Eine Kugel für jedes palästinensische Kind“Habt Ihr euch gestritten?”Von Yitzhak Laor 1 - Counterpunch / ZNet Deutschland 20.10.2004 … Einen Monat, nachdem die Intifada vor vier Jahren begann, fragte Generalmayor Amos Malka - damals die Nummer drei in der Militärhierarchie und bis 2001 der Chef des israelischen Militär-Geheimdienstes (MI), einen seiner Offiziere (Major Kuperwasser) wie viele 5,56-Kugeln das Kommando der Mitte während dieses Monats nur alleine in der Westbank verschossen hat. Drei Jahre später sprach Malka über diese schrecklichen Zahlen. Folgendes sagte er zu Haaretz’ diplomatischem Kommentator Akiva Eldar über den 1. Monat der Intifada, 30 Tage von ‘Unruhen’, an denen es keinen terroristischen Akt gab, kein palästinensisches Schießen:
“Es war eine Kugel für jedes palästinensische Kind”, sagte einer der Offiziere bei jenem Treffen. Wenigstens dies enthüllte die Tageszeitung Maariv vor zwei Jahren. Als die schrecklichen Zahlen das erste Mal bekannt wurden, änderte sich nicht viel an der “öffentlichen Meinung”, weder hier noch im Westen, weder vor zwei Jahren noch vor 4 Monaten, als Malka schließlich seinen Mund öffnete. Man las es, als hätte sich das sonst wo ereignet oder vor sehr langer Zeit, oder als ob es nur eine Version wäre, eine von vielen Stimmen, die das Hauptthema verbirgt: “Wir, die Israelis, haben recht - die andern haben unrecht.” Die israelische politische Gesellschaft - einschließlich der zionistischen Linken, Labour, Meretz und Peace Now, - die alle wegen des Krieges verschwanden - waren während der ersten Monate der Intifada so sehr damit beschäftigt, einen anti-palästinensischen Konsens aufzubauen, dass keiner von ihnen, weder ihre Politiker noch ihre Intellektuellen, in der Lage waren, solch eine Geschichte zur Kenntnis zu nehmen und zu sagen: “Oh, das tut uns leid, man hat uns in die Irre geführt.” Es ist natürlich nicht nur wegen Generalmajor Malkas Zahl der Kugeln. Es geht auch um das totale Zurückweisen der palästinensischen Anklagen während dieser Monate im Herbst 2000: keiner, nicht einmal die Pro-Palästinenser im Westen, glaubten ihnen, wenn sie ihre Geschichte zu erzählen versuchten, die die Realität der gegen sie abgeschossenen 1,3 Millionen (5,56-)Kugeln mit einschloss. Oder, als sie ihre Version der Geschichte zu erzählen versuchten, Israel mache jede nur mögliche Anstrengung, um die Unruhen des Herbstes in ein Blutbad zu verwandeln und um die verschiedenen (palästinensischen) Fraktionen zu ermuntern, (endlich) ihre Waffen zu benützen, damit dies dann ins Endstadium des noch ungeschriebenen Oslo-Prozesses verwandelt werden kann. Dies war das Ziel von Ehud Barak und seinen Männern, General Shaul Mofaz (damals Generalstabschef, jetzt Verteidigungsminister) General Moshe Yaalon, der führende Kopf hinter dem Plan und nach den eigenen Worten: “in die palästinensischen Köpfe einbrennen”, dass sie uns nie besiegen können. Was in der liberalen Presse im Westen zusammen mit sporadischen Berichten über die Orte und die Reaktionen vom offiziellen israelischen Sprecher erschien, das war eine “gemütliche, ausgewogene Lektion”: beide Seiten sollten (doch bitte schön!) nicht gewalttätig sein oder sollten keine Gewalt anwenden. Im Sinne der Frage (eines unbeteiligten, gleichgültigen Zuschauers): “Ihr streitet euch wohl wieder?” Im großen Ganzen basierte die öffentliche Meinung genau darauf - aber nicht auf Fakten. Es basierte auch auf einer langen Tradition der Feindseligkeit des Westens gegenüber den Arabern, was mit Hilfe zionistischer linker Schreiber und Intellektueller noch zementiert wurde. Ein paar Wochen später - während der Vorbereitungen des Camp David Gipfel im Sommer 2000 - gab Malkat vor den Mitgliedern des israelischen Kabinetts einen Überblick über Arafats Positionen.
Diese Verfälschung der Realität wäre nie so realisierbar gewesen, wenn sie nicht vom alten Kolonialdiskurs des Westens über das Misstrauen gegenüber den Arabern bestimmt gewesen wäre. Dazu waren interessanterweise auch die Intellektuellen des israelischen Friedenslagers nötig. Niemand war für diese Aufgabe geeigneter als israelische Schriftsteller, die ihre Karriere im Westen darauf aufbauten, friedensliebende Leute zu sein, ohne jemals genauer zu sagen, was sie unter Frieden verstehen. Doch war die Kluft zwischen den Tatsachen und der Bemühung, sie zu verfälschen, so breit, dass es nicht zu lange dauerte, bis dies ans Licht kam. Akiva Eldar schreibt:
Vor 4 Jahren war es also die Aufgabe der zionistischen Linken, den Palästinensern entweder einen unmöglichen Friedensplan aufzuerlegen oder diesen für den auszubrechenden Krieg die Schuld zu geben. So erfüllte David Grossman seinen Job für Ehud Barak:
Es war keine Spitzfindigkeit und auch kein Um-die-Ecke-Denken. Es war das Thema des Außenministeriums, Arafat als Schuldigen hinzustellen. Die Entscheidung war sogar schon vor dem Krieg gefallen. Auch während der Oslojahre, während die Siedlungstätigkeit sich intensivierte, die Zahl der Siedler sich verdreifachte, Land enteignet wurde, Straßen in den besetzten Gebieten nur für Juden gebaut wurden. Doch als Camp David misslang, gaben … alle, die Schriftsteller, die Botschafter, die Leitartikler denselben Hinweis: Arafat ist an allem Schuld. Man lese, wie Amos Oz für die Leser von Guardian den Fehlschlag von Camp David und die “Unfähigkeit” Arafats beschreibt:
Aber vier Jahre später enthüllte Haaretz, was jeder palästinensische Verhandlungspartner seit vier Jahren schon behauptet hat: In einer Vorlesung (März 2002) der Princeton Universität brachte Prof. Mati Steinberg (bis Mitte 2003 Sonderberater des Shin Bet) vor, dass Camp David wegen eines Disputes um den Tempelberg fehl schlug, nicht wegen des Problems des Rückkehrrechtes, was kaum während des Gipfels diskutiert wurde. Es wurde im Nachhinein in Israel dazugesetzt, um einen internen Konsens zu schaffen ( Haaretz, 11.6. 2004). Es ist unnötig zu sagen, dass Amos Oz seine Meinung nie zurückzog oder sich entschuldigte. Im Gegenteil: er verschärfte seine Attacken auf die Palästinenser, da ihn seine Position bei Barak schmeichelte. … Ich könnte noch eine Menge Zitate bringen. Was nicht zitiert werden kann, ist Schweigen. Die Art und Weise, in der die Protagonisten, Vertreter der Friedensbewegung, wie sie in der westlichen Presse vorgestellt werden, ihren Mund während der großen Massaker in Rafah und Gaza geschlossen hielten - oder auch vorher während der Massaker in Jenin oder in anderen Städten und Dörfern Palästinas - dieses Schweigen kann nicht zitiert werden. Auch wenn die westliche Presse sie fragen würde: “Sind Sie für oder gegen die IDF? Würden Sie für oder gegen diese Operation reden?”, gäbe es keine Antwort. Die gibt es nicht, weil die westlichen Medien nicht diese Fragen fragen, weil sie darüber gar nichts wissen wollen, weil die Funktion dieser Schreiber weder informativ noch intellektuell war. Ist das nun schlechtes Schreiben? Oder schlechter Journalismus? .. es ist viel schlimmer. “Erlauben Sie mir, eine kleine private Geschichte zu erzählen”, so fing David Grossman 1998 eine seiner europäischen Leitartikel an:
Nur in israelischem Schreiben im Westen denkt man bei der eigenen Hochzeitspartie über das Schicksal des jüdischen Volkes nach. Dabei geht es (in dem Artikel) gar nicht um eine Familiengeschichte sondern um “Politik in Israel”, nicht von einem Überlebenden, oder einem Sohn eines Überlebenden erzählt - sondern von der “zweiten Generation”. Jeder Israeli gehört in der westlichen Vorstellung zur “zweiten Generation” - egal was mit den Palästinensern geschieht. Israel würde es sonst später während der Intifada (also nach Jenin) nicht gelingen, die Kritik der westlichen Presse (an den Operationen) mit einem unklugen Begriff des “neuen Antisemitismus” einfach beiseite zu wischen, wenn es nicht diese billigen und gewöhnlichen “persönlichen Geschichten” über “unser Leben so dünn wie die Bandage” gäbe. …. Es ist überflüssig zu sagen, dass keine israelische Zeitung solchen Blödsinn (rubbish) veröffentlichen würde, wie über die Tante mit der Bandage. Warum ist es so wichtig, diese Art von Journalismus zu analysieren? Weil sie seit langem ein Teil des Image des “modernen Juden” im Westen wurde. Egal was wir tun, wir vertreten etwas anderes. Würde dies auch für einen Palästinenser gelten, der im selben Pantheon einen Sitz hat? Natürlich nicht. Er müsste mindestens wie Edward Said sein, ein Experte unserer Kultur, wie englische Literatur und/ oder Wagner. Sonst ist er keiner von uns. Doch die “modernen Juden”, die Israelis, spielen eine andere Rolle, haben einen anderen Platz. Sie vertreten eine “alternative Geschichte”, in der Juden nie vertrieben und vernichtet wurden, sondern nur eine Weile gewandert sind. Egal was sie machen, so lange sie “aussehen wie wir, reden wie wir, denken wie wir”, gefallen sie uns. Innerhalb der westlichen Presse gibt es kein seriöses Schreiben über den Nahostkonflikt, in dem nicht das Thema “Ihr streitet euch wohl mal wieder?” oder die Rolle des Israeli vorkommt, der in einem gewissen “liberalen” Schreiber verkörpert ist, der über Politik schreibt, der aber von Politik keine Ahnung hat. Kurz gesagt: die “ausgewogene Position” von Zeitungen wie The Guardian, Le Monde, La Republica etc. wurde nicht durch die Argumentation zionistischer linker Schreiber erreicht, sondern durch ihre Präsenz, in Bildern, Stimmen oder Klangbites. Ihr Denken ist unwichtig, nur der persönliche Aspekt ist wichtig. Sogar Amos Oz, der am wenigsten persönliche, muss seine “persönliche Kreditkarte” anwenden, wenn ein Israeli als Opfer der Palästinenser dargestellt wird: “Schon 1967 war ich einer der wenigen Israelis, die die Zwei-Staaten-Lösung vorschlugen mit Jerusalem als Hauptstadt für beide, gegenseitige Anerkennung und Akzeptanz. Seitdem hat mich mein eigenes Volk wie ein Verräter behandelt. Meine Kinder litten in der Schule unter Beleidigungen ….”(Oz) Das ist natürlich ein Mischung von Wahrheit und Fiktion. … Wie liest nun der Leser eine kritische Zeitung, kritisch gegenüber der israelischen Politik, manchmal auch kritisch gegenüber dem Zionismus? Dieser Leser ist sicher entsetzt über das, was er über die israelischen, rassistischen Bürgerrechtsgesetze liest, oder über die drakonische Apartheid in den besetzten Gebieten oder über die Todesrate arabischer Babys verglichen mit der der jüdischen Babys - aber er ist nicht anti-israelisch wie die Presse des rechten Flügels. Im Gegenteil. Der liberale Leser will wissen, dass die Israelis wie wir sind. Aber da gibt es keine Israelis wie ihr, die guten Liberalen, weil man, um gut liberal zu sein, radikal werden muss - oder - was ihr vehement ablehnt - ein Extremer. Man kann kein liberaler Europäer sein und die israelische Apartheid unterstützen. Man kann kein liberaler Europäer sein und einen Staat unterstützen, der gemischte Ehen verbietet etc etc. Kurz gesagt: Zionismus stimmt nicht mit den Werten des Liberalismus überein. Er ist immer näher an Le Pen oder Heider, selbst wenn er “links” ist. … Nimm z.B. die einfache Tatsache, dass keiner der hier zitierten Schriftsteller oder ihrer Kollegen jemals die (Militärdienst-)Verweigerer unterstützt hat, die von jedem einfach denkenden Europäer warm unterstützt werden. Dann kann man auch verstehen, dass es bei den israelischen Schriftstellern der Linken innerhalb des Diskurses eine intellektuelle Lücke gibt. Amos Oz kann den renommiertesten Preis in Barcelona oder Berlin erhalten - über Frieden kann er nicht wirklich reden, denn der Diskurs über Frieden in Israel überschreitet das alte Klischee, das vor Oslo, vor der jetzigen Intifada funktionierte, bevor Ehud Barak und seine Junta, vom selben Amos Oz unterstützt, dieses in einen anderen Teil der Geschichte umwandelte: Apartheid in einer Welt, die von einer Supermacht regiert wird. Reden über Frieden ohne Politik, ohne Unterstützung des Widerstandes, Solidarität mit den Opfern sind ohne Inhalt - sie passen für festliche Angelegenheiten, aber nicht für eine Debatte. Die Leser von liberalen Zeitungen brauchen einen Israeli, der “gegen alle diese Dinge” ist, sie brauchen einen Leitartikler, der “genau das schreibt, was ich denke”. Kommen wir zurück zu Krieg und Frieden. Ich schreibe dies, während die IDF die Gräueltaten im Gazastreifen begeht. Vor einem knappen Jahr erhielt A.B. Yehoshua einen Friedenspreis der Stadt Neapel. Das Buch, für das er den Preis erhielt ( “Die befreite Braut”) hat - um wenigstens das zu sagen - nichts mit Frieden zu tun. …Ich bitte euch sorgfältig das zu lesen, was Yehoshua sechs Monate später in einem Artikel von Haaretz geschrieben hat - 6 Monate vor den Gräueltaten im Augenblick (In der englischen Version des Artikels waren Sätze ausgelassen!)
Es geht nicht darum, die Europäer zu betrügen, auch nicht Kriegstreiberei in Friedensphrasen von Schreibern zu verpacken, die zu Hause die Armee zu Gräueltaten ermutigen oder ihren Mund halten. Nein, es geht um eine bizarre Funktion eines “den Frieden liebenden Schriftstellers in Israel”, der nichts anderes zu offenbaren hat als ein Herz voller Kummer oder Zorn, keine Information, nichts außer etwas wirrem Glauben, etwas für den “Optimismus” des selbstzufriedenen Leser. Und Wahrheit, doch wo ist die Wahrheit? 1 Yitzhak Laor ist ein israelischer Romanschriftsteller, der in Tel Aviv lebt. Quelle: ZNet Deutschland vom 29.10.2004. Übersetzt von: Ellen Rohlfs, leichte Bearbeitung von: Michael Schmid. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
|