Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Tage der Busse

Von Mohammad Omer - Rafah Today / ZNet 19.10.2004

Der Gestank hier ist einfach bestialisch. Gehst du irgendeine Straße entlang - falls du dich traust -, bist du gezwungen, den Blutlachen auszuweichen, manchmal musst du auch mittendurch. Überall hängen Fetzen von Menschenfleisch - oft kaum noch als menschliche Überreste erkennbar -, auf den Dächern, auf der Straße, oder das Fleisch klebt an kaputten Fensterscheiben. Der Geruch von faulendem Blut mischt sich mit dem beißenden Gestank schwarzverkohlten Menschenfleischs - verbrannt durch eine Rakete, die aus einem in Amerika fabrizierten Apache-Hubschrauber der israelischen Armee abgefeuert wurde.

Der Himmel ist verqualmt mit schwarzem Rauch. Zum Teil stammt der Qualm von den Raketenexplosionen; manchmal scheint es aber, als sei die Hauptursache der Verqualmung die ständigen Müllfeuer, die die Leute mit Reifen und anderem Müll nähren. Der Rauch verwirrt nämlich die unbemannten Drohnenüberwachungsflugzeuge, die auf Hitze reagieren. Ein auf relativ freiem Gelände gelegtes Feuer lenkt so Geschossfeuer und Bomben auf harmlosere Ziele ab.

Der Rauch - vermischt mit Gips- und Zementstaub - ist Fluch und Segen zugleich. Der Gestank verbrannten Fleisches und verwesenden Bluts verdrängt bis zu einem bestimmten Grad den der ungeklärten Abwässer aus geborstenen Kanalrohren und den Geruch von zehntausenden Menschen, die sich seit mehr als einer Woche nicht mehr waschen konnten. Trinkwasser ist hier zum raren, wertvollen Gut geworden. Duschen oder baden - ein Luxus, den sich niemand mehr leisten kann.

Der Rauch reizt die Augen, daran ist nichts zu ändern, aber er schützt die Augen auch ein klein wenig vor jenen noch schrecklicheren Bildern: Körperteile, die als solche erkennbar sind - ein Stück Bein oder ein Stück Torso. Finger liegen verstreut - noch deutlich als Finger erkennbar, mit ganz persönlichen Merkmalen.

Eigentlich sollte niemand etwas Derartiges sehen müssen. Gruppen von Freiwilligen sammeln die Körperteile auf und bringen sie in eins der beiden Krankenhäuser Jabalyas. Die Ambulanzen kommen nicht nach, die Flut der Verletzten und frisch Verstorbenen zu bewältigen.

Überall sieht man Beerdigungszüge und “Trauerhäuser” (so nennt man die Zelte, die trauernde Familien errichten, um Freunde und Angehörige zu empfangen). Aber in Wirklichkeit ist hier jedes Haus ein Trauerhaus - ob noch relativ intakt oder komplett bzw. teilweise zerstört durch Panzer und Bulldozer der israelischen Armee (IDF). Vor den Geräuschen gibt es keinen Schutz - nicht vor dem Weinen und Wehklagen der Väter und Mütter, der Kinder und Ehemänner bzw. Ehefrauen der Getöteten. Nichts schützt vor den Schreien der Verletzten, dem Heulton der Ambulanzen, dem Gewehrfeuer der Heckenschützen, dem dumpfen Knall einer Panzergranate, den ständigen Explosionen durch einschlagende Apache-Granaten. Die Zeit ist aus den Fugen geraten. Eine Stunde ist hier wie ein Tag; ein Tag ist wie eine Woche oder ein Monat.

Wir reden hier vom Flüchtlingslager Jabalya, im nördlichen Gazastreifen. In Jabalya - einem der dichtbevölkertsten Orte der Welt - werden seit über einer Woche 106.000 Männer, Frauen und Kinder, überwiegend unbewaffnete Zivilisten, schonungslos attackiert. Die offizielle Version der Israelis: Das Gemetzel sei die “Antwort” auf eine selbstgebastelte Kassam-Rakete, die palästinensische Militante letzte Woche auf die israelische Stadt Sderot abfeuerten. Die Rakete tötete zwei Kinder. In Wirklichkeit drangen die ersten israelischen Panzer schon Stunden vor dem Raketenanschlag auf Sderot in Jabalya ein. Seit Wochen beobachten wir mit Besorgnis, wie sich im Norden Gazas die israelischen Streitkräfte sammeln: 2.000 frische Soldaten mit mehr als hundert zusätzlichen Panzern und Bulldozern.

Erst seit ich hier sitze und meine Notizen, die ich in den letzten Tagen sammelte, durcharbeite, wird mir klar, was für einen grausamen Namen die IDF für ihre Offensive wählte: ‘Tage der Buße’. Sie schlachten nicht nur unbewaffnete Zivilisten ab, sie vergehen sich sogar an der Sprache. Nach meinem Verständnis bedeutet “Buße” soviel wie das Bereuen einer schlechten Tat - aus freien Stücken. Soll das Massaker die Opfer etwa zu Büßern machen? Soll es in ihnen Trauer wecken für 4 oder 5 getötete israelische Soldaten und 2 tote israelische Kinder - während man den Tod von mehr als 60 palästinensischen Zivilisten als eine Art Gerechtigkeit hinnehmen soll? Für uns, die wir in der Jabalya-Falle sitzen, hört sich das eher wie ‘Tage der Rache’ an. Zweifellos ein Akt der Kollektivbestrafung - laut Genfer Konvention verboten.

Aber vielleicht sollten wir uns gar nicht wundern. Israels Premierminister Ariel Scharon hat angekündigt, den Angriff “solange wie nötig” fortzusetzen - bis von selbstgemachten Raketen des palästinensischen Widerstands “keine Gefahr mehr” ausgehe. Vor mehr als 20 Jahren war Scharon Architekt der Massaker von Sabra und Schatila. Heute verfährt er fast identisch - allerdings mit weit besseren Waffen. Natürlich gibt es militante Gruppen. Letzte Woche schlugen sie hin und wieder zu. Aber die Israelis sind ihnen zahlenmäßig und natürlich waffenmäßig haushoch überlegen. Die Hamas verteilt in Gaza-Stadt Flugblätter, in denen sie schwört, ihre Raketenangriffe (mit selbstgebastelten Waffen) auf illegale jüdische Siedlungen in Gaza bzw. auf jede erreichbare Stadt in Israel solange nicht zu beenden, wie die Israelis ihre Einmärsche nicht beendeten.

Der internationale Protest ist angesichts der amerikanischen Unterstützung für Israel verstummt bzw. erlahmt. Einzig die dünne, einsame Stimme des US-Außenministeriums drängt Israel, seine “Reaktionen” “verhältnismäßig” zu gestalten. Dem ging natürlich wieder das obligatorische Mantra voraus: “Israel besitzt das Recht auf Selbstverteidigung”. Zu Beginn dieser Woche wurde eine UN-Resolution eingebracht, die Klartext redete und den Angriff verurteilte. Das Veto der USA schlug sie nieder.

In puncto genaue Opferzahlen ist es gar nicht so einfach, auf dem neuesten Stand zu bleiben. Die aktuellen Zahlen lauten: 80 getötete Palästinenser (davon 20 Militante, die die Hamas für sich reklamiert) und über 200 Verletzte. Bevor dieser Artikel in Druck geht, werden die Zahlen sicher weiter steigen.

In Jabalya existiert kein Zufluchtsort, und in den Kliniken herrscht Chaos. Die Bestände gehen zur Neige, das Personal arbeitet ausnahmslos rund um die Uhr - schon seit Tagen. Ich sah Abu Nedal - Vater des 14jährigen Nedal Al Madhown - der um Fassung rang und die erschöpften Ärzte und Ambulanzfahrer fragte: “Wurde mein Sohn getötet? Wurde er getötet?” (Der Junge war schon bei seiner Ankunft im Krankenhaus tot). Bei der Mehrzahl der Toten und Verletzten handelt es sich um Kinder und Jugendliche, die offensichtlich nicht gekämpft hatten.

Ich führte ein Interview mit Dr. Mahmoud Al Asali, Direktor des Kamal Adwan Hospitals. Man müsse wohl zwangsläufig davon ausgehen, dass die israelische Armee es absichtlich auf Zivilisten abgesehen hat, so der Doktor. Die meisten der durch Gewehrschüsse Verletzten wiesen Oberkörperwunden auf, was auf einen Tötungsbefehl für israelische Scharfschützen schließen lasse. Die palästinensischen Ärzte entfernten etliche sogenannte ‘Flechettes’ aus verletzten und toten Körpern; das lässt darauf schließen, dass die IDF illegale Splitterbomben verwendet, Bomben, die bei der Explosion rasierklingenscharfe Splitter streuen. Wie mir Dr. Al Asali sagt, ist der Einsatz illegaler Splitterwaffen für die hohe Zahl Toter und Schwerverletzter bzw. für den hohen Schweregrad der Verletzungen verantwortlich. Die IDF verweigert eine Stellungnahme.

Die Krankenhaus-Teams und Ambulanzen-Crews sind so gestresst, dass sie Freiwillige mit der grauenhaften Aufgabe betrauen müssen, die menschlichen Überreste einzusammeln, zu sortieren und zuzuordnen. Den trauernden Familien soll möglichst viel Substanz übergeben werden.

Einer dieser Sanitäter ist Ahmed Abu Saali, 26, vom Kamal Aswan Hospital: “Enorme Schwierigkeiten bereitet uns die Tatsache, dass diese gewaltigen Bomben Teile der einzelnen Opfers über einen großen Radius verstreuen können. So kann es leicht passieren, dass einige Teile einer Person im Al Awda Hospital landen, also im Osten des Lagers, während wir hier im Westen andere Teile derselben Person haben”. Manchmal sind Kleiderfetzen bei der Zuordnung hilfreich. Immer wieder schießt die israelische Armee auf Sanitäter-Teams oder Journalisten. Bislang wurden zwei Ambulanzfahrer sowie ein Kameramann der Ramatan New Agency verletzt. Ambulanz-Crews und Presseleute tragen natürlich spezielle Kleidung, die sie kenntlich macht.

Israel hat alle Grenzen zu Gaza dichtgemacht. Auch innerhalb des Gazastreifens wurde die Bewegungsfreiheit extrem eingeschränkt. Es existieren drei Haupt- “Zonen” - die durch abgeriegelte militärische Checkpoints voneinander getrennt sind. Während der letzten Tage wurden zahlreiche neue Checkpoints eingerichtet und Straßen mit Zementblocks und Sandbarrieren abgeriegelt. Die Menschen können nicht mehr von Stadt zu Stadt - nicht einmal Ambulanzen, die Patienten in die Klinik bringen wollen. Darüber hinaus wurde der Hauptübergang zwischen Israel und Gaza geschlossen - selbst für NGOs, humanitäre Hilfsorganisationen und ausländische Journalisten.

So intensiv die Militäroffensive auch ist und war, den Menschen droht noch weitere Gefahr. Viele Familien haben seit Tagen weder Wasser noch Nahrung. In Tal Al Zattar, Ost-Jabalya, habe ich eine ältere Frau namens Umm Ramzi interviewt. Sie sprach mit mir durch das klaffende Loch in ihrer Hauswand, das eine israelische Panzergranate riss. Sie sagte: “Wir haben das Rote Kreuz angefleht, unser Leben und das unserer Kinder zu retten, aber niemand reagierte”.

Der Großteil der NGO-Mitarbeiter und Hilfsorganisationen nimmt natürlich - logischerweise - an, dass durch die Linien des israelischen Militärs rund um Jabalya kein Durchkommen ist. Gleichzeitig ist ihnen aber absolut klar, dass die Zivilisten Hilfe brauchen. Es gelang mir, mich mit dem Sprecher des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (ICRC) in Verbindung zu setzen. Sein Name ist Simon Schorno. Er sagte mir am Telefon: “Im Moment befinde ich mich auf dem Weg nach Gaza. Wir haben mit der IDF geredet und um Erlaubnis gefragt, Nahrungsmittel und Wasser zu bringen. Es ist uns jedoch nicht gelungen, ein Okay für umfassende Lebensmittelverteilungen zu erhalten”. Auf die Frage, warum das Rote Kreuz während der letzten Tage, als soviele Familien in Not waren, nicht da war, antwortete Mr. Schorno: “Ich fühle mich furchtbar. Wir tun wirklich unser Bestes, um Nahrung und Wasser reinzubringen, aber auch die beschädigten Straßen sind ein Grund, warum wir die Menschen nicht so schnell erreichen”.

Eine Reihe Einwohner - Augenzeugen - haben bestätigt, dass die israelische Armee mehrere hohe Gebäude zu Heckenschützenposten umfunktioniert hat. Und sie würden auf alles schießen, was sich bewegt. Eines der aktuellsten Opfer ist Islam Dweidar, 14. Das Mädchen wollte während einer scheinbaren Feuerpause für die Mutter Brot einkaufen. Ein israelischer Heckenschütze schoss ihr in den Kopf.

Im Süden des Gazastreifens verstärkt die israelische Armee ihre Panzer und Bulldozer - überall in Khan Younis und Rafah. Jede Nacht kommt es zu Granatbeschuss, mit vielen Toten und Verletzten. Heute morgen sprach ich am Telefon mit Dr. Ali Mussa. Er ist Direktor des Abu Yousif Al Najjar Hospitals in Rafah. Er erzählte mir von der 13jährigen Eman al Hums, die von israelischen Scharfschützen getötet wurde: “Das Kind kam im Krankenhaus an und war übersät mit insgesamt 20 Schusswunden in verschiedenen Körperteilen, 5 davon im Kopf”. Palästinensische Augenzeugen berichten, das Mädchen wurde getötet, als es mit zwei anderen Schulmädchen auf dem Weg zur Schule war. In ersten Medienberichten behauptete die IDF noch, das Mädchen habe versucht, eine Bombe zu legen. Später sah man sich gezwungen einzugestehen, dass dies eine falsche Beschuldigung war.

Die heutigen Angriffe sind wesentlich verheerender als ‘Operation Regenbogen’ im Mai. Damals starben in Rafah 40 Menschen, und es kam zu einem internationalen Aufschrei. Heute herrscht vor allem in Amerika Stille. Diese Stille scheint zu akzeptieren, dass Gaza in ein ‘killing field’ verwandelt wird. Scharon hat den Zeitpunkt wirklich gut gewählt, die Kinder in Gaza zu dezimieren. Amerika ist mit seinem Präsidentschaftswahlkampf und seiner Irak-Invasion beschäftigt. Wieviele müssen noch sterben, ehe die Welt ihre Stimme erhebt?

Quelle: ZNet Deutschland vom 24.10.2004. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: Days of Penitence

Veröffentlicht am

24. Oktober 2004

Artikel ausdrucken