeriums geheime Armeephotos zukommen zu lassen, um damit zu beweisen, daß die UNWRA mit “Terrororganisationen” zusammenarbeite. Am nächsten Tag zeigten alle Fernsehkanäle von Drohnen aufgenommene Luftaufnahmen, die eine Qassam-Rakete zeigt, wie sie in einen UNRWA-Ambulanzwagen geladen wird. Das war der Anfang einer wilden Kampagne gegen die Organisation. Israelische Diplomaten in New York verlangten, dass der dänische UNRWA-Direktor Peter Hansen gefeuert werde. Zwei Tage später platzte die ganze Sache. Die UNRWA behauptete, der Mann auf dem Foto trage keine Rakete, sondern eine Tragbahre. Zunächst leugneten die Generäle dies, dann stotterten sie, schließlich gaben sie halbherzig zu, vielleicht sei ein bedauerlicher Fehler unterlaufen: die professionellen Analysten des Nachrichtendienstes der Armee, rangniedrige Feldwebel und Leutnants, könnten die Bilder falsch interpretiert haben. Diese Antwort muss hinterfragt werden: haben die Analysten absichtlich gelogen, oder haben sie wirklich geglaubt, was sie sagten? Die eine Möglichkeit ist so schlimm wie die andere. Als vor 50 Jahren ausländische Korrespondenten mich über die Glaubwürdigkeit der offiziellen IDF-Statements befragten, pflegte ich zu sagen, unsere Armee lüge nicht. Man sollte ihren Kommuniques glauben, solange nicht das Gegenteil bewiesen wird. Diese Zeiten sind längst vorbei. Wenn mir heute dieselbe Frage gestellt wird, rate ich, nicht ein einziges Wort von Armeemeldungen zu glauben, solange nicht das Gegenteil bewiesen wird. Deshalb ist es keine Überraschung, dass der Nachrichtendienst lügt. In zahllosen Auftritten vor dem Kabinett und dem Außen-und-Sicherheitskomittee der Knesset haben die Chefs des Nachrichtendienstes Lügen und falsche Einschätzungen verbreitet. Das ist nichts Neues. Man muss kein Experte sein, um festzustellen, dass der Mann auf dem besagten Foto keinen Raketenwerfer trägt. Keiner trägt ein schweres Gerät mit einer Hand, so wie die Person auf dem Foto. Es ist ganz klar: sie trägt einen leichten Gegenstand. Ein zweiter Blick darauf zeigt, es ist zweifellos tatsächlich eine Tragbare. Er sieht wie eine Tragbare aus, und der Mann trägt sie wie eine Tragbare. Wenn die Experten einen Fehler machten, warum ist das so schrecklich? Es ist deshalb schrecklich, weil die Luftkräfte oft eine von den selben Foto-Analysten identifizierte “Raketenwerfertruppe”, bombardierten; denn innerhalb von Sekunden werden solche Nachrichten weitergeleitet, und innerhalb von Sekunden wird auf diese Weise Tod verursacht. Danach verkündet der Armeesprecher mit großer Befriedigung, dass wieder eine todbringende Truppe eliminiert wurde. Wie viele Menschen, einschließlich Kindern, sind auf Grund dieser “sicheren Identifizierungen” getötet worden? Peter Hansen traf ich nur einmal bei einer UN-Konferenz über Flüchtlinge. Er beeindruckte mich als dezente Person mit hohen Grundsätzen. Ich hoffe, er bleibt auf seinem Posten. * * * Ein Todesfall durch “sichere Identifizierung” in dieser Woche sollte die Welt aufgeschreckt haben. Der Armeesprecher veröffentlichte das verlogene Routinestatement: das Mädchen hätte eine “verbotene Zone” betreten, die Soldaten hielten sie für eine “Terroristin”; die Tasche hätte ausgesehen, als enthalte sie Sprengstoff etc. etc. Und wie sah die Wirklichkeit aus? Eine andere, nicht weniger alarmierende Erklärung: die Soldaten sind in einem ständigen Zustand von Panik. Ich habe in meinem Leben Soldaten in Panik gesehen, die auf alles schossen, was sich bewegte. Vielleicht war es dies, was hier passierte. Das Mädchen warf seine Schultasche weg und begann wegzurennen, als ein Warnschuss abgefeuert wurde - und die Soldaten, statt auf die Schultasche zu schießen, schossen auf sie. * * * Die skeptische Haltung der israelischen Öffentlichkeit gegenüber Ankündigungen des Sicherheitsapparates verursachte in dieser Woche eine andere Tragödie. Wir haben viele Male davor gewarnt, die junge arabische und muslimische Generation der Welt werde nicht auf immer zusehen, während jeden Tag das Fernsehen zeigt, wie das arabische Volk gedemütigt wird. Die Apathie der arabischen und muslimischen Regierungen gegenüber dem Geschehen in den besetzten palästinensischen Gebieten sieht in ihren Augen wie Feigheit aus, die nichts gegen die Demütigung unternimmt, oder wie ein widerlicher Verrat. Die Misshandlung des palästinensischen Volkes durch Sharon und seine Vorgänger hat eine explosive Situation geschaffen. Die Invasion des Irak durch Bush hat den Funken geliefert. Eine arabisch-muslimische Widerstandsbewegung hat sich entwickelt, ein Widerstand, der keinen Unterschied zwischen dem Irak und Palästina macht und keinen zwischen Israel, den USA und den arabischen Regierungen. Das scheint die Botschaft von Taba zu sein. Quelle: www.uri-avnery.de vom 09.10.2004. Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
|